Autobiografische Betrachtungen von Gert Claußnitzer
Wer sich hierzulande vor dem Zusammenbruch der DDR, wenn auch nur am Rande für bildende Kunst interessierte, der hatte damit zwangsläufig mindestens eines der Bücher aus dem VEB Verlag der Kunst Dresden im Regal stehen. Wer nun denkt, dass es sich bei diesen nur um Ersatzstoffe handelte, mit denen man sich in Ermangelung der Erzeugnisse von Dumont, Prestel und Hirmer zufriedengeben musste, der täuscht sich sehr. Denn in Dresden erschienen mit den durch den künstlerischen und technischen Leiter des Verlags, Horst Schuster (1930-2013), großzügig ausgestatteten Bildbänden beispielsweise zu Matthias Grünewald, Hieronymus Bosch und Jörg Ratgeb, einige Klassiker der Kunstgeschichte, deren fremdsprachige Ausgaben auch im Ausland ihre Leser fanden. In der fundus-Reihe, die noch heute bei Philo Fine Arts fortgeführt wird, erscheinen seit 1959 Abhandlungen zur Kulturtheorie. Vom exklusiven Handpressendruck der eikon-Presse bis zu den Volksausgaben der Reihe „Welt der Kunst“ beackerte der Verlag innerhalb der Mangelwirtschaft der DDR ein weites Feld. Lang bevor Taschen und Könnemann ihre preisgünstigen Reihen auf den Markt brachten, machten die Dresdner unter dem Titel „Maler & Werk“ ebenso anschauliche wie informative Hefte für Jedermann. (Seit kurzem zeigt eine nahezu vollständige Liste der erschienenen Titel in der Netz-Enzyklopädie Wikipedia die erstaunliche Spannweite dieses Programms.) Im Unterschied zu den vorgenannten Verlagen kam dabei auch das Werk zeitgenössischer Künstler in Betracht, die nicht der Generallinie entsprachen und denen auf diese Weise erst Geltung verschafft wurde. In einem geschickten Abwägen von soliden Prestigeprojekten gegen gewagte Experimente, gelang es den Verantwortlichen im Verlagshaus in Striesen einiges gegen und mit der Kulturbürokratie durchzusetzen, was heute auf dem angeblich freien Markt undenkbar wäre. So beschreibt der letzte Kulturminister der DDR, Herbert Schirmer, in seinem Vorwort zu Gert Claußnitzers soeben erschienenen Erinnerungsband „Gesichter und Zeiten“, wie die Lektoren des Verlags in den siebziger Jahren eine kritische Betrachtung zur Kunst des Nationalsozialismus ins Auge fassten, die sich allerdings nie realisieren ließ. (Noch heute sind wir da nicht viel weiter gekommen, einmal von den spärlichen Versuchen Bazon Brocks in den 90er Jahren abgesehen.)
Zur Paradoxie der DDR gehörte es, dass kaum glaubliche Abweichungen toleriert wurden, während Bagatellen zu Fallstricken werden konnten. So geschehen, als nach dem Prager Frühling der Cheflektor Ehrhard Frommhold abgesetzt und von seiner Partei gemaßregelt wurde. Der 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden, ZK-Mitglied Werner Krolikowski, beliebte damals vom „Krebsgeschwür Verlag der Kunst“ zu reden, welches ausgebrannt werden müsse. Was den Betonköpfen damals nicht gelungen ist, dass erledigte sich zwanzig Jahre später wie von selbst. Die Freiheit war gewonnen, wie der Einfluss verronnen. Immerhin existiert der Verlag noch als Imprint der Husum-Gruppe. Von den wichtigen Protagonisten der großen Zeit sind unterdessen fast alle verstorben; Cheflektor Erhard Frommhold im Jahr 2007, im Jahr darauf der Chefredakteur der Bildabteilung und Initiator der eikon-Presse Rudolf Mayer und 2013 der künstlerische und technische Leiter Horst Schuster.
Gert Claußnitzer war als Lektor von 1959 und bis 1991 dabei. Er gab 1961 als 26jähriger seinen Einstand mit einem grafischen Bändchen der Zwinger-Bücher über den Dresdner Expressionisten Peter August Böckstiegel. Als er sein Kunstgeschichtsstudium in Leipzig beendet hatte, musste er zunächst die Wahl treffen zwischen einem Engagement als Schauspieler am Theater Putbus und der Anstellung im Verlag der Kunst. Zwei Fotos von 1958 zeigen ihn in einer Aufführung von Georg Büchners „Leonce und Lena“ durch die Germanistenbühne der Uni.
Das Buch ist ein Dokument aus einer fernen Zeit, die ganz anders war als heute, wo sich einander völlig unbekannte Kulturvolontäre mit einer projektbezogenen Innigkeit herzen, die sich nach getaner Arbeit so total auflöst, dass man sich schon ein halbes Jahr nach dem letzten Rechenschaftsbericht einander wieder neu vorstellen lassen muss. Claußnitzers zugewandte Art versicherte ihn der lebenslangen Freundschaft der vom ihm geschätzten Künstler und Autoren. Auf diese Weise blieb er mit der Künstlerwitwe Hanna Böckstiegel ebenso verbunden wie mit Curt Querner, über den er 1979 in der Reihe „Welt der Kunst“ die erste Monografie veröffentlichte, dem Wiener Maler Georg Eisler, Sohn des Komponisten Hanns Eisler, sowie dem 1904 geborenen jugoslawischen Schriftsteller Oto Bihalji-Merin, der in den frühen 30er Jahren einer der Redakteure der Zeitschrift des Bundes der proletarisch-revolutionären Schriftsteller „Die Linkskurve“ war und den Claußnitzer als „väterlichen Freund“ bezeichnet. In dem schönen Bildband tritt die Person des Autors einen Schritt hinter die Künstler und Kollegen zurück und gerade durch diese innere Vornehmheit wird das Naturell Gert Claußnitzers umso deutlicher sichtbar. Er sucht und findet in seinem Gegenüber die Resonanz für die eigene musische Konditionierung. Kunst ist für ihn kein Thema sondern eine notwendige Bedingung seines Daseins. Im privaten Gespräch beklagt er zuweilen und sehr zu Recht die hektische Unverbindlichkeit, die sich nach 1989 hierzulande in Künstlerkreisen verbreitete. Dem Buch hält er solche Misstöne fern. „Erfüllte Zeit. Die Rätsel meines Lebens“ ist das erste Kapitel überschrieben. Die Familie des 1935 in Dortmund geborenen verschlägt es von 1936-1939 nach Schwarzenberg im Erzgebirge. Die daran anschließenden vier Jahre werden in Radebeul verbracht. Dann leben die Claußnitzers bis zur Ausweisung im Jahr 1946 in Hadersdorf-Weidlingen im Wienerwald, der Naturheimat der Kindertage, in die es ihn bis heute immer wieder zieht. Nach einem schwäbischen Intermezzo wird ab 1949 abermals Radebeul zur Heimat. Sie wohnen auf der Wichernstraße. Zu den Schulkameraden im Luisenstift zählen Claus Weidensdorfer und der Bruder des Komponisten Siegfried Kurz. Im Mittelpunkt des Erinnerungsbandes stehen die Freundschaften und Begegnungen mit Künstlern und Autoren. Erstaunlich, wie wenig langweilig solche Erinnerungen auch ohne despektierlichen Tratsch zu lesen sind. Neben Betrachtungen über die Klassiker der Moderne wie Munch, Picasso, Rodin, Soutine, Klimt und Schiele finden sich hierzulande weniger bekannte Künstler aus Kroatien (Hegeduši?), Serbien (Raši?), Ungarn (Derkovits, Kunt), Bulgarien (Bojadshiew, Sachariew) Weißrussen (Bjalynitzki-Birulja, Kupala, Saborow). Die Autorenfreunde komplettieren eine marginalisierte osteuropäische Internationale der Kunstwissenschaft mit dem vorgenannten Bihalji-Merin, dem Slowaken Tomaš Štraus und den Russen Michail W. Alpatow, Dmitri Lichatschow und Wiktor N. Lasarew. Selbstverständlich sind die Dresdner Maler Querner, Tröger, Jüchser, Fraaß und Rudolph vertreten und die Radebeuler beinahe überdurchschnittlich mit Claus Weidensdorfer, Bärbel Kuntsche, Werner Wittig und Fred Walther. Die großzügige Typografie und vielen farbigen Reproduktionen machen dem Verlag der Kunst alle Ehre.
Sebastian Hennig
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Gert Claußnitzer: Gesichter und Zeiten. Autobiografische Betrachtungen eines Lektors aus dem Verlag der Kunst Dresden, Hrsg. von Thomas Walther, 224 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, gebunden, Verlag der Kunst Dresden 2021, ISBN 978-3-86530-263-2, Euro 34,95