Woyzeck und Marie, Harold und Maude – und wir

Zwei sehr unterschiedliche Theaterstücke hatten Premiere an den Landesbühnen

»Harold und Maude«, Szenenfoto mit Anke Teickner und Felix Lydicke
Bild: R. Jentzsch


Das Spielzeitmotto der Landesbühnen „Unser aller Blut ist rot“ benennt auf den ersten Blick lediglich einen banalen Fakt. Auf den zweiten Blick kann es als Botschaft gedeutet werden: Ganz egal, um welche menschlichen Schicksale es (in) einer Aufführung auch gehen mag, die Figuren auf der Bühne und das Publikum haben etwas Wesentliches gemeinsam, weshalb in guten Stücken immer auch Facetten unserer Existenz mitverhandelt werden. Denn gute Stoffe sind zeitlos. Dies trifft auch auf einen noch immer (oder wieder?) verstörenden Text wie Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ (1836/37) zu. Nachdem dieses Stück 2007 im großen Saal unter Regie von Jost-Ingolf Kittel letztmalig zur Aufführung gekommen war, entschloss sich Schauspieldirektor Peter Kube dazu, seinen „Woyzeck“ als intimes, den Zuschauern buchstäblich zu Leibe rückendes Kammerspiel auf der Studiobühne zu inszenieren. Dadurch wird es fast unmöglich, sich dem Schicksal von Franz Woyzeck (Johannes Krobbach) und seiner Marie (Maria Sommer) zu entziehen und legt sich die beklemmende Atmosphäre nach und nach wie Nebelschwaden auf und vor die Bühne (Tom Böhm). Franz Woyzeck wird durch den Doktor (Moritz Gabriel) gedemütigt, durch den Hauptmann (Alexander Wulke) verlacht, vom Tambourmajor (Grian Duisberg) als Liebhaber ausgestochen. Wie sollte man da als Mann nicht an sich und der Welt irr werden, noch dazu, wenn das Geld immer knapp ist und Frau und Kind auf einen warten? Johannes Krobbach legt seinen Woyzeck so an, wie man ihn sich als Oberstufenschüler nach der Lektüre wohl vorstellt (in der Premiere war mutmaßlich ein Deutsch-Leistungskurs zugegen, schließlich ist Büchners Stück seit letztem Jahr Pflichtstoff in der Abiturstufe): schäbig gekleidet, zu arm um beschuht zu sein, ständig von Unruhe getrieben. Marie dagegen ist in Kubes Deutung von ganz anderem Kaliber. In ein attraktives rotes (!) Kleid gehüllt spielt sie ihre Anmut und Körperlichkeit sehr bewusst aus und scheint somit gar nicht zu ihrem Franz zu passen. Immerhin aber sind Franz und Marie die beiden Figuren, die ganz und gar als Mensch angelegt sind. Doktor und Hauptmann, Major und Margreth (Sophie Lüpfert), selbst Andres (Maximilian Bendl) und natürlich der Narr (Michael Berndt-Cananá) geraten – auch durch ihre Kostümierung (ebenfalls durch Tom Böhm verantwortet) – mitunter zu Karikaturen, die ihre Rollen unvermittelt drastisch überzeichnen und allein (Andres, Doktor, Hauptmann) oder im Ensemble groteske Szenen abliefern (z.B. auf dem Jahrmarkt). Die Komik, die in diesen Momenten entsteht, verleitet zwar spontan zum Lachen, doch erstickt dieses im nächsten Moment, wenn man einen Blick auf den Woyzeck wirft und sieht, wie er sich derweil in einer Ecke krümmt, sich vor anderen erniedrigt, nach und nach dem Wahn verfällt und sich von Stimmen einflüstern lässt seine Marie töten zu müssen. Die Szene, in der Woyzeck Marie das Messer in den Rücken sticht, ist von berührender Zärtlichkeit und Innigkeit und liefert insgeheim die Begründung dafür, dass Woyzeck ganz zum Schluss mit Blick auf die Leute, die ihn am See suchen, sagt: „Woyzeck ein Mörder? Schaut doch euch an!“ Kubes Woyzeck ist eben kein Mörder aus Eifersucht, sondern ein Mörder aus Not und Verzweiflung, mit dem man mitfühlt. Die Bühne, welche zunächst als eine von Schilf umschlossene Spielfläche gestaltet wird, entpuppt sich nach und nach als eine variabel verschiebbare und damit unterschiedliche räumliche Konstellationen ermöglichende Anordnung.

»Woyzeck«, Szenenfoto mit Maria Sommer und Johannes Krobbach
Bild: L. Böhme


Einen augenfälligen Beleg dafür, wie im Leben einer Schauspielerin mit dem Fortschreiten der Jahre auch die Rollen wechseln (müssen), liefert die Besetzung von Anke Teickner als bald 80-jährige Maude in der Bühnenfassung des gleichnamigen Erfolgsfilmes „Harold und Maude“ aus dem Jahr 1971. Im „Woyzeck“ von 2007 war sie an der Seite von Michael Heuser noch die Marie gewesen, also eine mutmaßlich junge Frau mit kleinem Kind. In Sandra Maria Huimanns sehr sehenswerter erster Regiearbeit für den großen Saal des Stammhauses tritt Teickner nun als gereifte Aktrice auf und spielt sich mit zunehmender Dauer immer mehr in die Rolle der Maude hinein. Diese ist, das macht die Inszenierung sehr deutlich, kein Charakter, der aus dem wirklichen Leben stammen könnte, sondern sie fungiert vielmehr als Projektionsfläche für die ja zumeist unerfüllt bleibende Sehnsucht vieler Erwachsener, doch auch einmal anders sein zu können oder zu dürfen als man ist. Maude ist unangepasst (eignet sich fremdes Eigentum an), schert sich nicht um Konventionen und Gesetze (stört in der Kirche und nutzt fremde Autos) und wäre, hätte man sie als Nachbarin, eine anstrengende Gesellschaft, trotz oder gerade wegen ihrer altersweisen Schrulligkeit. Anders sieht das mit ihrem männlichen Gegenüber aus, dem 19-jährigen Harold Chasen. Aufgewachsen in einem glattgebügelten und porentief rein gehaltenen Wohlstandskäfig leidet er an Selbsthass und Sozialphobie und hält ausschließlich über digitale Medien Kontakt zur Außenwelt, die er an seinen inszenierten Selbstmordversuchen (mit reichlich Kunstblut) teilhaben lässt. Felix Lydike ist eine ideale Besetzung für diese Rolle und gibt ihr ein sehr heutiges, lebensnahes Gesicht. Wer kennt nicht die jungen, konsumgesättigten männlichen Erwachsenen und deren schlurfenden, spannungsfreien Gang, ihren zwischen Coolness und Unsicherheit changierenden Null-Ausdruck und ihre indifferente Haltung zur Wirklichkeit? Daran verzweifelt auch seine Mutter Mrs. Chasen (die fabelhafte Julia Rani scheint sich in ihrer Rolle als vermögende Lifestyle-Mum pudelwohl zu fühlen), die ihrem Sohn gern eine Freundin verschaffen möchte. Tammy Girke hat große, mit Szenenapplaus bedachte Momente in ihren drei Auftritten als die geparshippten oder getinderten Sylvie, Nancy und Sunshine, ebenso wie Julia Vincze in ihren vielen Rollen als Inspektor, Friedhofsgärtnerin und vor allem als Hausangestellte bei Mrs. Chasen. Etwas weniger wirkungsvoll agiert Matthias Avemarg als Pater Finnegan, Dr. Mathews und General. Nicht umsonst heißt das Stück übrigens „Harold und Maude“, und man sollte nicht annehmen, umgekehrt würde es auch stimmig sein. Harold braucht die Maude, nicht die Maude den Harold. Denn es wird ja die Geschichte einer Emanzipation erzählt, Harolds Emanzipation und Selbstwerdung. Weg von der fürsorglichen Pflichtliebe der einen Frau hin zur bedingungslosen Liebe der anderen. Auf geschickte Weise verdeutlichen Videoeinspiele, die links und rechts auf die Bühne (Ralph Zeger) projiziert werden, diese Entwicklung. Vor der Pause sind sie düster und zeigen Anleitungen dazu, blutrünstige Suizide vorzutäuschen. Nach der Pause sind es plötzlich Blumen in Nahaufnahmen, Selfies mit Maude, auch Naturdarstellungen. Alles in allem grandios in ihrer Funktionalität ist diese Bühne, weil sie viele bildkräftige Momente ermöglicht: Die Wohnung der Chasens als steril gekachelte Welt, auf der sich Blutspuren so schön schaurig ausnehmen; Maudes Refugium mit eigenem Aktbild und Plüschvulva; schließlich die einstürzende Wand mit angedeuteter Staubwolke, die sich ins Publikum fortsetzt. Die Reihe gelungener Einfälle ließe sich fortsetzen.

Beide Aufführungen, so unterschiedlich sie auch sind, wurden mit langanhaltendem Applaus bedacht. Beide Stücke werden in den Wintermonaten noch mehrfach aufgeführt und lohnen den Besuch. Und beide bedienen auf ganz eigene Weise das Spielzeitmotto. Schließlich ist unser aller Blut rot.

Bertram Kazmirowski

Nächste Aufführungen von „Harold und Maude“: 2., 9. und 16. Dezember; 1. Januar.; nächste Aufführungen „Woyzeck“: 6. Dezember, 6. Januar, 8. März.

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