Eine Dame zu viel

Der Anfang klingt doch gut, oder? Das könnte eine schöne ARD-Schnulze 20.15 Uhr, ein Krimi im Paperback-Format oder ein raffinierter Schachzug auf dem Brett werden. Aber wer mich oder meine Texte kennt, wird ahnen: Nichts von dem und wenn doch, dann am ehesten ein Krimi…

Dame, Schloss Wackerbarth, Terracotta - Detail

Besagte Dame schätze ich auf 136 Jahre, sie misst 2,10m, ist invalid (Nase, Unterarm und Hände fehlen ihr) und das ehemals milde Lächeln scheint inzwischen eingefroren zu sein. Sie steht etwas verloren und beziehungslos im neuen Parkgelände der Wackerbarth-Sektkellerei. Diesen Platz hat sie seit der Parkumgestaltung von 2001 – der vorherige Standort im historischen Parkteil südlich des Schlosses kann von uns aber auch nur als provisorisch bezeichnet werden. Es handelt sich um eine reichlich lebensgroße Terracottafigur, von der Experten vermuten, dass sie aus der Produktion von E. March und Söhne, Charlottenburg bei Berlin stammt. Diese Dame gab uns seit geraumer Zeit Rätsel auf hinsichtlich ihrer Herkunft, des Sinns in der Parkgestaltung und letzten Endes auch wegen der teilweisen Zerstörung.

Einer der Vorträge am Abend des 11. September 2011 in der Bibliothek-Ost (Tag des offenen Denkmals), ich glaube, es war der Vortrag von Frau Dömling zu Terracotten in Radebeul, gab mir die Anregung, ein paar Recherchen anzustellen, damit etwas Licht ins Dunkel um die o.g. Dame kommt. Am besten wäre es wohl, ein paar Ansätze oder Beweise zur Klärung dieser Figur zu finden. Der Satz „Rentner haben niemals Zeit“ stimmt ja nicht so ganz; wenn sie ein Ziel haben, finden sie, glaube ich, auch die Zeit. So machte ich mich seit September mit Unterbrechungen daran, meine Vermutung, die Figur könnte zwischenzeitlich (von 1875 bis 1920) auf dem Dach des Schlosses Wackerbarth’s Ruh gstanden haben, zu beweisen. Nun galt es wieder einmal die berühmten „Mosaiksteinchen“ zu sammeln und zu einem Bild zusammenzufügen.

Beweisansätze:

  1. Der damalige Eigentümer des Schlosses A. von Tümpling beabsichtigte 1875 das Schloss generell umzubauen, um den Charakter einer großen, spätklassizistischen Villa zu erreichen. So sehr uns heute diese Tat verwundert, es war damals eine durchaus zeitgemäße Entscheidung, zumal aus heutiger Sicht der Zustand des Barockbaus nicht genau eingeschätzt werden kann. Der nun dreigeschossige Mittelbau endete, wie ein altes Foto (Dank an das Stadtarchiv) zeigt, in einer von vier weiblichen Figuren bekrönten Attika, dahinter lag ein flacherer Dachbereich. Ein Vergleich mit heutigen Fotos der Dame mit dem alten Bild lässt den Schluss zu, dass es sich dabei um die zweite (von rechts) der vier Damen handeln wird.
  2. Der barocke Schlosspark war historisch gesehen, wie in Sachsen üblich, mit mehreren Sandsteinfiguren und anderen Plastiken geschmückt. Von denen waren 1999 aber nur noch verwitterte Reste vorhanden, andere mögen bereits vorher infolge häufig wechselnder Eigentümer und Nutzungen verbracht worden sein. Im Rahmen der Parkgestaltung von 2001 wurden im oberen Parkteil zwei Sandsteinfiguren aufgestellt, die als Neuschöpfungen aber nichts mehr mit Barockplastik zu tun haben. Die Terracottafigur wurde nach 1920 zwischen den Sandsteinplastiken sicherlich als Fremdkörper wahrgenommen und insofern „eine Dame zu viel“.
  3. Wenn wir die in ein antikes Gewand gehüllte Dame näher betrachten, fallen durch gestreckte Proportionen, insbesondere den langen Hals und den vorgestreckten Kopf, Merkmale auf, die für eine von vorn herein beabsichtigte Aufstellung an höherem Standort, hier die Attika in ca. 12m Höhe, sprechen. Ein Vergleich zu den Mattielli-Figuren auf der Dresdner Kathedrale sei hier gestattet. Insofern wirkt die Aufstellung zu ebener Erde natürlich etwas befremdlich. Für eine beabsichtigte Aufstellung auf einer Attika spricht auch die plastisch wenig durchgebildete Rückenansicht, die Seite war ja kaum einzusehen. Dazu gehören auch Löcher im Rücken, die wohl für eine Stabilisierungsstange gegen den Dachstuhl gedacht waren. Der eingesetzte Rest eines dicken Kupferdrahtes (rechts in Kniehöhe) könnte zu einer in der früheren Höhe sinnvoll gewesenen Blitzschutzanlage gehört haben.
  4. Das heutige Schadensbild – grob betrachtet das Fehlen eines Unterarms, beider Hände, der Nase, etwa der Hälfte eines Ährenbundes und eines Teils der Grundplatte – spricht für eine wohl eher ruppige Abnahme der Figur 1920, bzw. für unsachgemäßen Transport. Sind die restlichen drei Damen dabei etwa völlig zerstört worden? Oder kann man die eine oder andere Dame vielleicht noch in einem Radebeuler Garten finden?
  5. Dame, Schloss Wackerbarth, Terracotta

  6. Auffällig ist, dass die Zeit der Aufstellung der vier Figuren um 1875 in die Hauptschaffenszeit der Manufaktur E. March und Söhne (ca. von 1860 bis 1890) fällt. Etwa zur gleichen Zeit bezog die hiesige Firma Gebr. Ziller bekanntlich größere Stückzahlen von Terracotten der Firma March, z.B. die vier Jahreszeiten in der Dr.-Schmincke-Allee. Ob die Gebr. Ziller beim Umbau von Schloss Wackerbarth’s Ruh beteiligt waren, ist aber nicht bekannt, wohl aber die Tatsache, dass zwischen Charlottenburg und dem heutigen Radebeul eine gut bediente Lieferachse bestanden hat. Radebeul dürfte im Vergleich mit anderen Städten noch heute einen Spitzenplatz einnehmen, was die immer noch erhaltenen Terracotten anbetrifft. Dass die ehemals vier Figuren auf der Attika einschließlich besagter Dame aus der Manufaktur March stammen, ist sehr wahrscheinlich, zumal ein Katalogblatt dieser Firma (Frau Täubert konnte im Rahmen eigener Forschungen Teile des in Berlin befindlichen March-Kataloges kopieren) eine ganz ähnliche Figur zeigt.
    Die Haltung beider Figuren, Faltenwürfe der Gewänder, Proportionen und die Sockel ähneln sich auffallend. Nur die beigefügten Attribute – beim Katalogblatt wohl ein Buch (Wissenschaft), in unserem Fall Ährenbündel (Landwirtschaft) – unterscheiden sie. Ganz sicher wäre die Zuordnung zur March-Produktion, wenn der bekannte ovale Prägestempel vorhanden wäre, was leider nicht der Fall ist. Vielleicht war er ja am fehlenden Stück der Sockelplatte. Anderseits ist zu beobachten, dass nicht alle March-Produkte diesen Stempel erhalten hatten. Die im Gewand eingeritzten Namen B. Menzel und Melzer könnten Signaturen der für Herstellung bei March verantwortlichen Mitarbeiter sein, wofür aber zZ. ein Nachweis fehlt. Oder es sind nur touristische Verewigungen aus der Zeitspanne seit jene Figur im Park steht.
  7. Dass das Haus unter dem Eigentümer Dr. A. Tiedemann 1920 durch den Dresdner Architekten Prof. Georg von Mayenburg abermals umgebaut und dabei auf die Figuren verzichtet wurde, lag wiederum am herrschenden Zeitgeschmack. Ziel war eine angenäherte Rückbesinnung auf das barocke Schloss Wackerbarths, gekoppelt mit dem Geist des damals angesehenen Architekten Schulze-Naumburg. Seit dem steht unsere Dame im Abseits der Gestaltung von Schloss und Park. Wenn man nun ihre Geschichte kennt, sieht man sie mit anderen Augen und kann sie vielleicht auch mögen.

Wackerbarths Ruh im 19. Jh.

Wenn auch ein hundertprozentiger Beweis fehlt, so ergeben die einzelnen Ansätze so viele Hinweise zu unserer Dame, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von March stammt und einst auf dem Dach von Wackerbarths Ruh gestanden hat. An Meinungsäußerungen, die meine Ansätze widerlegen oder bestärken, bin ich gleichermaßen interessiert. Der Aufsatz ist ein Gruß an meine im Amt nachfolgenden Kolleginnen Petra Ploschenz und Andrea Löwlein, die o.g. „Tag des offenen Denkmals“ mit organisiert hatten. Macht weiter so und macht’s besser!

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