Kultiger Musicalknaller mit ein bisschen Grusel

Zur Premiere der „Rocky Horror Show“ am 12. Juni

Karen Müller, Merlin Fagel, Lutz van der Horst Foto: Pawel Sosnowski

Als gleich zu Beginn lustvoll mit Reis geworfen wurde, die Wasserspritzpistolen aus den Fanbags (werden für 8,50€ im Foyer verkauft) hervorgekramt waren und hemmungslos zum Einsatz kamen, sich das Publikum lachend und johlend die mitgelieferte Zeitung zwecks Nässeschutz über den Kopf hielt, da war man schon mittendrin in der Party, auf die sich der Großteil der Zuschauer gut vorbereitet hatte. Doch was heißt hier: „Zuschauer“? Es wurde ja nicht nur zugeschaut, sondern auch zugerufen, zugejubelt, mitgetanzt, mitgesungen. Denn wer sich an diesem sonnigen Frühsommerabend zur jüngsten Musiktheaterpremiere der Landesbühnen Sachsen im Alten Schlachthof Dresden aufgemacht hatte, gehörte nicht zum traditionell graumelierten Stammpublikum des Radebeuler Hauses, das aus guten Gründen (siehe oben) seinen behaglich-gediegenen großen Saal lieber nicht der „Rocky Horror Show“ überlassen wollte. Womit wir beim Thema sind: Mit dieser eigentlich schon für 2020 geplanten Produktion unter Federführung des scheidenden Operndirektors Sebastian Ritschel (Regie, Lichtkonzept und Ausstattung), die aus bekannten Gründen in diese Spielzeit verschoben werden musste, greifen die Landesbühnen weit hinaus in die Mitte der Gesellschaft. Wohl selten sieht man ein so diverses Publikum versammelt, wobei „divers“ tatsächlich in jeder Hinsicht stimmen könnte. Denn wenn es ein Merkmal dieses Kultmusicals gibt, dann jenes, dass es sich klassischen Zuschreibungen, Kategorisierungen und Definitionen entzieht und entsprechend anschlussfähig für alle und alles ist, was sich Mensch nennt und offen ist für einen wilden Stilmix. Und also sieht man in den Zuschauerreihen neben einigen Normalos eben auch muskelbepackte, gleichwohl geschminkte Männer in Lederstrapsen und High Heels, androgyne Erscheinungen in eleganter Robe und Frauen, die auffällig mit Geschlechterkonventionen brechen. Erlaubt ist, was Spaß macht. Manche feiern damit freilich nur ab und spielen für zweieinhalb Stunden mit einer anderen Identität á la Cosplay. Einige wenige sind jedoch an diesem Abend wirklich ganz sie selbst, und das ist gut so, um es mit einem bekannten ehemaligen Berliner Politiker zu sagen.

Ensemble Landesbühnen Sachsen Foto: Pawel Sosnowski

Die eigentliche Handlung der „Rocky Horror Show“ ist recht dünn, wenig plausibel und also auch nicht wirklich der Nacherzählung wert, zumal sie nachgelesen werden kann. Dies mag ein Grund dafür sein, dass sich manch ein Musiktheaterfreund wenig für dieses Stück erwärmen kann, weil es die Suche nach Sinn vordergründig weitgehend ins Leere laufen lässt. Selbst der neuseeländische Autor und Komponist Richard O’Brien gestand ein, dass ihn der seit 50 Jahren anhaltende Erfolg von „Rocky“ überrascht und er sich freuen würde, wenn ihm jemand einmal erklären könne, worum es überhaupt geht. Ganz so ernst sollte man das freilich auch nicht nehmen, denn natürlich stehen hinter all dem Klamauk, Trivialen und erotisch Aufgeladenen auch große Fragen der Menschheit: Was ist Sünde und wie geht man mit ihr um? Wo sind die Grenzen des wissenschaftlich Machbaren? Was ist der Preis der Freiheit? Diese Fragen werden in den Songs verhandelt, die allerdings stets auf Englisch gesungen werden und für die meisten Besucher leider unverstanden bleiben. Interessanter ist also, was die jeweiligen Theater aus der Herausforderung machen, sich dieses Stoffes anzunehmen. Zeitgleich mit den Landesbühnen gibt es z.B. auch eine Open-Air-Show in Senftenberg und eine andere Produktion, die quer durch die Republik tourt. Sebastian Ritschel und sein Team hatten sich dazu entschlossen, die anspruchsvollen Gesangspartien und Choreografien weitgehend mit Gästen zu besetzen. Das Ergebnis lässt sich hören und sehen: Merlin Fargel und Karen Müller als das frisch verheiratete junge Paar Brad und Janet, Jan Rekeszus als Frank N‘ Furter, Martin Mulders (Riff Raff) und Romina Markmann (Platzanweiserin/Columbia) sowie Andrew Chadwick als Kunstwesen Rocky überzeugen durchweg mit klarer Diktion, sicherer Stimmführung, starker Präsenz und nuanciertem Spiel. Gut investiertes Geld, sozusagen. Keineswegs weniger souverän präsentieren sich aber auch Julia Harneit (Platzanweiserin/ Magenta) und Michael Berndt-Cananá als Eddie und Dr. Scott, beide am Radebeuler Haus engagiert, letzterer ja sogar in der Schauspielsparte. Die vier Tänzerinnen und Tänzer (im Stück „Phantoms“ genannt) setzen die von Gabriel Pitoni erdachte Choreografie meisterhaft um. Auch sie sind als Gäste in die Inszenierung eingebunden. Warum Ritschel überwiegend mit Gästen arbeitet, erschließt sich neben künstlerischen Erwägungen auch aus dem Spielplan: Am 24. Juni feierte die „Westside Story“ in Rathen Premiere, überdies haben aktuell auch schon die Proben zum „Fliegenden Holländer“ begonnen, was weitere hauseigene Kräfte des Musiktheaters bindet. Bliebe noch die Figur des Erzählers, der den Abend eröffnet und die Zuschauer durch die Handlung geleitet, denn ohne einen charmant-charismatischen Erzähler, der selbstverständlich vom Publikum fortlaufend unterbrochen und gestört wird („Langweilig“ –„Boring“ – „Sexy!“! etc.), wäre die Horror Show nicht was sie ist. Natürlich ist es ein Coup, mit Lutz van der Horst einen deutschlandweit bekannten Comedy-Autor und Moderator, seines Zeichens auch eines der Gesichter der im ZDF mit Erfolg laufenden „heute-show“, für eine Mitwirkung zu gewinnen. Aber: Hätte das Stück an Qualität eingebüßt, wenn einer der etablierten Kollegen des Schauspiel-Ensembles wenigstens diese Rolle hätte übernommen dürfen? Ein Stück weit sollten, ja müssen sich die Landesbühnen auch als regional verankertes Stadttheater verstehen, schließlich finanziert die Stadt Radebeul die Einrichtung seit 2012 mit einem sechsstelligen Betrag pro Jahr. Fakt ist nämlich, dass die Identifikation mit dem Haus umso höher und nachhaltiger ist, je häufiger man den Darstellern auch in anderen Produktionen begegnet. Das dürfte im vorliegenden Fall also so gut wie nicht der Fall sein.

Karen Müller, Merlin Fargel Foto: Pawel Sosnowski

Das Stück wäre nur die Hälfte wert ohne eine funktionierende Band, die die schmissigen Rock ’n‘ Roll Hymnen (z.B. „Wild and untamed thing“) ebenso beherrscht wie die balladesken Stücke („Once in a while“ u.a.). Gut, dass die Landesbühnen sich da auf Uwe Zimmermann und seine Band (Amadeus Boyde, Alexander Fuchs, Claas Lausen, Jörg Kandl und Christian Stoltz) verlassen können. Bühnentechnisch raffiniert ist sie hinter einer mittigen Wand verborgen, die das Publikum als Toilette mit vier anzüglich geformten Pissoirs wahrnimmt. Nicht minder den guten Geschmack bewusst verletzen vier auf jeder Bühnenseite paarweise angeordnete und lasziv ausgeformte weibliche Hinteransichten, die vor allem als Nebelmaschinen aktiv in das Geschehen hineinwirken, aber auch zu gar nicht so beiläufigen Berührungen einladen. Überhaupt die Bühne: Sie kommt als eine farblich und stofflich leicht überdrehte Spielwiese daher, lediglich die rechts und links angebrachten Fenster verweisen klar auf das unheimliche Schloss des Frank N‘ Furter, in dem die Handlung angesiedelt ist. Wenn es im gut gemachten, gleichwohl recht schmalen Programmheft heißt, dass es Sebastian Ritschel um eine zeitgemäße Ästhetik zu tun war, so ist zu konstatieren, dass seine „Horror Show“ zum Großteil pure Show ist und dabei sogar ein dezentes politisches Signal setzt: Rockys Slip umspielt das Allermännlichste in Regenbogenfarben. Ins Gruselkabinett hingegen wird nur sehr sparsam gegriffen, was angesichts dessen, was uns an wirklichem Horror in der Welt umgibt, eine gute Entscheidung gewesen ist. Nach etwa zweieinhalb Stunden und mehrminütigen Zugaben ergriff der Regisseur dann selbst noch einmal das Wort und dankte den vielen Mitwirkenden vor und hinter der Bühne, was das beglückte Publikum mit langem Beifall begleitete.
Bertram Kazmirowski
Noch einmal zu sehen am 1., 2. und 3. Juli jeweils 19.30 Uhr im Alten Schlachthof, Gothaer Straße 11, 01097 Dresden.

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