Balance-Akt
Ein Geduldsspiel
Auf dem Weg zur Lesung schnell noch etwas trinken…
Während ich auf meinem Hocker vor dem ersten Schluck gebührend die Schaumkrone feiere, sagt Ulrike neben mir, sie habe die Kälte unterschätzt. Ich habe aber alles mit, sagt sie, nimmt ihren Rucksack und verschwindet mit den Worten, bin gleich zurück.
Na, was Frauen so unter „gleich“ verstehen…
Jedenfalls hab ich jetzt Zeit, in Ruhe noch einmal den Leseplan zu überdenken, an zwei Stellen die Reihenfolge zu ändern, ein paar neue Zeilen einfließen zu lassen, alles gründlich in Frage zu stellen und dann doch zu beschließen, daß es gut ist, – in kleiner werdenden Schlucken das Bier auszutrinken, noch ein „kleines“ zu bestellen, ihm freudig entgegen zu sehen, und unendlich viel Geduld aufzubringen.
Aber da kommt sie auch SCHON mit einem strahlenden Lachen im Gesicht.
War gar nicht so einfach, sagt sie in mein mißbilligendes Lächeln hinein, du mußt dir das bildlich vorstellen: Auf einem Bein stehend, den anderen Schuh ausziehen dann das Hosenbein abstreifen, ohne es auf den Fußboden fallen zu lassen, dann mit der dritten Hand die Strumpfhose übern Fuß ziehen, dabei den richtigen Fuß erwischen, die Hose wieder drüberziehen und in den Schuh steigen. So – und dann das Ganze mit dem anderen Bein noch einmal. Ich hätte mich ja nicht sehen wollen.
Viel konnte nicht passieren, sag ich, noch immer etwas gequält lachend, die Boxen sind so eng, daß du nicht weit hättest fallen können.
Ach du, sagt sie enttäuscht, wenn du schon nicht lachen kannst, könntest du wenigstens meine Balance -Akte bewundern …
Ich bewundere dich zutiefst, sag ich. Vor allem aber bedaure ich – und zwar zum ersten Mal – daß versteckte Kameras auf Damentoiletten verboten sind – wenns auch nicht viel Akt war, mit der Balance-Nummer hätte es endlich wirklich mal was zum Lachen gegeben in den so-schalen Medschen …
Thomas Gerlach