Bürgerbahnhof Kötzschenbroda? – eine Wortmeldung zum Thema Stadtentwicklung

Bahnhöfe sind Zwischenstationen. Sie erzählen von Menschen, die ankommen und Abschied nehmen, die sich als Wartende oder eilig aneinander vorbei Hastende flüchtig begegnen. Aber auch die Bahnhöfe selbst haben eine eigene interessante Geschichte. Die vom Bahnhof in Radebeul-West beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gelegen an der ältesten Fernbahnstrecke Deutschlands, gehörte das Bahnhofsensemble zu den wenigen noch im Originalzustand nahezu vollständig erhaltenen historischen Anlagen in Sachsen. Zwei Weltkriege und 40 Jahre DDR hat der Bahnhof relativ unbeschadet überstanden bis zu jenem Moment, als ihn „clevere“ Strategen von der Deutschen Bahn zum Haltepunkt degradierten. Aus ihrer Sicht war das ein kluger Schachzug, der sich rechnet. Fortan wurde alles Überflüssige entsorgt und der Denkmalschutz spielte plötzlich keine Rolle mehr. Die Fernzüge donnern nun auf den äußeren Gleisen mit hoher Geschwindigkeit durch den Ort. Die Reisenden stehen zwischen den inneren Gleisen auf dem Bahnsteig, wie auf einem Präsentierteller, nur notdürftig vor Wind und Wetter geschützt. Die historischen Bahnsteigüberdachungen, die Außentreppen und das kleine ältere Bahnhofsgebäude auf der Nordseite wurden abgerissen, der Tunnel gesperrt und mit Schutt verfüllt. Das einstmals repräsentative Bahnhofshauptgebäude auf der Südseite mit Empfangshalle, Wartesaal, Abfertigung und öffentlichen Toiletten ist seiner Funktion sowie einiger schmückender Zierelemente beraubt und zeugt in seinem traurigen Zustand von Gleichgültigkeit und Gier. Die Umbenennung in Bahnhof Kötzschenbroda hatte letztlich nur noch symbolischen Wert.

Musikperformance mit dem Saxophonisten Michael Schulz im September 2001

Musikperformance mit dem Saxophonisten
Michael Schulz im September 2001


Meine erste bewusste Erinnerung an den Bahnhof von Radebeul-West liegt über fünf Jahrzehnte zurück und verbindet sich für mich mit der Schuleinführung im Jahr 1960, welche in der einstigen Bahnhofswirtschaft gefeiert wurde. Als es dort schon lange keine Gaststätte mehr gab, fanden in den Räumen Veranstaltungen wie Jugenddiskotheken, Seniorentanz, Kinovorführungen oder Lichtbildervorträge statt. Auch gab es ein paar Jahre lang im Erdgeschoss eine sehr gemütliche Kneipe Namens „Tender“, die als „Unke“ in Altkötzschenbroda weiterlebt. Den Fahrkartenschalter mit dem auskunftsfreudigen Personal hielt ich für selbstverständlich. Wie man sich irren kann!
Das Bahnhofshauptgebäude im April 2013

Das Bahnhofshauptgebäude im April 2013


Nach der Jahrtausendwende entdeckte die Radebeuler Stadtgalerie den gut frequentierten Bahnhof für Kunstaktionen. Auf der breiten Freitreppe in der Empfangshalle wurde eine Harfenistin platziert und in den Zugängen, welche hinauf zu den Bahnsteigen führten, trat der Saxophonist Michael Schulz mit den Reisenden in einen musikalischen Dialog. Die Künstlerin Ju Sobing hatte in den Bahnhofstunnel farbige Tafeln mit Denksprüchen gehängt und großformatige Blumenbilder von Johanna Mittag schmückten die Säulen in der Empfangshalle, bis sie eines Tages abhanden kamen. Ein Mitarbeiter von der Bahn drehte damals über diese Aktionen auch einen Videofilm. Er meinte, dass man damit den Bahnhof besser verkaufen könne. Später quartierte sich im Bahnhof das Palastkino ein, welches als „kleinstes Kino der Welt“ von sich Reden machte und im Zuge eines angekündigten Vermieterwechsels wieder schließen musste. Zuletzt hielt nur noch die Taxizentrale die Stellung, bis sie dann in den frisch sanierten Kulturbahnhof nach Radebeul-Ost umzog.
Die Abbrucharbeiten sind voll im Gange

Die Abbrucharbeiten sind voll im Gange


Als die Stadtgalerie in diesem Jahr zur Eröffnung der Sommerausstellung „Das alte und das neue Radebeul“ in der einstigen Empfangshalle mit einem kleinen Konzert starten wollte, bekam sie von der Immobilienverwaltung Main Asset Management GmbH zur Antwort
„ … nach Rücksprache mit unserer Geschäftsführung und interner Diskussion wurde Ihrem Anliegen nicht zugestimmt. Wir sehen hier durchaus Verletzungsgefahren und damit verbundene Schadenersatzansprüche…“. Der Bahnhof blieb verschlossen und ist es noch heute. Doch Leerstand erzeugt Verfall und Verfall hat seinen Preis! Spannend bleibt die Frage: Ist es nun fünf nach oder fünf vor zwölf? Will man die Chance, den Bahnhof im Sinne der Radebeuler Bürgerschaft wiederzubeleben, verzagt verspielen oder will man sie couragiert mit vielen helfenden Händen ergreifen?

Das Argument, es gäbe für den Bahnhof kein Nutzungskonzept, scheint dem Mangel an Fantasie geschuldet zu sein. Wie sich das ehemalige Bahnhofsgebäude nutzen ließe, ergibt sich aus dem realen Bedarf, den die Kommune hat. So befinden sich sowohl das Vereinshaus als auch die Bibliothek-West in dezentraler Lage. Der Umzug in den Bahnhof wäre mit einer besseren Erreichbarkeit verbunden, denn die Haltestellen von S-Bahn, Straßenbahn und Bus befinden sich in unmittelbarer Nähe. Ebenso gibt es hinter dem Bahnhof sehr viel Platz für ausreichend Rad- und PKW-Stellplätze. Selbst der wöchentliche Frischemarkt, der zur Zeit in Altkötzschenbroda stattfindet, könnte am Bahnhof einen neuen Standort beziehen. Auch wäre es möglich, dass die Volkshochschule, welche ja bekanntlich aus allen Nähten platzt, noch einige Räume für Sprach-, Gesundheits- und/oder Computerkurse anmietet. Damit käme sie auch den Bürgern von Naundorf, Zitzschewig und Lindenau ein Stück entgegen. Der große Saal mit den schönen gusseisernen Säulen ließe sich für Veranstaltungen wie Familientanz, Vorträge, Messen, Amateurtheater, Puppenspiel und Filmvorführungen nutzen. In der einstigen Empfangshalle könnten auf beiden Etagen Wechselausstellungen zur Denkmalpflege, zur Stadtgeschichte, zum Radebeuler Vereinsleben oder zum Laienschaffen gezeigt werden. Auch wäre es möglich, dass in diesem Bereich die Bibliothek und ein Lesecafé eingerichtet werden sowie Informationspunkte zu Kulturangeboten, Fahrplänen und Ausflugszielen von Radebeul und Umgebung. Einige Räume sollten als „Zukunftsräume“ in Reserve gehalten werden zur preiswerten Vermietung an junge kreative Menschen, die eine Geschäftsidee testen wollen. Zu den Räumen, die in Zukunft immer wichtiger werden, gehören aber auch Fahrstühle und öffentliche Toiletten sowie Toiletten für Behinderte. Schließlich ist es keine neue Erkenntnis, dass die Menschen immer älter werden.

Ein Bürgerbahnhof, in dem ein ständiges Kommen und Gehen von unterschiedlichen Generationen herrscht, macht Radebeul-West wieder interessant und würde wohl auch einen Beitrag zur Belebung des innerstädtischen Handels leisten. Denn was bringt uns das ständige Meckern über die Einkaufszentren auf der „Grünen Wiese“? Außer Frust bringt das gar nichts! Wäre es also nicht viel vernünftiger, stattdessen einmal gründlich darüber nachzudenken, was unsere Stadtzentren zu bieten haben bzw. was sich verbessern ließe? Mit dem intermedialen Kunstprojekt „Radebeul – Stadt der Zukunft“ will sich die Stadtgalerie im kommenden Jahr an diesem spannenden Dialog beteiligen. Die permanenten Versuche Radebeul-Ost, -West und -Mitte gegeneinander auszuspielen, sind wenig hilfreich. Viel wichtiger ist es doch, offen zu bleiben für alles, was immer wieder an Neuem entsteht in unserer traditionsreichen Lößnitzstadt, egal um welche der Ursprungsgemeinden es sich dabei handelt.

Geld ist knapp – auch in Radebeul. Was also hat nun Priorität? Dass der Ausbau von Schulen und Straßen wichtig ist, bestreitet niemand. Aber gehört nicht noch einiges mehr zu einer „sozialen Stadt“? Auch Schüler verlassen eines Tages ihre Schule, gründen Familien, wollen einen Teil ihrer Freizeit im Wohnort verbringen, sich mit Freunden und Kollegen treffen. Sie wollen sich mit ihrer Stadt identifizieren, interessieren sich für deren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Selbst wenn so manches Ziel nur in Etappen erreicht werden kann (nicht zuletzt aus finanziellen Gründen), so ist es doch wichtig, überhaupt ein Ziel zu haben. Ein Bürgerbahnhof voller Leben könnte ein solches Ziel sein.

Karin (Gerhardt) Baum

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