Zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“: Aus dem Alltag an der ehemaligen EOS „Juri Gagarin“ Radebeul im Jahr 1990

Teil 2: 2. Halbjahr 1990

Die Sommerferien zogen herauf und mit dem 6. Juli, dem Tag der Zeugnisausgabe für die 11. Klassen, war den Lehrkräften klar: So leer und überschaubar würde es an der EOS niemals wieder werden, denn längst war durch die Schulbehörde beschlossen worden, dass mit dem Schulbeginn am 3. September die EOS um die Klassenstufen 9 und 10 erweitert werden würde. Seit der Umstellung auf die zweijährige Abiturstufe im Jahr 1982 hatte es bis 1989 immer nur acht Klassen an der „Juri Gagarin“ gegeben, also etwa nur 160 Schüler in der ganzen Schule. Eine überschaubare Zahl, die Vertrautheit untereinander ermöglicht und Anonymität in und zwischen den beiden Jahrgängen weitgehend verhindert hatte. Noch im Juni 1990 war allerdings eine wegweisende Entscheidung für die Zukunft vorbereitet worden. Eine Gruppe von Lehrern, die entschieden den gesellschaftlichen Wandel begrüßten, wollten für die zu Beginn der Sommerferien anstehende Wahl des neuen Direktors Alternativen zum Amtsinhaber Dr. Gerhard Glöckner finden, ohne allerdings selbst kandidieren zu wollen. Mit Rückendeckung des damaligen Radebeuler Volkskammer-, später Bundestagsabgeordneten Dr. Rainer Jork suchte und fand man schließlich in Frank Thomas einen gestandenen Pädagogen und politisch unbelasteten Christen, der zu der Zeit Lehrer für Geschichte, Geographie und Physik an der POS „Martin Andersen Nexö“ in Radebeul-West war. Am ersten Tag der Sommerferien, 7. Juli 1990, wurde er dann auch in einer geheimen Wahl von 24 Vertretern der Schulkonferenz (12 Lehrer, je sechs Eltern- und Schülervertreter) mit 17 von 24 Stimmen zum neuen Schulleiter gewählt. Er setzte sich dabei gegen den bisherigen Direktor Glöckner und eine externe Bewerberin durch. Wie sehr diese geheime Wahl den Beteiligten nahe ging, beweist eine Äußerung des langjährigen Sportlehrers Tassilo Schmalfeld: „Das war der aufregendste (beruflich gesehen) und spannendste Vormittag meines langen Lehrerlebens. Und dazu stehe ich heute noch.“ Frank Thomas hatte in den Jahren zuvor schon einige Zeit vertretungsweise an der EOS Unterricht erteilt und war mit einigen Lehrerinnen und Lehrern der EOS bekannt, wenn nicht gar befreundet gewesen, sodass er also nicht ganz unbekanntes Terrain betrat. Noch heute ist Schulleiter a.D. Thomas in Erinnerung, dass er sich von einer großen Unterstützung des gesamten Kollegiums getragen fühlte und auch das Verhältnis zu seinem Vorgänger Dr. Glöckner gut blieb: „Wir kannten uns schon 15 Jahre und schätzten uns gegenseitig. Deswegen gab es keine Spannungen zwischen uns.“ Beide konnten im Sommer 1990 nicht ahnen, dass ihnen nur ein gemeinsames Jahr als Kollegen vergönnt sein sollte, denn Gerhard Glöckner verstarb nach kurzer schwerer Krankheit Ende Juni 1991.

»Sommer 1990: Blick über den nicht mehr existierenden Sportplatz in Richtung Spitzhaus«
Foto: B. Kazmirowski


Ohne nennenswerte Leitungserfahrung machte sich Frank Thomas mit dem Kollegium daran, das erste Schuljahr unter den neuen freiheitlich-demokratischen Bedingungen vorzubereiten. Die Unterlagen für die erste Lehrerkonferenz am 27. August zeigen das Spektrum der Entscheidungen auf, die zu diskutieren und zu treffen waren. Manche davon betrafen Bereiche, in die sich die Schulen auf dem Gebiet der noch bestehenden DDR erst langsam einfinden mussten. Beispielsweise die Wahl von Schüler- und auch Elternvertretungen, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hatte. Anlässlich benannter Konferenz kursierte deshalb auch ein Ausschnitt aus der „Deutschen Lehrerzeitung“, in der „Rahmenempfehlungen für die Ausarbeitung von Schulverfassungsgesetzen“i abgedruckt waren. Darin stand schwarz auf weiß und wurde alsbald also auch an der ehemals als „roten Penne“ verschrienen Lehranstalt gesetzlich abgesicherte Realität: „Der Schüler hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern […]; entsprechend seinem Alter an der Gestaltung des Unterrichts und des gesamten schulischen Lebens mitzuwirken […]“. Die Klassenleiter wurden angehalten, ihre Klassen über die aufgeführten Rechte und Pflichten von Schülern zu belehren. Für uns damalige Schüler wurden vor allem die Rechte dann schnell gelebter Alltag (an Pflichten waren wir ja lange gewöhnt gewesen…), die sich besonders darin manifestierten, dass die bereits im Frühling 1990 unternommenen Versuche, eine Schülerzeitung an der EOS zu etablieren, erneut an Fahrt aufnahmen. Im Mai 1990 war nämlich schon die erste Ausgabe der „Kreuz und Gwär“ benannten Schülerzeitung (Eigenwerbung: „Gegen Langeweile, Disziplin und Gehorsam, für Fantasie, Individualität und kreativen Ungehorsam“) durch vier Schüler der Klassenstufe 11 herausgebracht worden und war damit mutmaßlich die erste Schülerzeitung im (noch existierenden) Bezirk Dresden überhaupt. Dieser Produktion blieb nachhaltiger Erfolg versagt, weil sie einem Großteil der Schülerschaft zu konfrontativ gegenüber der Institution Schule und den gesellschaftlichen Zuständen eingestellt war. Deshalb kursierte mit Beginn des Schuljahres 1990/91 ein Nachfolger auf den Schulfluren: „Carmilhan“. Diese in manuell aufwendiger Weise hergestellte und inhaltlich sowie ästhetisch beachtlich anspruchsvolle Zeitung bestand allerdings auch nur wenige Monate, weshalb bereits zu Jahresbeginn 1991 durch eine neue Redaktion die erste Ausgabe der „Penne News“ unters lesehungrige Schülervolk gebracht worden war.

Schülerzeitung »Carmilhan« 1990/91
Foto: S. Hennig


Ein wichtiger Punkt der Schuljahreseröffnung der Lehrerschaft bestand darin, sich darüber abzustimmen, welche Themen im Laufe des neuen Schuljahres Schwerpunkte werden sollten. Die Vorschläge der Schulleitung geben einen interessanten Einblick darin, was in jener Zeit als drängende (z.T. auch gesellschaftliche) Probleme empfunden wurde: „Drogen – auch eine Gefahr für unsere Schule?“; „Erinnern lehrt vorbeugen – kommt jetzt der Rechtsradikalismus?“; „Brauchen wir eine neue Hausordnung?“; „Beziehungen zwischen Oberschule und Stadt“ sowie „Unsere Partnerschaftsbeziehungen“. Der letztgenannte Vorschlag berührte dabei tatsächlich ein für die damaligen innerdeutschen Beziehungen aktuelles Thema und war in der Lehrerkonferenz ein gesonderter Tagesordnungspunkt. Im vorliegenden Diskussionspapier heißt es: „Die mit einer verständlichen Euphorie von beiden Seiten eingeleiteten Patenschaftsbeziehungen unserer Schule mit Gymnasien der BRD gilt es zu gestalten und zu koordinieren. […] Problematisch sind natürlich Entfernungen und finanzielle Möglichkeiten. […] Im weiteren Verlauf des Papiers werden insgesamt fünf verschiedene Gymnasien in Oberhaching, Puchheim, St. Ingbert, Letmathe/Iserlohn und Sennestadt genannt. Abschließend heißt es: „Nachzudenken ist auch über einen Vertrag, der für Kollegium und Schule gelten könnte. Dazu sollten wir ein Gymnasium ‘aussuchen‘. Die Angebote sind vielfältig. Das Interesse in der BRD scheint groß zu sein. Auch hier sei an Gorbatschows Wort erinnert: ‘Wer zu spät kommt,…‘.“ Wie Frank Thomas im Frühsommer 2020 konstatierte, kam es in den Jahren nach der Wiedervereinigung zu keiner institutionalisierten Form einer Schulpartnerschaft mit einem Gymnasium in den alten Bundesländern, wohl aber zu persönlichen Begegnungen zwischen Pädagogen, wobei einige der so entstandenen Kontakte sogar bis in die Gegenwart gehalten haben.

Überregional machte die EOS im Herbst 1990 in Lehrerkreisen von sich reden, weil an dieser Schule die künftige Interessenvertretung der sächsischen Gymnasiallehrer („Philologenverband Sachsen“) gegründet wurde, wobei Gudrun Schreiner, Lehrerin für Mathematik und Geografie an der EOS, als erste Vorsitzende bestimmt wurde. Dass diese Gründung mit Unterstützung bayerischer Gymnasiallehrer erfolgte, ist ein Ausdruck der damals engen Verflechtung der sächsischen (Bildungs-)Politik mit Bayern und Baden-Württemberg.

Den Unterlagen zur Lehrerkonferenz vom 27. August 1990 ist anzusehen, dass sie unter dem Vorzeichen der Vorläufigkeit und damit auch Unsicherheit standen. Als letzten Hinweis unter einer Vielzahl von Ideen zur konkreten Ausgestaltung des pädagogischen Regimes und organisatorischer Fragen gibt der neue Schulleiter Frank Thomas dem Kollegium zu verstehen: „Diese Empfehlung gilt bis zur Veröffentlichung eines Schulgesetzes für das Land Sachsen.“ Ein solches wurde dann übrigens erst ein knappes Jahr später zum 1.8. 1991 wirksam, womit die aufregende Zeit zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“ offiziell ein Ende gefunden hatte.

Bertram Kazmirowski

Ich danke Schulleiter a.D. Frank Thomas für eine Reihe wertvoller Hinweise und Einsicht in persönliche Erinnerungen.

schlechtbescheidenmittelmäßiggutexzellent (2 Wertung(en), Durchschnitt: 5,00 von 5)
Loading...
1.606 Aufrufe

Ein Kommentar

  1. Andreas Seltmann
    Veröffentlicht am Mo, 24. Aug. 2020 um 21:36 | Permanenter Link

    Sehr geehrter Herr Dr. Kazmirowski, lieber Bertram,

    ganz herzlichen Dank für die beiden Artikel zur Geschichte der EOS im
    Wendejahr 1989/90 bzw. speziell in 1990. Was für eine aufregende Zeit,
    und wir können uns glücklich schätzen, dabei mitgewirkt zu haben.
    Ich darf an ein Detail erinnern, was es so nur in diesen irren Monaten
    geben konnte. Ich war im gesamten Schuljahr 1989/90 Lehrer an der
    Ernst-Thälmann-Oberschule mit Teilabordnung an die
    Georg-Weig-Oberschule auf dem Gelände des heutigen Gymnasiums
    Luisenstift. Bereits im April wurde ich durch Herrn Schmalfeld
    gebeten, mich für die Arbeit an der EOS zu bewerben – neue Lehrer
    braucht das Land. Diese Bewerbung wurde angenommen, so dass ich ab dem
    01.08.1990 als Vollzeitlehrer an der EOS unterrichtet habe.
    Aber – und das ist mir wichtig: Bereits Anfang Juni 1990 gab es erste
    Besprechungen von interessierten Lehrern der EOS und von außen über
    wichtige Aspekte in Sachen Bildung und Schulorganisation, an denen ich
    teilnehmen durfte. Am 27.06. fand die Wahl der Lehrerteilnehmer für
    die im Artikel genannte Schulkonferenz vom 07.07.1990 statt und ich
    wurde als ein Vertreter entsandt. Somit habe ich als Nichtstammlehrer
    der EOS mein Stimmrecht in der Schulkonferenz der EOS am Samstag(!),
    07.07.1990, ausüben dürfen. So etwas ist heute undenkbar und nur den
    Umbrüchen der damaligen Zeit geschuldet.
    Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute und vielleicht gibt es noch
    weitere Artikel zur Übergangszeit 1990/91 – ich bin gespannt.

    Mit freundlichen Grüßen

    Andreas Seltmann

Kommentieren

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mittels * markiert.

*
*

Copyright © 2007-2024 Vorschau und Rückblick. Alle Rechte vorbehalten.