Schreibwerkstatt (5. Teil)

Essenauto, Ampelmädchen, Katzen und Füchse, Wolkenbilder

Mit dem Fahrrad komme ich als erstes an meinem alten Kindergarten und meiner alten Grundschule vorbei. In der Früh wuseln sehr viele Eltern mit ihren Kindern über die Straße. Es wird geredet, geweint, gelacht. Ich muss auf der Hälfte der Straße immer anhalten, damit das Essenauto mit dem großen Spiegelei darauf in die Einfahrt des Kindergartens einlenken kann. Das Spiegelei sieht nicht lecker aus. Irgendwie künstlich. Wenn ich mich aber an das Essen im Kindergarten erinnere, habe ich immer aufgegessen. Ob es heute noch dieselben Gerichte gibt? Ich glaube, niemand würde die Krautnudeln dort vermissen.
An der Ampel angekommen, drücke ich immer auf „Signal kommt”. Auf der anderen Seite wartet oft schon ein Mädchen, ebenfalls mit dem Fahrrad. Im Winter trägt sie eine rosafarbene Mütze. Es wird grün, ein kleines Gefühl der Erlösung nach dem Warten springt in mir auf. Unsere Wege schneiden sich für eine Sekunde, erst morgen werden wir uns erneut begegnen. Und obwohl ich sie jeden Tag sehe, kenne ich nicht ihren Namen. Manchmal stelle ich mir vor, wie sie ihre Mütze verliert, ich anhalte, um sie aufzuheben und ich letztendlich doch noch ihren Namen erfahre. Seitdem lächeln wir uns öfter an, grüßen uns oder halten den Daumen nach oben, um zu sagen, alles ist okay. Ich frage mich, ob wir Freunde wären, wenn wir unsere Namen kennen würden. Vielleicht mag sie auch keine Krautnudeln und empfindet die Ampelphase genauso kurz wie ich. Ich winke zu ihr hinüber und sie hält an. Wir stellen unsere Fahrräder an die Seite und sie erzählt mir von ihrem gestrigen Schultag und ihren Freunden. Das Ganze ist nun schon ein kleines Morgenritual geworden, was ich vermisse, wenn sie einmal nicht an der Ampel steht.

Vorbei an den Kleingärten und den Pferden, die zu jeder Jahreszeit draußen auf der Wiese neben dem Feld stehen, von dem ich nicht weiß, was dort eigentlich angebaut wird, führt mich mein Weg weiter in Richtung der freiwilligen Feuerwehr. Hier treffe ich häufiger auf Katzen, aber nie auf dieselbe, so als würden jeden Tag neue dazustoßen. Wem diese Katzen wohl gehören? Vielleicht einer alten Frau, die gleich fünf von ihnen adoptiert hat und sie nun ein bisschen zu gut füttert und laut über die ganze Straße ihre Namen ruft, wenn sie einmal nicht pünktlich zum Essen erscheinen. Abends sitzen sie dann, wie eine kleine Familie, in einem Kreis um den Sessel der Frau, in dem sie zum Schlagerabendprogramm einen neuen Schal für ihren Enkel strickt.
Dem Mädchen von der Ampel ist auch die Menge an Katzen aufgefallen, die dort herumgeistern. Ihre Vermutung liegt bei einem geheimen Katzentreff.
Auch heute läuft mir ein Tier über den Weg. Es ist allerdings, zu meiner großen Überraschung, ein Fuchs. Er hat keine Angst vor mir und meinem klapprigen, lauten Fahrrad in hellblau. Er setzt sich einfach an den Rand des Fußwegs und schaut mich mit seinen großen bernsteinfarbenen Augen an, leckt sich die Pfote, so als würde er darauf warten, dass ich gleich ein Gespräch mit ihm anfange. Weiß er, was ich in diesem Moment denke? Weiß er, dass ich ein wenig Respekt vor ihm habe? Ich hoffe, er hat die Katzen nicht verscheucht.
Wenn ich dann die Feuerwehr und das THW hinter mir gelassen habe, aus der Einfahrt habe ich übrigens noch ein Feuerwehrauto rauschen gesehen, überquere ich auch schon die nächste große Straße und muss schließlich am Zebrastreifen der Grundschule halt machen. Die Kinder strecken immer einen Arm heraus, um anzuzeigen, dass sie über die Straße gehen wollen und laufen erst los, wenn sie sich sicher sind, dass ich auch wirklich anhalte. Sie alle tragen die gelben Kappen des ADAC. Der Fußweg, den ich manchmal auch schiebend passiere, weil ich schon einmal eine dieser braunen Biomülltonnen angefahren habe, führt mich schließlich zur Kreuzung.
Hier gibt es das „Vu“, einen tollen Vietnamesen, bei dem ich öfters schon mit meiner Oma die Glasnudeln mit Gemüsepfanne ausprobiert habe.
Ich nehme den Fußweg Richtung Gradsteg. Früher war hier einmal ein Eisladen, wo ich als Kind öfters eine Kugel mitnehmen durfte und sie später auf dem Spielplatz nebenan genießen konnte. Hier gab es auch immer das beste Karussell von allen, unter der Kastanie, zumindest glaube ich, dass es ein Kastanienbaum war. Das Karussell war so schnell, dass man aufpassen musste, nicht herauszufallen.
Ich biege auf den Gottesacker ab, wo sich auf der rechten Seite der Friedhof entlang streckt. Auf der anderen Seite steht ein Haus, was ich besonders einladend finde. Es ist gelb angestrichen und hat petrolgrüne Fensterläden. Das Gelb ist aber nicht quietschend, laut oder aggressiv. Es ist fröhlich, gemütlich und ein kleiner Farbtupfer zwischendrin.
Die Müllcontainer kommen mir entgegen und ich fahre auf den neu gemachten, asphaltierten Teil der Straße. Links sind Bäume gepflanzt, die allerdings noch eine stützende Hilfe brauchen und auf der anderen Seite von viel höheren Laternen zu einer kleinen Allee ergänzt werden.
Früh am Morgen ist das das beste Stück des Wegs. Wenn die Sonne gerade aufgeht, erlebt man hier die motivierendsten Farben und ich fahre mitten in sie hinein. Entweder sind sie tiefrot und orange oder sie verschleiern sich mit den Wolkenbildern zu beruhigenden Pastellfarben. Sie zeigen eine andere Welt entfernt in meiner Phantasie, leicht, kraftvoll und unendlich weit. Sie geben mir Hoffnung auf einen weiteren Tag, an dem die Sonne aufgeht. Einen weiteren Tag, an dem ich dazulernen kann und ich über mich hinauswachse. Falls ich mit dem falschen Fuß aufgestanden bin, verbessern sie meine Gemütslage. Und wenn ich aufgeregt bin, weil ich in wenigen Minuten eine wichtige Klausur schreibe oder eine Präsentation vorstellen muss, dann beruhigt mich dieser Himmel.
Das Feld macht einem Platz, um auf der rechten Seite die Berge von der anderen Elbseite und auf der linken Seite die Weinberge mitsamt dem Spitzhaus zu sehen. Jeden Tag überholt mich hier die S-Bahn aufs Neue. Ich werde niemals schneller sein als sie. Die Abteile leuchten blau auf, und dann verschwinden sie in einem Wolkenbild in der Form eines Fuchses.
Ich bremse schließlich, steige ab und hebe das Fahrrad die kleine Stufe des Hintereingangs hoch. Meistens habe ich noch große Auswahl bei den Fahrradständern.

Helene Protze
Klasse 12 – Lößnitzgymnasium Radebeul

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