Rapünzchen, Rapunzel oder Feldsalat

Foto P. A. Schmidt

Die Gattung Rapünzchen, auch Rapunzel, Feld- oder Ackersalat und wissenschaftlich Valerianella genannt, umfasst fast 30 Arten, die von West- über Mitteleuropa und das Mittelmeergebiet bis Nordafrika und Westasien verbreitet sind. In Deutschland kommen 6, in Sachsen 4 Arten vor, wobei ihr Verbreitungsgebiet teilweise durch Aktivitäten des Menschen seit der jüngeren Steinzeit ausgedehnt wurde. Die Arten sind in Wuchs, Blatt und Blüte ähnlich, die Zuordnung zu einer der Arten ist nur möglich, wenn reife Früchte vorliegen. Valerianella ist eine Verkleinerungsform von Valeriana und weist auf die Verwandtschaft zu dieser Gattung, den Baldrianen, hin. Getrocknete Pflanzen verströmen ähnlich wie Baldrian durch Gehalt an Isovaleriansäure einen etwas unangenehmen Geruch. Rapünzchen und Baldrian wurden früher auch einer Familie, den Baldriangewächsen (Valerianaceae), zugeordnet. Diese wird aber auf der Basis neuerer Erkenntnisse molekulargenetischer Forschung in die heute weiter gefasste Familie Geißblattgewächse (Caprifoliaceae) eingeschlossen.
Im vorliegenden Beitrag geht es nicht um die gesamte Gattung Valerianella, sondern deren in unserem Gebiet häufigste Art, das Gewöhnliche Rapünzchen (V. locusta), vielen bekannt und auch kultiviert als Feldsalat. Wenn man es nicht weiß, wird man diese im April bis Mai an lückigen Wegrändern, an Ackerrändern, in Trockenrasen oder Weinbergen blühenden und danach absterbenden Pflanzen kaum als zu einer Art gehörig mit den auf Feldern oder in Gärten kultivierten, im Handel als Wintersalat angebotenen Pflanzen betrachten. Dem wollen wir nachgehen.
Das von Europa bis Kleinasien heimische Gewöhnliche Rapünzchen ist eine einjährige, meist einjährig-überwinternde, 5–20 cm hohe Pflanze mit einer grundständigen Blattrosette und gabelig verzweigtem Stängel, dem längliche bis lanzettliche Blätter ansitzen. Die nur bis 2 mm langen Blüten sind in kleinen Trugdolden angeordnet. Die Kronblätter sind bis auf den 5-zipfeligen Saum verwachsen, blasslila oder hellblau bis weißlich. Die Bestäubung kann durch Insekten (Käfer, Zweiflügler, Bienen, Schmetterlinge) erfolgen, es überwiegt jedoch Selbstbestäubung. Die Früchte sind kleine rundliche, kurz zugespitzte Nüsse, 2-4 mm lang. Sie reifen im Juni und Juli, ihre Ausbreitung erfolgt durch die Medien Wasser (Regenschwemmlinge) und Luft (Ballonflieger), aber auch durch den Menschen, wenn die Pflanzen als Kulturbegleiter, -relikt oder -flüchtling auftreten.

Zeichnung einer blühenden Pflanze des gewöhnlichen Rapünzchens oder Feldsalat, Zeichnung: E.H.L. Krause,

Die Blattrosetten der wildwachsenden Pflanzen wurden und werden teils noch heute als Salat gesammelt. Wahrscheinlich seit dem 16. Jahrhundert wurden in Mitteleuropa Pflanzen in Kultur genommen, um sie als Wintersalat zu nutzen. Ein gezielter Anbau erfolgte erst im 20. Jahrhundert, besonders in Europa, teils auch in den USA oder sogar höheren Lagen (sub)tropischer Breiten. Die Pflanzen haben keine spezifischen Ansprüche an Klima und Boden, jedoch sind milde Winter günstig, da jederzeit eine Ernte möglich ist. Nach Aussaat im August und September können die Blätter der jungen Blattrosetten von November bis April geerntet werden. Die im erwerbsmäßigen Gemüsebau und in Privatgärten kultivierten Pflanzen stellen meist großblättrige Auslesen dar, vor allem deutsche, französische und holländische Züchtungen, die für das Freiland oder für den Anbau unter Glas oder Folie verwendet werden. Diese Kulturformen können zusammenfassend als Varietät var. oleracea bezeichnet werden. Man kann am Beispiel des Gewöhnlichen Rapünzchens also gut verfolgen, wie aus Wildpflanzen Kulturpflanzen entstanden.
Wegen der kurzen Entwicklungszeit und hohen Frostbeständigkeit wird der Rapünzchen-Salat als wertvolle wohlschmeckende Rohkost vom Spätherbst bis zum zeitigen Frühjahr geschätzt. Dieser Wintersalat ist für die Ernährung wertvoll, da er mineralstoffreich (Eisen) und vitaminreich (Provitamin A, Vitamin B und C) ist und ätherische Öle enthält. Wenn sich die Pflanzen dann im April zum Blühen anschicken, werden sie für den Speisezettel wertlos.
Was hat nun der Feldsalat mit Rapunzel zu tun? Wenn es auch Vorgänger des Märchens gab, so ist Rapunzel vor allem durch die Märchensammlung der Brüder Grimm bekannt geworden. Man kann die Mutter der schönen Rapunzel mit den langen Zöpfen schon verstehen, wenn sie Gelüste auf Rapünzchen hegte, war doch vermutlich diese Pflanze in der Winterzeit das einzige frische, essbare Grün weit und breit. Seien es nun schwangerschaftsbedingter Heißhunger oder der Appetit der werdenden Mutter gewesen, der Mann stahl für seine Frau Salatblätter aus dem Garten einer Zauberin. Dabei wurde er ertappt und musste der Zauberin sein Kind versprechen. Diese gab dem Mädchen den Namen Rapunzel und sperrte es später in einen Turm ohne jegliche Tür. Man konnte zu ihr nur gelangen, wenn sie die langen Zöpfe herunterließ. Die weitere Geschichte ist aus Grimms Märchen oder einem der Filme, die das Märchen aufgriffen, sicher allen bestens bekannt.
Es bleibt allerdings offen, ob mit den Salatblättern wirklich Blätter des Rapünzchens oder Feldsalats (Valerianella locusta) gemeint waren, denn die Rosettenblätter der Rapunzel-Glockenblume (Campanula rapunculus), auch Echte Rapunzel genannt, dienten auch als Wintersalat und wurden ebenso sowohl von wildwachsenden als auch im Garten kultivierten Pflanzen geerntet. Bei der Rapunzel-Glockenblume fanden nicht nur die Blätter Verwendung, sondern ebenso die fleischig verdickten Wurzeln, die ein schmackhaftes Wurzelgemüse ergeben. Auf die Wurzel dieser Glockenblume geht eigentlich der Pflanzenname Rapunzel zurück, denn das lateinische Artbeiwort „rapunculus“ bedeutet „kleine Wurzel“. Da sowohl die Rosettenblätter der Glockenblume als auch die des oben beschriebenen Feldsalats im Winter als Salat geerntet wurden, lässt sich wohl erklären, dass der Name Rapünzchen oder Rapunzel auch für den Feldsalat Anwendung fand und bis heute findet.
Peter A. Schmidt


Prof. Dr. Schmidt, Ehrenpräsident der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft e.V.

Abbildung
Abb. 1 Blühende Pflanze des Gewöhnlichen Rapünzchens oder Feldsalats (Quelle: E.H.L. Krause, 1904: Sturms Flora von Deutschland Bd. 12. Stuttgart)

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