Chorgesang als Friedenswerk

Foto: B. Kazmirowski

Die Kantorei des Kirchspiels in der Lößnitz führte das Weihnachtsoratorium auf

I. Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die TageIn den letzten Jahren wurde zu unterschiedlichen Anlässen, meist aus dem Erleben einer Krise heraus, der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ beschworen, wurde durch die Politik proklamiert, dass wir als Gesellschaft „beieinander“ bleiben müssten. Was damit konkret gemeint war, wurde oft nicht ganz klar, aber meist ging es im Allgemeinen um das Einhalten von Regeln oder die Annahme, wir alle müssten bestimmte politische Entscheidungen mittragen. Erahnen konnte man hinter der politischen Rhetorik immer den richtigen Gedanken, wie wichtig gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Vorhaben, Prozesse und Projekte für uns Menschen sind. Ein in diesem Zusammenhang sicherlich noch nicht oft genug gewürdigter gesellschaftlicher Stützpfeiler sind die Chöre landauf, landab. Wenn sie mitgliederstark genug sind – etwa von der Größe der seit kurzem vereinigten Kantoreien aus den beiden Radebeuler Gemeinden Luther und Frieden – dann bekommt man eine sehr genaue Anschauung dessen, was mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt alltagspraktisch gemeint ist. Denn da stehen am 11. Dezember 2022 zur überhaupt ersten gemeinsamen Aufführung des Bachschen Weihnachtsoratoriums mehr als 80 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, von der Schülerin bis zum betagten Senior, die aus ganz unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen kommen und die sehr verschiedene Gesangsbiografien haben, die sich aber dennoch hinter einem Vorhaben versammeln, dem gemeinsamen Singen. Die über Monate andauernde Probenarbeit schweißt zusammen, das mitunter über Jahre und Jahrzehnte wachsende Mit- und Nebeneinander als Sopran, Altistin, Tenor und Bass schafft Beziehungen. Wer miteinander singt, kann nicht miteinander streiten. Singen ist Ausdruck von geteilter Lebensfreude und geschenktem Lebensfrieden. Es gibt Chormitglieder, die schauen auf 50 und mehr gemeinsame Jahre zurück!

Lutherkirche Radebeul Foto: B. Kazmirowski

II. Großer Herr, und starker König
Am 3. Adventssonntag, der passenderweise auch „Gaudete“ (Freut euch“) genannt wird, konnte man erleben, wie die Radebeuler nach drei Jahren coronabedingter Durststrecke die Aufführung der ersten drei Kantaten des wohlvertrauten Werkes herbeisehnten, und wie dieses Ereignis das Gefühl von Gemeinschaft noch einmal potenzierte. Denn in der fast vollbesetzten Lutherkirche tummelten sich Zuhörer aller Altersgruppen (gleichwohl das Publikum 50+ die Mehrheit bildete), evangelische und katholische Christen wie Konfessionslose. Pfarrerin Funke wies in ihrer Begrüßung darauf hin, dass es in der Lutherkirche eine mittlerweile 130-jährige kirchenmusikalische Tradition gebe, in der natürlich auch das Weihnachtsoratorium einen zentralen Platz einnimmt. Je nach Lebensalter und Vertrautheit mit dem Werk hört sicherlich jeder das WO anders, hat jeder seine spezielle Lieblingsarie oder seinen Lieblingschoral. Ich habe dieses Mal, ob zufällig oder nicht, besonders herausgehört, wie das Weihnachtsoratorium ein Friedenswerk ist, eine in Musik gesetzte Sehnsucht nach Frieden: „Du Hirtenvolk/erschrecke nicht/weil dir die Engel sagen/dass dieses schwache Knäbelein/[…] soll letztlich Friede bringen.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden“. Um es auf den Punkt zu bringen: Schon lange nicht mehr konnte man das Weihnachtsoratorium so auf die aktuelle Weltlage beziehen wie in diesem Dezember, hätte das von Pfarrerin Funke auf der Kanzel für alle sichtbar platzierte Friedenslicht aus der Geburtsgrotte in Bethlehem (über den Weg von Wien und Dresden nach Radebeul gekommen) größere Strahlkraft verdient. Aber würde es von denen wahrgenommen, die den Krieg und das Leid unserer Tage zu verantworten haben? Wären die Macht- und Befehlshaber dieser Welt bereit, die biblische Friedensbotschaft anzunehmen? Würden deren Herzen angerührt und erweicht werden angesichts der wunderbaren Musik? Ich fürchte nein. Und dennoch darf man nicht müde werden, Jahr um Jahr dieses Werk und das, wofür es steht, in die Welt hinaus zu singen, so, wie es in der Radebeuler Aufführung unter Leitung von KMD Peter Kubath die vier Solisten (Daniela Haase, Edith-Maria Breuer, Tobias Mäthger und Reinhold Schreyer-Morlock) und der Chor begleitet von einem Kammerorchester mit Können und Engagement taten.

III. Herrscher des Himmels
Langanhaltender, herzlicher Beifall spendete das Publikum, nachdem der letzte Ton verklungen war, und auf vielen Gesichtern von Choristen zeigte sich ein glückliches Lächeln, entspannten sich die Züge. Anders aber als in der Vergangenheit war es Besuchern und Mitwirkenden nicht vergönnt, mit dem Konzerterlebnis im Herzen hinaus auf einen Weihnachtsmarkt wie den in Altkötzschenbroda zu gehen und den 3. Advent stimmungsvoll ausklingen zu lassen – noch dazu, wo es am Abend des 11. Dezembers ja leicht schneite und sich die Welt in einem zarten Weiß zeigte. Wie schön wäre das gewesen! Man hatte sich aus nachvollziehbaren Gründen entschieden, wie auch schon zum Buß- und Bettag den „Messias“ nun auch das WO in der Lutherkirche stattfinden zu lassen, denn aufgrund der schieren Größe des gewachsenen Chores wäre der Altarraum der Friedenskirche zu klein für diese Aufführung gewesen. Andererseits bitte ich die Verantwortlichen für Kirchenmusik im Kirchspiel zu überlegen: Was spräche denn gegen zwei Aufführungen des Weihnachtsoratoriums an zwei Adventswochenenden, eine in Radebeul-Ost und eine in West mit jeweils ca. 50 Sängerinnen und Sängern? Sicherlich müsste man die Stimmgruppen so ausbalancieren, dass etwa die traditionell schwächer besetzten Tenöre und Bässe zweimal gefordert wären. Andererseits würden zwei Aufführungen auch den Probenaufwand besser rechtfertigen und die jahrhundertelange Tradition der Friedenskirche als die bedeutendste Stätte hiesiger Sakralmusik fortsetzen. Ich bin mir sicher, dass die Radebeuler und die Menschen des Umlandes (wozu ja auch z.B. Coswig, Weinböhla und Moritzburg) zwei Kirchen füllen würden, denn sonst bliebe nur der Weg nach Meißen oder Dresden. Sehr zu loben ist allerdings die nun schon seit Jahren immer wieder erneuerte Regelung, Kindern und Jugendlichen freien Eintritt zu gewähren. Nur müsste dies mit mehr Selbstbewusstsein und auf diversen Vermittlungswegen sichtbarer kommuniziert werden, damit die Zielgruppe auch tatsächlich kommt!
Wer in den bevorstehenden Festtagen und nach Neujahr weihnachtliche Musik in Radebeul hören möchte, dem seien drei Aufführungen empfohlen: Am Heiligabend um 22 Uhr in der Lutherkirche eine Mischung aus Liedern zum Hören und Mitsingen; am 1. Weihnachtstag um 10 Uhr in der Friedenskirche ein Weihnachtsliedersingen mit dem Posaunenchor und am 7.1.23, 17 Uhr, eine musikalische Vesper in der Lutherkirche.

Bertram Kazmirowski

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