Kellergeist und Stadtarchiv – zu Besuch bei Lieselotte Schließer

Kaum zu glauben. das Archiv unserer Stadt befindet sich im Keller eines gewöhnlichen Mietshauses, und dessen wohlklingender Name „Heimattreue“ ändert nichts an der Tatsache. daß sich Feuchtigkeit und Staub ungehindert durch die wertvollen Zeugnisse unserer Stadtgeschichte fressen können. (Die älteste Originalurkunde stammt aus dem Jahre 1470!)
Der Behördenkrieg, den die Stadtarchivarin, Liselotte Schließer, bereits seit Jahren führt, verschlingt viel Kraft. Ein geeignetes Objekt, das ehemalige Albertschlößchen auf der Gohliser Straße, steht in Aussicht, aber noch sind nicht alle Hindernisse überwunden, und große Hoffnungen werden auf das neugewählte Stadtparlament gesetzt.
Anfang der 50er Jahre, so erfahren wir von Liselotte Schließer, begann der Lehrer Paul Brüll (1892-1983), zu dessen Schülerinnen auch sie einst zählte, mit dem Aufbau des Stadtarchivs. Nahezu unüberschaubare Berge von Akten, Büchern, Broschüren, Fotos, Karten und Dokumenten aus fünf Jahrhunderten galt es zu erfassen und für eine öffentliche Nutzung zu erschließen. Noch immer warten tausende Akten auf eine Bearbeitung, und neue Materialien kommen beständig hinzu.
Das Interesse an der Heimatgeschichte ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Statistik belegt es. Und Liselotte Schließer könnte sich darüber freuen. Doch die Arbeitsbedingungen sind alles andere als erfreulich. Mitunter herrscht dichtes Gedränge in dem 10 m2 großen „Arbeits- und Besucherraum“.
Zu den ständigen Nutzern gehören Mitglieder der Interessengruppe Heimatgeschichte, Ortschronisten sowie Mitarbeiter des benachbarten Museums Haus Hoflößnitz. Hinzu kommen Schüler und Studenten mit komplizierten Forschungsaufträgen, Radebeuler Bürger suchen Beschleusungspläne, interessieren sich für ihre Familien- und Hausgeschichte.
Ob Hochwasser, Feuersbrünste, Jubiläen . . . das Stadtarchiv ist eine Fundgrube für Neugierige, und nahezu unerschöpflich scheint das Wissen unserer Archivarin. Umfangreich ist ihre Korrespondenz, und Anfragen erreichten sie selbst aus den USA. Besonders am Herzen liegen ihr Führungen, Vorträge. Publikationen, mit denen sie Kontakt zu einer breiten Öffentlichkeit anstrebt. Und auch die Redaktion von „Vorschau und Rückblick“ hat in Liselotte Schließer einen zuverlässigen Partner gefunden.
Eine stille Leidenschaft für die Geschichte ihrer Heimatstadt habe sie bereits in jenen Jahren gehegt, als sie noch im technischen Bereich des Druckmaschinenwerkes Planeta tätig war. So erinnert sie an einen Film, der im Jahre 1956 entstand. Gedreht hatte ihn der Radebeuler Amateurfilmclub, den sie mit begründete und die letzten Jahre bis 1989 auch selbst leitete. Vorgestellt werden in diesem Film historische Gebäude der Lößnitz und sehenswert ist er schon deshalb. weil uns – wenn auch nur für Sekunden – so stadtbekannte Persönlichkeiten wie Hellmuth Rauner, Karl Kröner, Franz Jörissen und Rüdiger Kollar begegnen.
Das Stadtarchiv – damals verwaist – übernahm sie 1981. Gern denkt sie an ihren ersten Besucher. Es war der Autor Ernst Günther, der für sein geplantes Buch „Sarrasani wie er wirklich war“ (erschienen 1984 im Henschelverlag) Recherchen anstellen wollte.
Was anfänglich nur als Rentnerbeschäftigug gedacht war, ergriff immer mehr Besitz von ihr. Da bleibt kaum Zeit, über Beschwerden des Alters nachzugrübeln.

Liselotte Schließer
Aufgenommen im Frühjahr 1990 von Michael Lange

Und so eilt sie – nunmehr 71jährig – noch immer mit dem Fahrrad, ihrem unentbehrlichen Begleiter, von Termin zu Termin durch die Radebeuler Straßen. Daß ihr Umgang mit der Vergangenheit keineswegs den Blick für die Zukunft versperrt, beweist ihr waches Interesse am Schicksal der Radebeuler Ursprungsgemeinden. Ihre besondere Liebe gilt dabei dem vielzitierten Altkötzschenbroda. Mit ihren Mitteln setzt sie sich für den Erhalt dieses denkmalgeschützten, jedoch schmählich vernachlässigten Siedlungsgebietes ein (siehe auch Artikel ..Ein Stück Stadtgeschichte soll gerettet werden“ in „SZ“ Januar 1990). Das Stadtarchiv ohne Liselotte Schließer ist für viele undenkbar. Und doch wünscht sie sich einen Nachfolger, würde sie das Stadtarchiv gern in jüngeren Händen sehen. Eine anspruchsvolle, vielseitige Aufgabe. Aber materielle Reichtümer, so schränkt sie lächelnd ein, lassen sich hier nicht erwerben.
Karin Gerhardt

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