Weihnachtsgeschichte

Diesmal

Der Abend brach herein, und sie hockten sich wie immer ans Feuer.
Sie sprachen wenig diesmal; längst war alles gesagt. Jahr für Jahr
hatten sie sich diese Geschichte von dem Engel erzählt und von dem
Kind in der Krippe und von den Träumen und den Hoffnungen, die sie
daran geknüpft hatten. Das Leuchten des Himmels hatten sie
beschworen, den Trompetenschall von oben herab und den Gesang.
Enttäuschungen hatten die Hoffnung klein gemacht über die Jahre,
aber grad an diesem Abend war die alte Geschichte so lebendig in
ihren Köpfen, daß sie auch nichts anderes reden mochten. So saßen sie
stumm und starrten in die Flammen. Manchmal stand einer auf,
schürte das Feuer oder warf neues Holz in die Glut. Da flogen Funken,
und aufflammend wurde es einen Moment lang hell zwischen ihnen.
Plötzlich klang eine Stimme aus der Finsternis: fürchtet euch nicht –
siehe, ich verkünde euch große Freude.

Sie sprangen auf und starrten in die Dunkelheit, dorthin, wo die
Stimme hergeklungen war. Aber da war kein Licht und kein Schall –
nur tiefer werdende Finsternis. Da redeten sie alle durcheinander.
Einer mußte sie zum Narren gehalten haben. Flüche wurden laut,
Verwünschungen. Von Unverschämtheit war die Rede, sich über ihren
Rest an Hoffnung auch noch lustig zu machen.
Einer aber packte sein Bündel und ging. Wer weiß, sagte er, vielleicht
ist ja doch was dran…

Sie sahen ihm nach, und sie sahen am dunklen Horizont drei Reiter
ziehen unterm leeren Himmel. Sie wurden so still, wie sie es vor dem
gewesen. Sie warfen noch einmal Holz aufs Feuer und streckten sich
zur Ruhe. Am Morgen hörten sie den einen zurückkehren. Sie sahen
ihn seine frostigen Finger über der Glut bewegen und sie hörten ihn
die Worte sagen: Diesmal – diesmal könnte es gut ausgehn, es ist ein
Mädchen…

Thomas Gerlach

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Ein Kommentar

  1. Hermann Müller
    Veröffentlicht am Mo, 10. Dez. 2012 um 13:06 | Permanenter Link

    Verehrter Thomas Gerlach!
    Was für eine schöne Geschichte! Welchen Verlauf
    hätte unser Christentum wohl genommen wenn…-
    ja wenn der sich am Feuer wärmende Mann richtig
    gesehen hätte. Ihre kleine Erzählung gibt Anlass, darüber nachzudenken. Danke und Ihnen
    eine schöne Weihnachtszeit.
    Herzlich H. Müller
    10.Dezember 2012

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