Neue Sitten – gute Sitten?

Zugegeben, die Zeiten sind rauer geworden. Das mag man sicher nicht nur an den irrsinnigen Mieten erkennen. In München soll die Monatsmiete für manche Behausung bis auf 3.000 Euro gestiegen sein. Da kann man sich schon vorstellen, dass die Leute wie Geier übereinander herfallen, wenn es mal einen Wohnraum mit 12 Euro pro Quadratmeter zu erhaschen gibt. Das neoliberale System verdirbt eben die guten Sitten. Es stellt alles auf den „Prüfstand der Vermarktung“, egal ob es dabei zu Bruch geht oder nicht.

Der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi, Professor an der Universität Leipzig und Direktor des Tanzarchivs in der Messestadt, sieht gar über kurz oder lang das gute alte dialogische Theater verschwinden, da das gesellschaftliche System dafür keine Voraussetzungen mehr bietet und die Menschen dafür kein Verständnis mehr entwickeln können. Warum? Weil es nur noch um die Ich-Performance geht. Was interessiert mich da schon der Andere? Die Selbstdarstellung ist in dieser Gesellschaft die wichtigste Veräußerung geworden, bei der es natürlich auch immer gegen jeden und alle geht. Nur wenn ich mich um jeden Preis gegen meine Mitkonkurrenten durchsetzen kann, habe ich eine Chance auf einen halbwegs sicheren Platz am „Futternapf“.

Die Untersuchungen und Erhebungen des Künstlerverbandes, des Verbandes Darstellender Künste und anderer Einrichtungen zur Lage der Künstler in der Bundesrepublik ist zwar erschreckend, aber wirklich interessiert es keinen, außer natürlich die Betroffenen. Kunst scheint für manch einen nach wie vor etwas zu sein, was man sich leisten können muss, gewissermaßen, dass Sahnehäubchen auf dem schon übersüßten Kuchen. Dem sei mit Peter Hacks geantwortet: „Erst vergammeln die Zwecke, dann die Mittel“, und anfügen könnte man: auch die Menschen, zumindest moralisch. Über die Kunst soll an dieser Stelle nicht auch noch philosophiert werden. Da weiß schon lang keiner mehr was und wo „gut“ und „böse“ ist. Ein Blick in den internationalen Kunstmarkt genügt da völlig.

Wer es in diesen großen Kunstmarkt nicht geschafft hat, muss sich seine Brötchen anders verdienen und zumeist sehr sauer. Neben dem Broterwerbsjob kommt dann aber zu meist die künstlerische Arbeit zu kurz. Nach einer Schicht in der Pflege oder an der Kasse bei Aldi ist man nicht nur körperlich ausgepowert. Da können einem schon mal die Sicherungen durchbrennen, wenn einem ein Honorar, sagen wir mal von 500 Euro, durch die Lappen geht. Rechtfertigt dies aber die Aufgabe eben all der „guten Sitten“? Bisher galt zumindest in der Kultur auf regionaler Ebene das seit alters her gepflegte „Handschlaggeschäft“. Neben der Kulanz war die absolute Verlässlichkeit bei Absprachen eines der herausstechenden Merkmale in den Beziehungen unter den Kulturschaffenden. Man hatte gewissermaßen einen eigenen Codex, von dem ein Teil der Branche aber heute offensichtlich nichts mehr wissen will. Denen geht es vermutlich nur noch ums blanke Geschäft, ums Überleben. Fragen drängen sich da einem schon auf. Z.B. was das dann alles noch mit Kunst zu tun hat und was das mit den Menschen macht? Gibt mir gewissermaßen dieses „System“ die Berechtigung, mich als Mensch, als humanes Wesen, zu verraten? Kann ich mich dann noch Künstler nennen?
Wollen wir hoffen, das Künstler in erster Linie Künstler bleiben und nicht zum Krämer verkommen, denn dann ist die Kunst verloren.

KUB

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