Ein Opernklassiker neu entdeckt

Der aktuelle „Don Giovanni“ an den Landesbühnen bricht gekonnt mit der Tradition

Inszenierungsfoto | mit: Michael König, Franziska Abram, Doheon Kim, Yuliya Pogrebnyak, Marie-Audrey Schatz, Dustin Drosdziok (v.l.) und Paul Gukhoe Song (vorn liegend), Foto: C. Beier

Die Landesbühnen Sachsen als Mehrspartentheater sehen sich, anders als die auf eine bestimmte künstlerische Form spezialisierten Theater, Musiktheater und Orchester, vor die Herausforderung gestellt, aus dem gewaltigen Repertoire jene Stücke auszuwählen, die unter den Bedingungen vor Ort (und auf Reisen) überhaupt möglich sind. Diese Aussage ist keineswegs so trivial, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Nicht ohne Grund kommt kein Operndirektor auf die Idee, Wagner-Opern in Radebeul aufzuführen oder mutet sich Bruckner-Sinfonien zu, denn für Teile des Repertoires sind Bühne und Orchestergraben im Radebeuler Stammhaus schlichtweg viel zu klein. Anders sieht es dagegen mit dem Sprechtheater aus: Mir fällt kein kanonisches Werk ein, dass sich nicht entweder im Großen Saal oder auf der Studiobühne umsetzen ließe. Insofern ist die Spielplangestaltung nicht nur künstlerischen und personellen Ressourcen unterworfen, sondern auch räumlich-technischen. Die Landesbühnen in Gestalt von Operndirektion und Intendanz machen seit jeher aus diesen Umständen das Beste, indem sie im Bereich des Musiktheaters diejenigen Stücke auswählen, die zu Ensemble und Elblandphilharmonie passen – und davon gibt es zum Glück eine ganze Menge! Ein besonders glückliches Händchen hat die seit dieser Spielzeit wirkende neue Operndirektorin Kai Anne Schuhmacher dabei mit der Wahl von Mozarts „Don Giovanni“ gehabt, deren Inszenierung sie selbst verantwortete und am 21. Januar als ihre insgesamt zweite Regiearbeit dieser Spielzeit zur Aufführung brachte. In „Don Giovanni“, den die Regisseurin selbst als den „bekanntesten Außenseiter der Operngeschichte“ bezeichnet, wird durch das Libretto von Lorenzo da Ponte ein bereits seit dem Barock in der europäischen Literatur- und Kunstgeschichte stetigen Wandlungen und Erweiterungen unterworfenes Sujet verarbeitet, welches durch die geniale Musik Mozarts eine im wahrsten Sinne des Wortes bis dato un-erhörte Ausdruckskraft gewann. Die Rezeptions- und Aufführungsgeschichte seit der Prager Premiere von 1787 ist kaum zu überschauen, weshalb es mutig ist, dass Kai Anne Schuhmacher einen ganz frischen Blick auf dieses zweiaktige Werk wirft. Denn allzu leicht erliegt man ja der Versuchung, ausgetretene Pfade noch ein bisschen breiter zu machen, womit man sich auf der sicheren Seite wähnt und die Erwartungen des tendenziell konservativen Opernpublikums in der Regel bedient. In der aktuellen Radebeuler Fassung jedoch werden die Zuschauer mit einer vom (Lebens-) Ende her gedachten Interpretation konfrontiert und nehmen an einer Art Lebensbeichte teil, die der altgewordene Don Giovanni (Michael König) sich selbst ableistet. Nur, dass ihm die Absolution versagt bleibt – denn wer sollte sie ihm auch spenden? Die von ihm verführten, verlassenen und betrogenen Frauen? Sie wären vielleicht dazu noch gewillt, würde es nur um sie selbst gehen, denn der junge Don (Johannes Wollrab) ist ja eine reizvolle und galante Gestalt. In einem (w)irren Erinnerungsrausch tauchen vor dem inneren Auge des alten Don all die Figuren aus dem Früher wieder auf und treten in (s)ein halluziniertes Jetzt, wie Anna (Yulia Pogrebniak) und Don Ottavio (Dustin Drosdziok), Elvira (Mary-Audrey Schatz), Zerlina (Franziska Abram) und Massetto (Do-Heon Kim), um nur die wichtigsten zu nennen. Aber Don Giovanni ist eben nicht nur Schwerenöter, sondern auch ein skrupelloser Mörder. Der Mord an Donna Annas Vater liegt wie ein Fluch über seinem Leben. Durch immer dreistere Lügen und Ausreden versucht sich Don Giovanni der Verantwortung gegenüber sich selbst und der Welt zu entziehen, was ihm aber schließlich nicht mehr gelingt. Da hilft auch nicht sein Diener Leporello (Paul Gukhoe Song), der die Affären seines Herrn nolens volens mitträgt. Auf diese neue Lesart muss man sich erst einmal einlassen, weshalb die Pausengespräche am Premierenabend sich auch darum drehten, ob das denn noch die Oper sei, die man zu kennen glaubte. Kai Anne Schuhmachers Inszenierungsidee mit der doppelt besetzten zentralen Figur funktioniert mit der Zeit erstaunlich gut. Nur am Anfang ist es etwas gewöhnungsbedürftig, den alten und den jungen Don Giovanni gemeinsam auf der Bühne zu sehen, ohne dass der alte Mann mit irgendeiner Figur sichtbar interagiert. Er ist, um ein Sprichwort wörtlich zu nehmen, der Schatten seines Selbst.
Die Regie verlegt die zeitlose Handlung – man denke sich statt des barocken Don Juan/Giovanni einfach skandalös-skrupellose Männer der jüngeren Zeitgeschichte wie Harvey Weinstein oder noch ein paar Jahre früher Dominique Strauss-Kahn – in eine unbestimmte Moderne. Modern genug aber für Fahrstuhl und Leuchtreklame in einer Pension, die vom alten Giovanni und seinem lahm gewordenen Diener geführt wird (Ausstattung: Lisa Däßler). Zwar mag es traditionsbewussten Opernfreunden schwer fallen, sich diese Handlung ohne klischeegeschwängerte Ästhetik vorzustellen, aber dafür entschädigt allemal die unsterbliche Musik. Die Elblandphilharmonie unter Ekkehard Klemm begleitet die Akteure mit einem schlanken Orchestersound, der den Erfordernissen einer originär für die Bühne komponierten Musik ebenso gerecht wird wie sie den Gesangssolisten stets stimmliche Entfaltungsräume eröffnet. Viel Schönes ist in italienischer Sprache zu vernehmen, wobei am Premierenabend vor allem Yulia Pogrebniak, Paul Gukhoe Song und Johannes Wollrab aus einem insgesamt sehr gut aufgelegten Ensemble noch herausragten. Für die Zuschauer angenehm ist die eingeblendete Übersetzung in Deutsch, wodurch der gelegentlich durchscheinende sprachliche Witz erfahrbar wird, etwa in der bekannten Registerarie des Leporello, in der er die Eroberungen seines Herrn in verschiedenen Ländern genüsslich aufzählt.
Am Ende des dreieinhalbstündigen Abends gab es langen und begeisterten Beifall des Publikums für alle Akteure. Im März wird diese gelungene Inszenierung insgesamt vier Mal im Radebeuler Haus gezeigt. Eine eindeutige Besuchsempfehlung gleichermaßen für alle Kenner dieser Oper, die sich einer neuen Lesart öffnen wollen, aber ebenso auch für jene, die „Don Giovanni“ bislang noch nicht auf einer Bühne erlebt haben und sich davon überzeugen (lassen) wollen, dass man klassische Opern stimmig als eine heutige Geschichte erzählen kann.
Bertram Kazmirowski
Nächste Aufführungen: 3.März 20 Uhr,  5. März 15 Uhr, 11. März 19.30 Uhr, 31. März 19.30 Uhr

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