Zum 75. Geburtstag von Liselotte Schließer

Ein Leben für die Heimatgeschichte

Man sagt ihr nach, in Radebeul sei sie bekannter als der Bürgermeister, Solcherart Beurteilung verdient schon Beachtung. Und es scheint auch an dem was zu sein. Wo man ihren Namen erwähnt, wen man nach ihr tragt und vor allem, wenn es irgendwo um die Heimatgeschichte, um die Geschichte unserer Region geht – mit dem Namen Liselotte Schließer weiß nahezu leder Radebeuler etwas anzufangen. Und wenn es auch nur heißt „das ist doch die mit den „Wanderungen durch die Lößnitz” oder „Ja, die kenne ich, die leitet doch das Stadtarchiv.“ Es ist alles richtig, und es ist doch viel zu wenig, wenn man ihr Engagement für Radebeul nur auf diese Dinge beschränken wollte.
Kürzlich, am 1. Dezember, wurde Liselotte Schließer 75 Jahre. Die Schar der Gratulanten war groß, ja riesig, Eine Art Barometer dafür, wie sehr sie mit ihrem Sachverstand, ihrem kulturgeschichtlichen Wissen noch gebraucht wird. Das macht sie stolz, es macht sie glücklich, es hält sie jung. Ich habe mich mit ihr in ihrer Wohnung in der Horst-\/ieth-Straße verabredet. in dem kleinen Zimmer, in dem unsere Unterhaltung stattfindet und das sie als ihr „Arbeitszimmer“ deklariert, steht startbereit die Schreibmaschine auf dem Tisch. Ein Bogen Papier ist eingespannt und wartet darauf, beschrieben zu werden. Mein entsprechender Blick veranlaßt sie zu der Bemerkung: „Ich hatte da so eine Idee und die mußte ich gleich mal aufschreiben.“ Liselotte Schließer ist mitten in der Arbeit und daß sie nun 75 Jahre ist, könnte man höchstens an den grauen Haaren ablesen. Äußerlich wirkt sie agil wie eh und je und wäre in dieser Hinsicht so manchem Jungen ein Beispiel für Lebenstüchtigkeit.
„Ich gehe jetzt nur noch ein paar Stunden ins Archiv“, sagt sie. „Immer Dienstagnachmittag, wenn Benutzerzeit ist, und meist auch am Donnerstagvormittag oder wenn eben Not am Mann ist.“ Sie muß ja nicht, aber sie tut es. Und sie tut es mit Leidenschaft. Die Arbeit im Radebeuler Stadtarchiv ist so etwas wie ihr zweites Leben. Als sie nach 32 Jahren in der Planeta Radebeul aus dem Betrieb ausschied. fühlte sie sich einfach noch nicht als Rentner, sondern wollte noch ein wenig weiterarbeiten. Die Erforschung ihrer Familiengeschichte, die Liselotte Schließer seit längerem betrieb, brachte sie auf den Gedanken, im Archiv einzusteigen. Die damalige Stadtverwaltung hatte keine „Bedenken“ trotz „Westverwandtschaft“, und so wurde sie für 12 lange Jahre die „Stadtarchivarin“ Radebeuls, Der Publizist Ernst Günther, der damals in der Familiengeschichte des Zirkus Sarrasani recherchierte, machte einen Luftsprung, weil er nun endlich im Radebeuler Archiv fündig wurde.
Ich frage sie, ob sie denn in dieser Zeit mal eine ganz aufsehenerregende Entdeckung gemacht habe, „Sensationen in dem Sinne gibt es in der Arbeit eines Archivars nicht, aber interessante Entdeckungen allemal. Beispielsweise habe ich nachweisen können, daß eine Aussage über die Größe des Gebietes ,Wackerbarths Ruh’ in der Chronik von Herrn Stechow so nicht stimmt. Man hatte sich durch einen Stein mit einer Jahreszahl irreführen lassen.“
Im geschichtsträchtigen Jahr 1918 geboren, wuchs Liselotte Schließer in Radebeul in recht gesicherten Verhältnissen auf, bis die Arbeitslosigkeit jener Jahre der Weimarer Republik auch an ihrer Familie halt machte. Der Vater mußte sich zeitweilig von der Familie trennen, weil er eine Arbeit in Thüringen bekam. Liselotte Schließer wuchs mit drei Geschwistern auf und erlebte sehr bewußt die Zeit des Faschismus als junge Frau mit Arbeitsdienstverpflichtungen und einer Lehre als Postangestellte. Dafür interessierte sie sich überhaupt nicht, dann schon eher für einen technischen Beruf, doch das war für Mädchen damals nicht machbar. Sie wollte eigentlich nach Afrika, in eine andere Welt. Die Entdeckerlust kam da frühzeitig durch. Den Zusammenbruch des tausendjährigen Reiches erlebte sie in der Lausitz und war in Bautzen, als die Stadt bombardiert wurde. lm Bombenhagel half sie, das Krankenhaus zu evakuieren. Der Neuanfang war für sie, wie für alle Menschen, schwer. Man mußte etwas tun, man mußte ja zu Lebensmittelkarten kommen. In den Postdienst wollte sie auf keinen Fall mehr, also suchte sie sich andere Arbeit. In der Radebeuler „Grundschänke“ arbeitete sie erst als Scheuerfrau, bevor sie dann im gastronomischen Bereich aushalf. Anschließend arbeitete sie bei einem Gärtner, doch der konnte sie im Winter nicht mehr beschäftigen. Nun nähte Liselotte Schließer Puppen für ein Geschäft, was gerade eröffnet hatte. Und 1949 begann sie in der Planeta, hatte vorher autodidaktisch Schreibmaschine und Steno gelernt.
Das Thema Familienforschung interessiert mich besonders. Ich frage, wie weit sie in die Vergangenheit sehen konnte. „Bis ins 16. Jahrhundert konnte ich alles ziemlich genau zurückverfolgen. Aber ich weiß auch, daß der Name Schließer erstmalig um 1366 hier auftauchte.“ Zu ihren direkten Vorfahren gehörte der Erbauer des „Carolaschlößchens“, jener traditionsreichen Gaststätte Radebeuls, die jetzt, wie so vieles andere, einem Bürohaus weichen mußte. Oder ihr Großvater, der war Hofbeamter am Sächsischen Königshof bis zu dessen Auflösung. Heute hat sich Liselotte Schließer so manchen Wunsch schon erfüllen können – sie war in Afrika, zumindest an der Nordspitze in Kairo und Alexandria, war am Nordkap, in Murmansk und hatte zu DDR-Zeiten sich Reisen nach Mittelasien, nach Moskau und Leningrad geleistet – Ziele, die mittlerweile fast unerreichbar scheinen. Als Rentner war sie schon lange vor dem Fall der Grenzen im anderen Deutschland unterwegs, und sie hat die Massenflucht über Ungarn aus der Sicht westlicher Berichterstatter am Bildschirm in Frankfurt/Main erlebt. Und sie bekennt: Als sie das erlebte und das, was danach kam, hatte sie Angst vor der Zukunft. Den Versprechungen der Politiker konnte sie nichts abgewinnen. Ihre Meinung zu der damaligen Situation ist klar und unmissverständlich: „Für den Kapitalismus kam der Zusammenbruch gerade recht. Die neuen Märkte waren seine einzige Überlebenschance.“ Ganz allergisch reagiert sie auf den Bauboom in Ostdeutschland und die Dinge, die damit automatisch einhergehen. „Der Charakter dieser Stadt muß erhalten werden. Es sollen nicht die gleichen Fehler wieder gemacht werden, wie sie in vielen westdeutschen Kommunen gemacht wurden.“ So ist auch ihre politische Haltung zu verstehen. Obwohl sie nie einer Partei angehört hat, war sie doch immer ein politisch handelnder und denkender Mensch. „Ganz unbewußt manchmal“, wie sie sagt. „Für manche historischen Bauwerke war es ganz gut, daß der Sozialismus oftmals an akutem Geldmangel litt.“ Mitte der 80er Jahre entwickelte sich aus der damaligen Volkshochschule die „Interessengemeinschaft Heimatgeschichte”, deren Leiterin Liselotte Schließer seit langem ist. Unzählige Wanderungen in die nähere Umgebung organisierte diese Interessengemeinschaft. Und Liselotte Schließer immer mittendrin. Sie war und ist der Motor des Ganzen. „Warum kommen Sie nicht einfach mal mit auf eine Wanderung?“, fragt sie mich und lächelt hintergründig. Ich werd# es mir wohl überlegen müssen.
Wolfgang Zimmermann

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