Radebeuler Miniaturen

Wesentliches im Advent

Ein milder Frühwintertag (oder besser: ein kühler Spätsommer): Solche Dezember gab es ja früher schon, auch vor dem Klimawandel, die wollten einfach nicht kalt werden. So sitzen wir in der Sonne beim „Kaffee“, und Ulrike sagt so ganz ohne Vorwarnung, es ist Advent.

Ich weiß, sag ich, da kommt was auf uns zu.

Eben, sagt Ulrike, und genau das will ich mit dir besprechen. (Oh, denk ich, jetzt wird’s ernst.) Weißt du, sagt Ulrike, ich denke, es wird langsam Zeit für uns, die Botschaft ernst zu nehmen und uns aufs Wesentliche zu beschränken.

Aha, die Botschaft des Schlesischen Engels, werfe ich unvorsichtig ein.

Ulrike wird unwillig: Red kein Blech dazwischen!

Was heißt hier Blech?! „Mensch werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“ Angelus Silesius – Du siehst, ich war ganz nah am Thema.

Ich meine, antwortet Ulrike etwas stiller, wir sollten die Gunst der Stunde nutzen, uns beschränken und auf alles verzichten, was wir nicht brauchen. Genau das wird seit zweitausend Jahren von uns erwartet.

Na, sag ich, dann bestelle nur schon mal zwei Container, einen davon für deine Schuhe – aber das sage ich dir: meine Bücher sind wesentlich, und zwar alle! Und ich sehe mir auch jeden Tag alle an!

Aber Ulrike ist schon aufgesprungen. Hier sagt sie, ist der Stapelplatz, hier stellst du alles ab, was du rausträgst, hier wird der Containerplatz, da werfe ich alles hin, was wegkann, und hier steht dann das, was du wieder reintragen darfst. Also los gehts: Was du tun mußt, tu bald!

Keine Osterzitate zu Weihnachten rufe ich noch, aber dann beginne ich zu laufen, bis mir der Schweiß in Strömen und heiß von der Stirne läuft, ganz wie der Dichter es von mir erwartet.

Zimmer für Zimmer räume ich leer, fege alle Ecken aus (manche von ihnen kichern, weil sie das seit zwanzig und mehr Jahren nicht mehr erlebt haben), trage, was vor Ulrikes Augen Gnade findet, wieder hinein (räume heimlich auch den Containerplatz wieder leer „kann man alles noch gebrauchen!“), und am Ende des Tages steht alles wieder an seinem Platz. Erstaunlich, was wir alles gefunden haben: Marmelade von 1988, selbst eingekocht damals noch, vorwendlichen Kirschsaft, selbst gepreßt und noch für trinkbar befunden, stapelweise selbstgemalte Bilder von den Kindern, die sich immer wieder als hohes Gut erweisen, in verstaubten Brettern Astlochgesichter, die auf keinen Fall verbrannt werden dürfen (hier ist es Ulrike, die bremst). Und wie ich mir schon mein Feierabendbier aufmache, sagt Ulrike plötzlich, wieso ist eigentlich der Containerplatz leer?

Kaum hat sies gesprochen, schwimmt sie auch schon in Tränen: die ganze Arbeit umsonst!! Ich denke, ich kriege endlich mal Luft in diesem Haus und was machst du?!

Ich nehme sie sanft in den Arm. Nichts ist umsonst, sage ich leise, alles ist sauber, alles ist neu. Und siehs mal so: Ich bin einfach noch nicht reif fürs Himmelreich …

Und wie sie sich noch verstohlen die Tränen aus den Augen wischt, kräht irgendwo ein Hahn. Dreimal.

Thomas Gerlach

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