Zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“:

Aus dem Alltag an der ehemaligen EOS „Juri Gagarin“ Radebeul im Jahr 1990 (Teil 1)

1. Halbjahr 1990
Es waren unruhige Tage, Wochen, Monate. Der Wind des Wandels hatte spätestens seit Oktober 1989 auch durch die Gemäuer der Erweiterten Oberschule (EOS) „Juri Gagarin“ Radebeul geweht, und also fegte er mit unverhoffter Stärke und Geschwindigkeit gewohnte Abläufe im pädagogischen Regime, jahrzehntelang festgefügte organisatorische Strukturen und später dann auch einige deren prominentester Vertreter vor Ort hinweg. Jeder, der damals zur Schulgemeinschaft gehörte, wird sich an jeweils unterschiedliche Details erinnern, je nachdem, worin das eigene Leben konkret verstrickt war. Für uns Schülerinnen und Schüler stand der Aufbruch in eine zwar ungewisse, aber dennoch ungeahnte Möglichkeiten eröffnende Zukunft im Vordergrund. Für die beteiligten Lehrkräfte allerdings muss die Situation nicht nur persönlich schwierig gewesen sein, sondern vor allem auch institutionell. Es ging schließlich um die Frage, wie der Schulbetrieb aufrecht zu erhalten wäre in einem Land, dessen Gesetzgebung gar nicht schnell und verlässlich genug auf die sich unablässig ändernde politische Lage reagieren konnte. Erinnern wir uns: Als die Schüler der 11. und 12. Klassen – damals wurden jeweils vier Klassen in beiden Stufen an der Schule unterrichtet, im Ganzen ca. 160 junge Erwachsene – am 7.2.1990 ihre Halbjahreszeugnisse ausgeteilt bekamen, bestand formell die DDR noch und war die Regierung Modrow im Amt. Erst wenige Tag später, am 13.2.1990, wurde auf einer KSZE-Konferenz in Ottawa beschlossen, dass die sogenannten 2+4-Gespräche über die Zukunft des Status beider deutscher Staaten beginnen sollten – mit noch ungewissem Ausgang; erst am 18.3. sollten die ersten freien Wahlen in der DDR stattfinden. Von einer Wiedervereinigung wurde in jenen Winter- und Frühlingstagen zwar schon geträumt und gesprochen, aber sowohl die Wirtschafts- und Währungsunion war noch nicht absehbar (am 18.5. wurde ein diesbezüglicher Beschluss gefasst) als auch nicht die Gründung des Freistaates Sachsen (fand am 3.10.90 in Meißen statt). Die von der DDR-Zentralregierung in Berlin eilig erlassenen Übergangsregeln zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Land galten auch für das Bildungswesen, aber wie der Name schon sagt: Ein Übergang ist ein Prozess aus einem Daher zu einem Dahin. Diesen Prozess mussten die einzelnen Schulen, so gut es ging, mitvollziehen und mit Leben erfüllen. Etwas überspitzt gesagt könnte man sagen: Der pädagogische Alltag in der ersten Jahreshälfte 1990 fand in einem Niemandsland zwischen „nicht mehr gültig“ und „noch nicht eingeführt“ statt. Mir liegen Dokumente und Mitschriften aus einem Pädagogischen Rat vom 7.2. 1990 vor, die das am Beispiel der EOS Radebeul ganz konkret erfahrbar machen.
Direktor Dr. Glöckner hatte für den Nachmittag des letzten Schultages im 1. Halbjahr das Lehrerkollektiv – so nannte man es damals noch – in das Zimmer 11 des Hauptgebäudes (was damals das alleinige Schulgebäude der EOS war) eingeladen. Zentrales Dokument zur Beratung war der „Arbeitsplan für das 2. Schulhalbjahr“, worin es gleich zu Beginn heißt: „Die in den Umgestaltungsprozeß der Gesellschaft der DDR eingeschlossene Erneuerung der Schule bedarf in Übereinstimmung mit einem neuen Bildungsgesetz auch der Erarbeitung einer neuen Schulordnung.“ […] Ausgehend vom Gesetz zur Veränderung der Verfassung vom 1.12.1989 ist eine Entflechtung von Partei und Staat auch in der Schule, als einer staatlichen Einrichtung, erforderlich.“ Damit war das politische Spannungsfeld aufgemacht, in dem sich diese Zusammenkunft der Lehrer bewegt haben muss. Handschriftliche Aufzeichnungen einer Teilnehmerin künden von zum Teil noch ungelösten Fragen, die bestimmte Fächer und schulische Abläufe betrafen: Was würde an Stelle des zum Halbjahr auslaufenden Staatsbürgerkundeunterrichtes treten? Das Fach „Gesellschaftskunde“, wofür allerdings erst eine Konzeption erarbeitet werden muss. Wie soll mit den zuvor erteilten Noten in Staatsbürgerkunde verfahren werden? Sie werden in die Feststellung der Jahresnote mit eingehen. Wer sollte dieses neue Fach unterrichten? Grundsätzlich müsste es jede Lehrkraft können, aber der bisherige Staatsbürgerkundelehrer Dr. Babik sollte weitermachen dürfen. Womit könnten die erfahrungsgemäß zahlreichen Interessenten für ein Medizinstudium besser darauf vorbereitet werden? Mit einem fakultativ zu belegenden Latein-Unterricht, der für die Elftklässler ab dem 2. Halbjahr einmal wöchentlich angeboten werden würde. Wie könnte man das zwar allgemein hohe, aber besonders in den Naturwissenschaften und Mathematik doch heterogene Niveau und Interesse der Schüler auffangen? Durch die Bildung von sogenannten „Leistungsklassen“, was allerdings als Übergangslösung angesehen wurde.i Welche Bedeutung würde das Fach Russisch künftig haben? Ab dem 2. Halbjahr sollte Russisch mit weniger Stunden unterrichtet werden, was auch eine Reaktion auf die Abschaffung des Sonnabendunterrichts sein würde, wodurch sich eine Anpassung der Stundentafel ohnehin erforderlich machte. Was würde aus den „Freundschaftsbeziehungen zur 38. Oberschule in Moskau“ werden? Sie sollten vorerst „trotz schwieriger aktueller Bedingungen“ beibehalten werden. Sollte man Mädchen und Jungen im Sportunterricht trennen? Für die 11. Klasse wurde das zu dieser Konferenz so festgelegt, die 12er sollten die wenigen Wochen bis zum Abitur noch wie gewohnt gemeinsam weitermachen. Apropos Abitur 1990: Deutsch, Mathematik und eine Naturwissenschaft (Biologie, Chemie, Physik) wurden Ende April/Anfang Mai zu je 300min schriftlich geprüft, Russisch zu 90min.ii Noch ganz im DDR-Duktus gehalten sind weitere Hinweise, wonach „VMIiii-Leistungen durch Lehrer und Schüler im Zusammenwirken mit der Kommission ‚Materielle Belange‘ des Elternbeirates realisiert“ werden sollten; „[d]ie Produktionseinsätze für die 11. Klassen“ vom 18.6.-5.7. in Radebeuler Betrieben stattfinden und der „Klub ‚Junger Pädagogen‘ zielstrebig auf die Festigung der Berufsentscheidung der Schüler hinarbeitet“. Spannend ist, dass beim letzten Punkt das schreibmaschinengeschriebene Arbeitspapier eine handschriftliche Streichung aufweist, was auf eine Diskussion im Kollegium hinweist. Denn ursprünglich hieß es weiter, dass dieser „Klub“ mit seiner „Wirksamkeit auf das Schulkollektiv [ausstrahlt]“. Dieser Passus wurde dann getilgt, wohl in Einsicht dessen, dass Berufs- und Studienwahlentscheidungen in einem freien Land auch unbeeinflusst getroffen werden müssten. Aus heutiger Sicht unvorstellbar ist die Tatsache, dass die „Reinigung des Schulhauses […] durch Lehrer und Schüler vorerst noch zu sichern“ sei, wobei noch hinzugefügt wird, dass mit den Kollegen, „die eine Reinigung von Zimmern übernehmen“, darüber eine „Vereinbarung abgeschlossen [wird].“ Ein sehr dezenter Verweis auf die im Wandel begriffene Gesellschaftsordnung findet sich im Arbeitspapier unter dem Stichwort „Zur außerunterrichtlichen Arbeit“, wo zu lesen ist: „Notwendigkeit, Stellenwert und Inhalt der Wandzeitungen in der Schule sind zu prüfen.“ (Wer jemals „Wandzeitungsredakteur“, auch „Agitator“ genannt, an einer DDR-Schule war, weiß, worauf sich diese Aussage bezieht.) Schließlich wird aus den Mitschriften der Versammlung auch deutlich, dass die seit der Grenzöffnung mit der saarländischen Partnerstadt St. Ingbert eingegangenen freundschaftlichen Beziehungen recht intensiv waren: Musiklehrerin Weise hatte die Sitzung mit einer kurzen Vorstellung von Musik aus der Partnerstadt begonnen und am Ende wurde festgelegt, dass das Lehrerkollegium vom 16.-18. März eine Reise ins Saarland antreten würde. Bereits zuvor, im Dezember 1989, war eine Gruppe Schüler aus St. Ingbert zu Besuch an der Schule gewesen.
Vorstehende Einblicke mögen verdeutlichen, dass im Hintergrund vieles verhandelt und geregelt werden musste, wovon wir Schüler keine Vorstellung hatten. Im Nachhinein muss man den Pädagogen von damals Respekt dafür zollen, dass sie sich diesen Herausforderungen verantwortungsvoll gestellt hatten und das turbulenteste Schuljahr der deutschen Nachkriegsgeschichte einigermaßen geordnet zu Ende brachten.

Bertram Kazmirowski

(Schüler an der EOS 1989-91)

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