Selbstversuch mit Todesfolge

Zur Premiere von „Dr Jekyll und Mr. Hyde“ am 4. März 2017

Man muss Goethes „Faust“ nicht gelesen haben und auch nicht kennen um zu wissen, dass in jedem Menschen Gut und Böse nebeneinander bestehen. Man muss nur in sich selbst hineinschauen, und wer nicht ganz unkritisch ist, findet da sicherlich etwas. Wie gut oder böse jemand ist bemisst sich nach den Morallehren einer Gemeinschaft, Vorschriften einer Religion und – ganz nüchtern – nach Gesetzen. Die „zwei Seelen“ in seiner Brust, von denen Faust spricht, seine Janusköpfigkeit, aus der sich heraus Mephisto abspaltet, interessierten auch den schottischen Schriftsteller Robert Louis Stevenson (1850-1894), dessen Hauptwerk „Die Schatzinsel“ ebenso zum kanonischen Repertoire europäischer Literatur gehört wie die Schauernovelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, die er 1886 auf Basis eines authentischen Falles geschrieben hatte. Diese Vorlage adaptierte der britische Dramatiker David Edgar 1991 für die Bühne, eine deutsche Fassung wurde erstmals im Jahr 2000 in Mainz inszeniert. Und nun machte sich der bisher überwiegend im Opernbetrieb agierende Regisseur und Sänger Axel Köhler an diesen Stoff und brachte ihn im Großen Saal der Landesbühnen zur Aufführung, sekundiert von Stefan Wiel als Ausstatter. Ja, es gibt sie, die Versatzstücke aus dem Repertoire klischeegesättigter Gruseldramatik britischer Provenienz: gellende, von schäbigen Londoner Gassen widerhallende nächtliche Schreie; durch fahles Licht wabernde Nebelschwaden; dröhnendes Pochen an herrschaftlichen Haustüren; ungastlich geräumige Vorhallen in viktorianischem Gediegenheitspathos; an laienhafte Vexierbilder gemahnende Schatteneffekte. Das lässt sich ganz genüsslich ansehen, bleibt aber doch hinter meinen Erwartungen an die theatrale Umsetzung einer Schauernovelle zurück, eine Spur subtiler, und damit fesselnder, hätte es schon sein dürfen. Der Kern der Geschichte besteht allerdings auch weniger aus den äußeren Gegebenheiten einer wahrhaft nicht gerade gemütlichen Zeit, in der Jack the Ripper mordend durch London zog und die Verelendung der unteren Schichten an allen Ecken und Enden greifbar war. Nein, der Plot ist geboren aus der in jenen Jahren aufkommenden Faszination für die Psychologie und für die Frage, was Triebe und Instinkte mit uns Menschen machen und wie sie unsere Persönlichkeit steuern. Dr. Henry Jekyll (Moritz Gabriel), angesehener Arzt und Wissenschaftler, trägt in sich das Böse wie alle Menschen, aber anders als alle anderen auch die latente Bereitschaft, das Böse zuzulassen, um seiner Existenz in toto Ausdruck zu verleihen. Diese spezielle Disposition hat er als fluchbeladenes Erbteil von seinem Vater, der ein „Teufels in Menschengestalt“ gewesen sein soll. Das Stück begleitet Jekyll während eines guten Jahres, im Verlauf dessen er den Kampf mit seinem abgründigen Selbst, Mr. Hyde genannt, verlieren und mit Gift seinem unausstehlich gewordenen Leben ein Ende bereiten wird. Aber der Reihe nach.
Die Handlung setzt im Haus von Henrys Schwester Katherine (Sophie Lüpfert bekommt wenig Gelegenheit Akzente zu setzen) während der Weihnachtszeit ein und führt uns einen Mann vor Augen, der, obgleich erfolgreich als Arzt in London wirkend, kein gefestigter Charakter und auf der Suche nach bisher geheim gehaltenen Aufzeichnungen seines Vaters ist, auf dass er durch sie im Selbstversuch sich in ein dunkles Alter Ego verwandeln könne. Diese Aufzeichnungen bekommt er widerwillig von seiner Schwester aus dem Nachlass ihres Vaters ausgehändigt. Moritz Gabriel interpretiert Jekylls sich nun anbahnende Zerrissenheit zunächst noch sehr zurückhaltend, fast den gesamten 1. Akt hinweg ist er vielmehr der sich selbst noch stets domestizierende Lüstling, der aus guten Gründen sich und seinen Trieben nicht recht über den Weg traut. Es ist fragwürdig, ob die Zusammenführung beider Charaktere – also Jekyll einerseits und Hyde andererseits – in einen Akteur dessen Spiel nicht unnötig zerfasert. Denn es ist für den Zuschauer auf Dauer nicht sehr reizvoll, der Hauptfigur dabei zusehen zu müssen, wie sie fortwährend ihre Brille absetzt und den Zopf löst um Hyde zu sein und im nächsten Augenblick diese Verwandlung umständlich rückgängig machen muss, damit sie wieder Jekyll ist. Ich kann mir spannende Umsetzungen vorstellen, wie man die Doppelrolle Jekyll/Hyde unter Nutzung der ganzen Breite von Möglichkeiten modernen Theaters anders umsetzt als im hier gegebenen Fall. Andererseits ist es bewundernswert, wie Moritz Gabriel, vor allem im 2. Akt, sich in den paranoiden Zustand der Persönlichkeitsspaltung hineinsteigert und das enorme Textpensum bravourös bewältigt.

Die anderen Figuren sind Vertreter der viktorianischen Gesellschaft, so, wie man sie sich in Erinnerung an die nachkolorierten Fotografien jener Jahre vielleicht vorstellt. Liebenswürdig traditionsbewusst und gentlemanlike herausgeputzt der rechtschaffene Rechtsanwalt Utterson, mit dem Matthias Henkel die Rolle des Elder Statesman lustvoll für sich entdeckt. Thomas Förster zeigt in drei Figuren jeweils unterschiedliche Facetten bürgerlicher Existenzen. Als Dr. Lanyon gibt er einen auf alltagstauglich getrimmten Heuchler, dessen Selbstsicherheit nur Fassade ist, denn auch er hat, wie man so schön sagt, eine Leiche im Keller. Zufällig ist es die gleiche Art von Leiche, derer sich im Stück auch Hyde alias Jekyll schuldig macht: Das zu ihm geflüchtete Dienstmädchen Lucy (Cordula Hanns besetzt überzeugend die Rolle der einfältig-ehrlichen jungen Frau, deren Anstand sie davor bewahrt, ihre für Jekyll gehegten Gefühle offen zu zeigen) schwängert er, nur, um sie später im Zustand der besinnungslosen Strenge aus dem Haus und damit ins Elend zu jagen. Zum zweiten gibt Förster den Parlamentsabgeordneten Sir Carew, dessen durch Hyde hinterrücks verübter Tod Bestürzung auslöst – besonders auch bei Jekyll. Drittens schließlich ist er auch noch ein Pastor, dessen schonungslose Beschreibung des Schicksals junger Mädchen Jekyll an die von ihm verstoßene Lucy gemahnt. Jekylls Butler Poole (Grian Duisberg heimst Sympathiepunkte ein in seiner gelungenen Mischung aus besorgter Beflissenheit und ungelenker Unsicherheit) krönt das stereotypisierte Figurenensemble des Stücks. Es fehlt eigentlich nur noch ein Hund, der vor einem offenen Kamin im Salon schläft. Abgesehen von den erwachsenen Schauspielern treten auch eine Handvoll Kinder auf, wobei es Katherines Sohn Charles (Victor Peter Möhmel) vorbehalten bleibt, die Schlusspointe zu setzen. Er findet unter den von seinem verstorbenen Onkel hinterlassenen Dingen eben jenes Büchlein seines Großvaters, durch das Jekyll vor Jahresfrist zum Experimentieren mit seinen Identitäten verleitet wurde. Die Botschaft ist eindeutig: Die Suche nach sich selbst ist dem Menschengeschlecht eingeschrieben und geht (ewig) weiter.

Den sehr freundlichen Schlussapplaus aus dem ausverkauften Saal darf man getrost so deuten, dass sich das Publikum, der Rezensent eingeschlossen, alles in allem angenehm unterhalten fühlte, ohne euphorisiert in die Nacht entlassen worden zu sein. Wer sich dem Selbstversuch eines Aufführungsbesuches unterziehen möchte, hat dazu nur noch am 7. April im Stammhaus Gelegenheit. Folgeerscheinungen sind hierbei zum Glück jedoch auszuschließen.

Bertram Kazmirowski

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