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Der Oberlößnitzer Weinbergsverein

Unter den zehn Ursprungsgemeinden der heutigen Stadt Radebeul sind Ober- und Niederlößnitz die jüngsten. Landgemeinden im umfassenden Sinne wurden sie erst 1839. In beiden Fällen ging der eigentlichen Gemeindegründung aber über mehrere Jahre die Existenz »communlicher Verbände« voraus, in denen sich die örtlichen Weinbergsbesitzer auf behördlichen Druck hin organisierten, um gemeinschaftlich bestimmte Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Der erste war der »Oberlößnitzer Weinbergs-Verein«, der sich vor 180 Jahren, am 16. November 1831 konstituierte. Seine 25 Paragraphen umfassende Organisationsurkunde verrät einiges über die sozialen Verhältnisse der damaligen Zeit.

Weinbergverein Oberlößnitz, Organisationsurkunde

In der Präambel wird festgestellt, dass die in der Oberlößnitz gelegenen Weinbergsgrundstücke »von jeher weder unter sich noch mit irgend einer der umliegenden Dorfgemeinden in irgend einem Communal-Verhältnisse gestanden« hätten, »vielmehr von jeher als Singuli betrachtet und behandelt« worden wären. Alle Verwaltungs- und Gerichtsangelegenheiten wurden bis dato direkt zwischen den einzelnen Eigentümern und dem zuständigen Amt Dresden abgemacht.

Das funktionierte gut, solange die Oberlößnitz noch kaum besiedelt war und die zumeist recht großen Weinbergsgrundstücke überwiegend auswärtigen Besitzern gehörten, in der Mehrzahl wohlhabenden Dresdner Bürgern und Hofbeamten. Im 18. Jahrhundert hatte sich das jedoch nach und nach geändert. Einige der »Bergherren« hatten ihren Hauptwohnsitz in die Lößnitz verlegt, zahlreiche Winzerfamilien hatten durch längeren Aufenthalt vor Ort ein Heimatrecht erworben, und so mancher Weinberg, der früher einem Dresdner Beamten gehört hatte, war im ganzen oder nach einer Teilung in den Besitz selbständiger Winzer gelangt. Um 1830 gab es im Gebiet der Oberlößnitz bereits an die 70 bewohnte Hausgrundstücke und über 400 Einwohner, wobei die fiskalischen Weinberge der Hoflößnitz noch nicht einmal mitgezählt sind, mehr also als in den meisten der alten Lößnitzdörfer.
Bei der Unsicherheit der Zeitläufte und der Erträge des Weinbaus konnte es gar nicht ausbleiben, dass der eine oder andere der Einwohner in wirtschaftliche Not geriet, seinen Besitz verkaufen musste und nahrungslos wurde. Auch Krankheit und Alter waren von jeher Armutsrisiken, die Landbewohner, die außerhalb dörflicher Gemeinschaften lebten, besonders schwer treffen konnten, denn das öffentliche Armenwesen der damaligen Zeit war auf kommunaler Ebene organisiert. Sachsen hatte in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle eingenommen. Im verheerenden Hungerjahr 1772 – im Kurfürstentum waren damals über 60.000 Menschen verhungert – war die Armengesetzgebung verbessert und angeordnet worden, dass in jeder Gemeinde eine Armenkasse anzulegen war, der bestimmte regelmäßige Abgaben sowie Strafgelder und freiwillige Spenden zuflossen. Aus diesen Mitteln wurden die örtlichen Armenhäuser unterhalten, wo anspruchsberechtigte Bedürftige im Notfall ein karges Auskommen fanden, das sie vor dem Bettelstab bewahren sollte.

Der Hauptzweck der Gründung des Oberlößnitzer Weinbergs-Vereins war es nun, auch in der Oberlößnitz ein vergleichbares Versorgungssystem für »nahrungslose, verarmte und presshafte [d.i. gebrechliche] Personen« zu etablieren, dessen Kosten von der Gemeinschaft der Vereinsmitglieder getragen wurden. Vordringliches Ziel war der Erwerb bzw. Bau eines Armenhauses, das dann aus Vereinsmitteln unterhalten werden sollte, wofür auch hier eine »Armen-Casse« eingerichtet wurde. Beiträge dazu hatten alle Einwohner zu leisten, nicht nur die Grundstücksbesitzer; diese hafteten jedoch dafür, dass auch ihre »Hausgenossen« (Mieter) ihren Beitragspflichten nachkamen. Einzelpersonen hatten 12 Groschen, Familien einen Taler pro Jahr einzuzahlen. Darüber hinaus flossen der Kasse bestimmte Gebühren bei Grundstücksveräußerungen, Sammlungserträge und alle bei Verletzung der Vereinssatzung fällig werdenden Strafgelder zu. Sollten die Ausgaben der Armenkasse diese Einnahmen übersteigen, mussten die Vereinsmitglieder im Verhältnis der Größe ihrer Weinbergsgrundstücke für einen Ausgleich sorgen.
Versorgungsberechtigt waren entsprechend der in Sachsen allgemein geltenden Gepflogenheiten nur solche verarmten Personen, die für mindestens zwei Jahre im Vereinsbezirk wohnten und nicht durch ihre Familie unterstützt werden konnten. Ausdrücklich keinen Anspruch hatten jedoch nach Paragraph 9 »die Winzer, als solche, in welcher Eigenschaft sie blos als Dienstboten zu betrachten sind«, sprich: wenn sie keinen eigenen Hausstand hatten, sondern am Tisch ihres Dienstherrn aßen. Wurden solche Winzer dienstlos und verarmten, hatten sie die Abschiebung in ihren Heimatbezirk, in der Regel ihren Geburtsort zu gewärtigen.

Überhaupt spricht aus den verklausulierten Bestimmungen der Organisationsurkunde des Weinbergsvereins das Bemühen, die gemeinschaftlich aufzubringenden Ausgaben möglichst gering zu halten und den legalen Zuzug von Menschen mit erhöhtem Armutsrisiko nach Möglichkeit zu unterbinden. Dafür wurde auch das Verfügungsrecht der Mitglieder über ihre Grundstücke eingeschränkt. Die Aufnahme fremder Personen ins eigene Grundstück, und sei es nur zur »Sommer-Miethe«, wurde nicht nur an eine jedesmalige spezielle amtliche Bewilligung geknüpft, deren Nichteinholung eine empfindliche Konventionalstrafe nach sich zog; gegen die Aufnahme von Hausgenossen behielt sich der Verein darüber hinaus ein Widerspruchsrecht vor, und selbst für legal aufgenommene Mieter hatte der Grundstücksbesitzer vor Ablauf der ein Versorgungsrecht begründenden Zwei-Jahres-Frist die ausdrückliche Genehmigung des Vereins zur Aufenthaltsverlängerung einzuholen. Tat er das nicht, hatte er eventuell fällig werdende Versorgungskosten selbst zu tragen.

Auch das Veräußerungsrecht wurde beschnitten. Wollte ein Vereinsmitglied einen Teil seines Weinbergs verkaufen, so musste die neue Parzelle groß genug sein, »daß nach Bebauung derselben mit einem Hause ein zu Ernährung einer Familie hinreichender Raum [dabei] verbleiben würde«. Jede »Dismembration« (Grundstücksteilung) bedurfte fortan der Zustimmung des Vereins. Setzte sich der Verkäufer über einen Widerspruch hinweg, musste er bei einer Verarmung des ansässig gewordenen Käufers dessen Unterhalt übernehmen.

Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, dass der Verein kein Interesse an einer weiteren Be- und Zersiedelung der Weinbergsflur hatte. Außer in Bezug auf das Armenwesen strebte man »die Qualität einer Gemeinde oder Commun« nicht nur nicht an, sondern verwahrte sich »feierlichst« gegen jede weitere Einschränkung der bisherigen Freiheiten. Straßenbaulasten, Militärleistungen, Kosten für gemeinschaftliche Feuerlöschgeräte oder die Anstellung von Tag- und Nachtwächtern etc., wie sie in den Dörfern von der Gemeinde zu tragen waren, wollte man unter allen Umständen vermeiden und sich sogar beim Bau des Armenhauses nach Möglichkeit mit dem in Gründung begriffenen Niederlößnitzer Weinbergsverein zusammentun, um die finanzielle Belastung der Mitglieder gering zu halten.

Vertreten wurde der Verein durch fünf gewählte Repräsentanten, die aus ihrer Mitte einen Direktor bestimmten. Ein Klassensystem sicherte den Besitzern der größeren Grundstücke eine Mehrheit im Convent, dessen Entscheidungen Gesetzeskraft hatten; »Frauenspersonen« waren nicht wählbar. Ein weiteres und sehr verantwortungsvolles Wahlamt war das des »Armen-Cassen-Einnehmers«, der auch die »Obsichtsführung« über das Armenhaus und »die darin aufzunehmenden Hülfsbedürftigen« übernehmen sollte und für seine Mühewaltung als einziger eine Aufwandsentschädigung erhielt. Arbeitsfähige Unterstützungsempfänger waren selbstverständlich zu öffentlichen Arbeiten heranzuziehen.

1836 wurde das gemeinsame Armenhaus von Ober- und Niederlößnitz auf einem fiskalischen Grundstück am Lößnitzbach, heute An der Jägermühle 12, errichtet. Maurermeister Götze, Niederlößnitz, erhielt dafür 484 Taler. Schon drei Jahre später waren die Grundstücksbesitzer der Oberlößnitz durch die neue Landgemeindeordnung gezwungen, allen Vorbehalten zum Trotz doch eine politische Gemeinde zu bilden, auf die die Aufgaben und das Vermögen des Weinbergsvereins übergingen.

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