„Einer von denen“ ist immer noch einer von uns

Die Landesbühnen bringen mit „Draußen vor der Tür“ Wolfgang Borcherts berühmtes Antikriegsstück auf die Studiobühne

»Draußen vor der Tür« – mit Julia Vincze, Felix Lydike, Marcus Staiger und Grian Duesberg (v.l.) Foto: H.L. Böhme;

Nicht für alle Situationen hält unsere eigentlich so reiche und differenzierten Ausdruck ermöglichende deutsche Sprache das passende Wort oder die passende Wendung parat. Das kam mir in den Sinn, als ich darüber nachdachte, wie ich mich am Ende der Premiere von „Draußen vor der Tür“ (Regie: Peter Kube) gefühlt hatte. Es dauerte ein wenig, bis mir endlich ein Gedanke kam, wie ich es beschreiben könnte: „Das Klatschen blieb mir in den Händen stecken“. Ja, so war es. Und nicht nur mir war so zumute, wohl auch den anderen Zuschauern, davon etwa ein Drittel Schüler, denn es dauerte etwa 15 Sekunden, bevor der Beifall die Stille durchschnitt. Es war aber ein Beifall, der Betroffenheit enthielt, Erschütterung auch, nach Außen gekehrte Nachdenklichkeit, freilich ebenso große Anerkennung für die fünf Akteure auf der Bühne, die dieses Stück, das gemeinhin als das eindrucksvollste der sogenannten „Trümmerliteratur“ gilt, so intensiv und in starken Bildern zur Aufführung gebracht hatten. Vor dem Theater traf ich auf eine Gruppe Schülerinnen, die eben noch in der Studiobühne gesessen hatten. Sehr bewegt zeigten sie sich, waren aber auch ehrlich genug um zu sagen, dass es nicht leicht verständlich gewesen sei, trotz erfolgter Vorbereitung in der Schule. Ja, das Vorurteil hält sich beharrlich, dass Borchert leicht verständlich sei, nur weil die Texte seines überschaubaren Gesamtwerkes frei sind von dünkelhaftem Bildungswortschatz, fettem Fremdwortballast und die Sätze keine Saltos schlagen. Wie soll man auch – wohlgenährt, gut gekleidet, gesund – v-e-r-s-t-e-h-e-n, was Borchert uns da als junger Kriegsheimkehrer 1947 in diesem Verzweiflungstext, seinem einzigen Drama, bis heute entgegen schreit? Wie soll man sich 2019 zu diesem Beckmann (verkörpert von Felix Lydike, der bis an seine schauspielerischen Grenzen gehen muss, um die physischen und vor allem psychischen Grenzerfahrungen des Protagonisten nachempfindbar zu machen) verhalten, der, durch seine vom Krieg noch verwundete Heimatstadt Hamburg irrend, auf eine menschliche Wand aus Verdrängung, Vergessen und Verleugnung trifft? Auf diese Fragen haben die meisten Zuschauer wahrscheinlich keine Antwort, denn wir sind zum Glück weit entfernt von den Orten, an denen die Beckmanns unserer Zeit nach Hause kommen – wenn sie denn überhaupt nach Hause kommen, nach Donezk oder Damaskus etwa. Aber der Schatten dieses Hamburger Beckmanns, von Borchert im Personenverzeichnis als „Einer von denen“ und damit als einer von den vielen Kriegsheimkehrern gezeichnet, deren anonym gebliebenen Schicksalen er Stimme und Gestalt gibt, reicht aus der Vergangenheit noch immer auf unsere im Vergleich so helle und freundliche Gegenwart und zwingt uns Nachgeborene darüber nachzudenken, was wir inzwischen zu verlieren haben. Und so drängt uns dieser gewaltige, schmerzende und irritierende Text, dass wir uns auf diesen an Leib und Seele zerstörten Menschen einlassen und nachzuempfinden versuchen, was uns da schonungslos vor Augen geführt wird. Es hilft Beckmann auch nicht, dass sich ab und an der (Über-) Lebenswille in ihm regt (Borchert hat dafür die Figur des „Anderen“ entworfen, eine Art Alter Ego Beckmanns, das sich in Abständen bemerkbar macht), denn auch seine engere Familie ist zerstört: Die Eltern haben sich selbst umgebracht, sein kleiner Sohn ist im Bombenhagel gestorben, seine Frau hat einen neuen Mann. Beckmanns Unbehaustsein ist total. Marcus Staiger, Julia Vincze und Grian Duisberg sorgen in sehr unterschiedlichen Rollen dafür, dass wir Mitleid haben müssen mit diesem Beckmann, der sich an dieser Wand aus kalten Mitmenschen sein Herz noch blutiger schlägt. Zwar sind die Figuren alle irgendwie lebendig, denn sie wollen ja leben und den Krieg hinter sich lassen, aber ihr Mitgefühl ist unter den Trümmern begraben, sie denken nur an sich. Gegen diese Wand rennt Beckmann fortgesetzt an, er taumelt, stürzt, steht wieder auf, fällt erneut und hofft dabei immer, eine Tür möge sich endlich öffnen und ihm ein Nachhausekommen ermöglichen. Aber wenn sich eine Türe öffnet, dann nur aus Eigennutz. Das Mädchen will schnelle Liebe, der Kabarettdirektor eine neue lustige Nummer, Frau Kramer ihr neues Heim verteidigen. Beckmann bleibt in jedem der Fälle außen vor, bleibt Fremder in seiner Heimatstadt. Je länger das Stück dauert, desto größere Sogkraft entfaltet das Geschehen auf karg ausgestatteter Bühne (Tom Böhm), die im fahlen Licht genauso grau und trübe ist wie die Gestimmtheit des Protagonisten. Maßgeblich für die atmosphärische Dichte der Inszenierung ist auch die musikalische Untermalung, die am ersten Abend Hendrik Gläßer besorgt. So beginnt das Stück mit einem furiosen Percussion-Solo, das beklemmende Assoziationen (Artilleriefeuer, Granateinschläge, unruhiger Herzschlag, gehetzte Schritte u.a.) auslöst. Später dann werden stillere Passagen durch eine melancholische Melodie auf dem Marimbaphon akustisch ausgekleidet.
Es passt zur Werkgeschichte dieses furchtbar zu Herzen gehenden Dramas, welches Borchert übrigens bezeichnenderweise mit dem Untertitel „Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“, dass der Autor selbst einen Tag vor der Hamburger Uraufführung (21.11.47) verstarb.
Bertram Kazmirowski

Nächste Vorstellungen 16.3. und 22.3., jeweils auf der Studiobühne in Radebeul.

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