Weißes Roß – Geschichten aus der Kindheit – (Teil 11/12)

Hinweis der Redaktion: Sicher warten viele Leserinnen und Leser bereits auf die Fortsetzung unserer 12-teiligen Serie. Über ein Dreivierteljahr gelang uns die Veröffentlichung passend zu jedem Monat. Aus redaktionellen Gründen war es uns in den letzten Monaten aber leider nicht möglich. Nun der langersehnte Anschluss:

Der Juni

Als Geschäftsleute war es meinen Eltern schlecht möglich, mit uns Kindern zu verreisen. So wurden wir von Oma und zumeist von Tante Emma mitgenommen. Es war am Anfang meines Erinnerungsvermögens, als Oma und Tante Emma mit mir in den Tharanter Wald nach Spechtshausen reisten. Ich hatte ein weißes Wahlkleidchen an (sehr dünner Stoff), das mir die gute Wo mit Kränzeln aus Stickblumen – damals Sammelobjekte in Zigarettenschachteln – verziert hatte. Als es abends zu Bett gehen sollte, war ich nicht zu bewegen, das Kleid auszuziehen und schrie die ganze Pension zusammen. Als Oma und Tante Emma die Geduld ausging, ließen sie mich in dem Kleidchen schlafen. Ich sehe mich heute noch früh in dem Gitterbettchen stehen mit dem total zerknautschten Kleid, das wie ein Lappen an mir herunterhing. Da habe ich mich zum ersten Mal in meinem kleinen Leben tief geschämt. Das hat sich mir eingeprägt. Erinnern kann ich mich auch noch an ein kleines Hexenhaus dort am Waldrand, wahrscheinlich war es ein Kiosk, denn es wurde Milch ausgeschenkt und wir pilgerten jeden Tag dorthin.

Gastwirt Kurt Stiller mit »Maikätzchen«, Foto: Archiv C. Grün

Christa Stiller im Hof vom Weißen Roß, Foto: Archiv C. Grün

Die kleinen Maikätzchen waren Anfang Juni so weit gediehen, dass wir mit ihnen spielen konnten. Geboren waren sie auf dem Heu- oder Garagenboden, versteckt von ihren Müttern und kamen erst zum Vorschein, als sie nicht mehr gesäugt wurden. Die nicht vergeben werden konnten, verkrümelten sich meist von selber. Wurden sie gleich gefunden, musste Vater Petzold sie töten. Zwei wurden aber immer belassen. Streunende Katzen gab es sehr selten, meistens waren sie zu Hause und waren nur auf Raunze, wie man bei uns so schön sagt, unterwegs. Die schwarz-weißen Katzen waren meine besonderen Lieblinge, warum weiß ich auch nicht mehr zu sagen. Große Freude kam auf, als einmal eine Dreifarbige darunter war. Diese bringen Glück, sagten die Leute. Ganz ruhige Kätzchen wurden in dem Puppenwagen herumgefahren, bis sie es satt hatten.
In unserer Kindheit gab es noch viele Mai- und Junikäfer, die kleiner waren. Bei den Maikäfern gab es Schornsteinfeger und Müller mit schwarzen und weißen Pelzchen, und wir tauschten eifrig aus. Noch heute heute fühle ich das feste Klammern der gezackten Beinchen an meinen Fingern. Wir entließen sie aber immer wieder aus den mit frischen Blättern ausgestatteten Einweckgläsern in die Freiheit. Wissentlich haben wir kein Tier gequält, sie waren unsere Spielgefährten und gehörten einfach zu unserem täglichen Leben. Ob sich allerdings die Kohlweißlingsraupen bei uns sehr wohlgefühlt haben, bezweifle ich heute stark. Jedenfalls gaben sie, wenn sie im Blumenkohl oder Kohlrabi ihre Saison hatten, herrliche Besatzungen für unsere Sandburgen ab. Raupen, die immer wieder versuchten auszubüchsen, wurden in den Kerker gesteckt. Eng gesteckte Hölzchen verhinderten das Ausbrechen. Am Ende wurden die Hühner mit ihnen beglückt.
Vater hatte viel Sand für einen großen Sandkasten an der Laube anfahren lassen. Der Sandkasten war das Zentrum für uns im Garten. Er war so tief, dass wir im Sitzen unsere Beine bis über die Knie einbuddeln konnten. Dazu wurde mit der Gießkanne der Sand ordendlich nass gemacht, ein Loch gegraben, die Beine nass gemacht und der feuchte Sand ringsum festgeklopft. Es war ein herrlich prickelndes Gefühl. Dann wurde versucht, die Beine vorsichtig wieder hinauszuziehen, ohne dass die Röhren zusammenfielen. Uns fiel eben immer etwas ein.
Vom Sandkasten aus sah ich auch den ersten Heißluftballon meines Lebens, der in Richtung Kirche schwebte. Das waren damals elefantengraue runde Kugeln, nicht zu vergleichen mit einem heutigen bunten Ballon. Aber beeindruckt hat es mich schon bis heute.
Um die Laube herum, genannt nach Mutteln „Villa Maja“, spielte sich auch viel ab. Einmal saß ich friedlich mit meiner Puppe im Arm auf meinem Lieblingsplatz auf Großmutters Schoß. Was plötzlich in Wolfgang hineinfuhr, wird er heute auch nicht mehr sagen können. Jedenfalls riß er mir die Puppe weg, packte sie an den Beinen und schlug sie mit dem Porzellankopf auf die hellen Fliesen vor der Laubentür. Diese rohe Behandlung überstand der Kopf natürlich nicht. Nur ein Scherben ragte aus dem Hals heraus. Großmutter gelang es mich zu trösten, indem sie um den Scherbel, schon dass ich mich nicht verletzte, ein Taschentuch band und mir sagte, dass die Puppe nun krank sei und ins Bett gehörte. Wie Muttel erzählte, bin ich lange mit dem laweden Puppenkind im Puppenwagen herumkutschiert, ich konnte mich einfach nicht von ihm trennen. Zu Weihnachten bekam meine Puppe einen neuen Kopf.
Hin und wieder kamen Heyls Kinder Inge, Erika und Rosi mit ihren Puppenwagen angefahren und wir fuhren gemeinsam auf dem Hof umher. Wie ich mich noch besinnen kann, hatte Inge auch schon einen Sportwagen, Erika hatte ein weißes gängiges Kinderwagenmodell und Klein-Rosi schob eine altertümliche hochrädrige Karre vor sich her. Wir waren glückliche, zufriedene und auch friedfertige Kinder, behütet von verständnisvollen Eltern und Großeltern sowie von allen lieben Verwandten. Inges Lieblingstante war Tante Elly, meine die Tante Rosel. Es war immer wieder ein freudiges Ereignis, wenn die Tanten aus Dresden kamen. Allerdings hatten wir Stiller-Kinder leider keine Großväter, beide waren frühzeitig verstorben. Wir hätten aber gerne wenigstens einen Großvater gehabt und so ernannten wir Vater Damme vom Mühlweg, einen lieben Stammgast, zu unserem Großvater.
Das waren so die Erinnerungen der Kindheit im Juni.

Christa Stenzel/ Christian Grün

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