Über Fußwege in Radebeul…

Romantisches Motiv für Maler und Fotografen: Zwei alte Platanen in der Friedlandstraße
vor Haus Friedland (Bennostraße)

Ein Foto in der Sächsischen Zeitung vom 6. Januar 2022 löste bei mir am morgendlichen Frühstückstisch eine regelrechte Lachsalve aus. Es zeigt einen fast fertig sanierten Radebeuler Fußweg mit großzügig eingefassten Baumscheiben (Pflanzbereiche für Bäume), die – wie im Beitrag beschrieben – an einigen Stellen für Fußgänger bis zur Grundstücksmauer nur noch 80 cm Platz lassen! „Nein, nicht schon wieder“, dachte ich. „Das kann doch einfach nicht wahr sein!“ Eigentlich wollte ich über etwas ganz Anderes schreiben. Doch das muss nun warten.
Mein ambivalentes Verhältnis zu Radebeuler Fußwegen wurde bereits in frühen Kindertagen geprägt. „Diese verfluchten Sterzl!“, klingt es mir noch heute in den Ohren, wenn ich mit meiner Großmutter (1902–1975) die Moritzburger hoch oder runter marschierte. Die Strecke zwischen Straßenbahn und Brühlstraße (später Prof.-Wilhelm-Ring) mit dem Bus zu fahren, wäre uns nie in den Sinn gekommen. Am ehemaligen Gasthof „Heiterer Blick“ war ja schon mehr als die halbe Strecke geschafft. Außerdem wurde es hier noch einmal richtig interessant. Denn in unmittelbarer Nähe befanden sich auch eine Anschlagtafel mit den Kinoprogrammen, eine Telefonzelle, ein Bäcker, ein Schreib- und ein Gemischtwarenladen. Kastanienbäume säumten die Straße. Im Herbst fiel uns Kindern das kostenlose Bastelmaterial in Form von rotbraun glänzenden Kastanien praktisch vor die Füße. Die Wurzeln der alten Bäume machten die Fußwege zur Abenteuerstrecke. Alles ist jedoch eine Frage der Perspektive und es macht einen Unterschied, ob man am Anfang oder am Ende des Lebens steht.
Beim Kramen in Kisten und Kästen stieß ich auf ein fünf Jahrzehnte altes Schreiben meiner Großmutter, genauer gesagt vom 22.11.1972, welches sie an den Rat der Stadt Radebeul, Örtliche Versorgungswirtschaft, gerichtet hatte. Darin bedankt sie sich für die Reparatur von zwei „Lampen“ im Bereich Moritzburger Straße/Winzerstraße/Ecke „Heiterer Blick“, wo es vorher so dunkel war, dass die Bus- und PKW-Fahrer verunsichert die Geschwindigkeit herab- und die Scheinwerfer heraufschalteten. Darüber hinaus weist sie auf ein weiteres, noch zu lösendes Problem hin. Recht anschaulich schilderte sie den Zustand der Fußwege, und meinte, dass es bei Regenwetter keinen Spaß machen würde, durch die „Babbe“ zu waten. Sie bekundete ihr Verständnis für die Behörde, bemerkte aber, dass sie für eine baldige Einreihung in die Planung dankbar wäre. Sie entschuldigte sich höflich für ihre Offenheit und endete wie damals üblich „Mit sozialistischem Gruß“.

Wie wichtig für sie und für viele andere Menschen der Zustand des Fußweges war, hing auch damit zusammen, dass sie in den frühen Morgenstunden zur Arbeit hasteten und nur die wenigsten ein eigenes Auto besaßen. Sehr gut erinnere ich mich an zwei unermüdliche Einzelkämpfer, wie sie nach Feierabend und an Wochenenden die Fußwege der Moritzburger Straße Abschnitt für Abschnitt mit Gehwegplatten bestückten. Im Stadtarchiv werden sich bestimmt noch Berichte über diese VMI-Einsätze finden lassen (VMI Abkürzung für Volkswirtschaftliche Masseninitiative).

Gehweg im mittleren Teil der Bahnhofstraße
mit Pflanzbereichen, Fahrradständer,
Geschäftsauslage und Fußgängern

Urlaubsschnappschuss von einem Fußweg
mit begehbarer Baumscheibenabdeckung

Dabei war das alles noch recht harmlos im Vergleich zur Finstern Gasse oder zur steil ansteigenden Burgstraße, die zur damaligen Ausflugsgaststätte „Friedensburg“ führte. Die abfließenden Regen- und Schmelzwässer suchten sich dort ihre eigenen Wege und ließen die Gräben zwischen großen Steinen und Geröll immer tiefer werden. Das Verlegen von ein paar Gehwegplatten hätte hier keinen Effekt gebracht. Doch das ist Vergangenheit und was lange währt, das wird vielleicht besonders gut. Die grundhafte Instandsetzung der Finsteren Gasse hat mein Redaktionskollege Dietrich Lohse dann im Juniheft von 2016 sehr fachkundig beschrieben und auch gelobt.

Ob Mangelwirtschaft oder Überflussgesellschaft – Diskussionen über den Zustand der Fußwege in Radebeul werden wohl ein Dauerthema bleiben. Bedingt durch die zahlreichen und großzügig bemessenen Einzelgrundstücke ist das Straßen- und Wegenetz außerordentlich weitläufig. So ist es auch verständlich, dass nicht alle auftretenden Mängel allein durch die wenigen Mitarbeiter der Bauverwaltung erfasst werden können. In Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung dürfte doch ein unkompliziert zu handhabendes Meldesystem kein Problem sein. Von Vorteil wäre auch ein Bauhof, wo man ortstypische Materialien erhält, um schnell mal ein kleines Loch in Eigeninitiative zu füllen, bevor es zu Unfällen führt. Wenn alle mitwirken im Sinne des Gemeinwesens, wäre das ein erster Schritt.

Neulich habe ich nicht schlecht gestaunt, als plötzlich ein Kleintransporter vor unserem Grundstück stand und ein Mann damit begann, die abgesunkenen Bordsteine anzuheben und schließlich den Fußweg auf traditionelle Weise mit einem frischen Sand/Kies/Lehm-Belag versah. Das Ganze lief reichlich unkompliziert ab. Ein Hinweis per Mail ans Bauamt hatte genügt. Meiner Dankesmail folgte eine Mail aus dem Amt mit dem Dank für die positive Rückmeldung und Dank für den Dank. Wer hätte das gedacht, die Methode „Machen statt meckern“ und auch mal „Danke“ sagen, hat doch wunderbar funktioniert!

Kreise beginnen sich zu schließen. Nun, da ich selbst kurz vor meinem 70. Geburtstag stehe, gehöre ich inzwischen zu denen, die den Blick bewusst vor und unter die Füße richten, wenn ich mich ohne Auto durch die Stadt bewege. Sand- und Kieswege werden von mir bei längeren Spaziergängen favorisiert. In den städtischen Zentrumsbereichen sind es die glatten Beläge, welche ich den unebenen vorziehe. Bei groben Kopfsteinpflasterungen denke ich zwangsläufig an mittelalterliche Folterinstrumente.

Vieles hat sich in einem halben Jahrhundert verändert. Bäume mussten dem Straßenverkehr weichen. Obstbäume sind heutzutage ohnehin als Straßenbäume ein Tabu. Das ländliche Flair der Lößnitz wird zunehmend verdrängt durch eine austauschbare Funktionalität. So manches romantische Motiv, das Generationen von Malern begeisterte, kann man sich nur noch auf deren Bildern anschauen.

Als gesunde ausgewachsene Bäume im mittleren Bereich der Bahnhofstraße leichtfertig für eine Neuordnung der Stellplätze geopfert werden sollten, standen alle Zeichen auf Sturm. Der Kampf um den Erhalt der Schatten- und Sauerstoffspender hatte sich schließlich gelohnt. Allerdings wundere ich mich bis heute darüber, wie man in Zeiten gravierender klimatischer Veränderungen überhaupt auf solche absurden Ideen kommen kann.

Der instandgesetzte Augustusweg mit Baumscheiben für Neupflanzungen im Gehwegbereich

Die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen gerät in der Gemengelage unterschiedlicher Instanzen und Zuständigkeiten sowie im Dschungel von Vorschriften, Empfehlungen oder Kann-Bestimmungen mitunter aus dem Blick. Dass das Konfliktpotenzial im öffentlichen Straßenraum zugenommen hat, ist eine Tatsache. Dabei könnte alles so einfach sein, würde sich jeder an den Paragrafen 1 der Straßenverkehrsordnung halten. Grundregel (1): „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ Grundregel (2): „Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“

Nachträglich verkleinerte Pflanzbereiche auf der Gartenstraße

Die Realität sieht jedoch anders aus. So manches Problem hat sich von der Straße auf den Fußweg verlagert. Mehrfach habe ich erlebt, wie Radfahrer dort, von hinten kommend, rechts oder links in unfassbarem Tempo an mir vorbeigeschossen sind. In solchen Situationen schlägt meine Fantasie Purzelbäume und mein Herz beginnt wie wild zu klopfen bei dem Gedanken, was wohl passiert wäre, wenn ich im falschen Moment, eine falsche Bewegung gemacht hätte. Vielleicht sollte es auch eine Fahrerlaubnis für Radfahrer geben und jedwedes Gefährt, welches sich im öffentlichen Raum schneller als ein Fußgänger bewegt, sollte ein Kennzeichen erhalten.

Gefährlicher Gehwegabschnitt (Breite 40 cm)
mit Betonmast und Schaltkasten sowie
hohen Bordsteinen (Höhe 12,5 cm)
auf der neu sanierten Oberen Bergstraße

Der Seitenraum neben der Verkehrsfläche schließt nicht nur die Fußwege ein, sondern auch straßenbegleitende Park- und Grünflächen. Bei entsprechender Breite der verbleibenden Gehwege sind Misch- und Sondernutzungen möglich, was für Blinde und Sehbehinderte allerdings ein großes Problem darstellt. Abgesehen von Straßenlampen, Verkehrsleiteinrichtungen, Papierkörben, Hydranten, Elektrokästen, Mülltonnen, Pflanzkübeln, Fahrradständern, Pollern, Werbeschildern, Geschäftsauslagen und Außenbestuhlungen, sind oftmals wild abgestellte Fortbewegungsmittel wie Elektroscooter zu beachten. Selbst das Flanieren in Altkötzschenbroda setzt strategisches Denken voraus. Diese Strecke mit einem Kinderwagen, Rollator oder Rollstuhl zu testen, brächte zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Es ist schon ein wenig paradox, dort wo sich in Radebeul die wenigsten Fußgänger bewegen, sind die Fußwege am breitesten. Das betrifft sowohl die Kötzschenbrodaer, als auch die Meißner Straße. Bei letztgenannter muss ich mich jedoch korrigieren. Als neulich beim totalen Stromausfall keine Straßenbahnen fuhren, waren die Fußwege beidseitig sehr reich bevölkert. Vielleicht ist das Bauamt doch viel vorausschauender als die ewig nörgelnde Bürgerschaft vermutet und hat schon für wind- und sonnenarme Zeiten vorgesorgt.

Der breite Fußweg auf der Bahnhofstraße lädt zum Flanieren und Verweilen ein

Manche Fußwege gleichen einem Flickenteppich und andere wiederum konkurrieren farblich mit den Hausfassaden, statt deren zunehmende Intensität zu neutralisieren. Und manchmal verschmelzen die Fußwege gleich ganz mit dem modernistischen Ton in Ton von Zitronengelb über Hellkaramell bis Lößnitzocker. Doch die Natur bleibt davon unbeeindruckt. Sie setzt sich letztlich immer wieder durch. Im starken Kontrast zu den die „Sächsische Wegedecke“ imitierenden Betonsteinen verschafft sie sich, selbst in der schmalsten Fuge, die ihr gebührende Aufmerksamkeit.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Und allen Radebeulern recht getan, ist (eben) eine Kunst, die keiner kann. Aber vielleicht sollten neue Mittel und Methoden angewendet werden, um die Bürger stärker in die Gestaltung ihrer Stadt einzubinden. Und vielleicht sollte man sich auch einmal Beispiele in anderen Städten anschauen, wie das Problem mit den Baumscheiben künftig besser gelöst werden kann. Meine Großmutter, und da bin ich mir ziemlich sicher, würde staunen, wieviel sich in Radebeul zum Positiven verändert hat – und das, nicht nur auf der Moritzburger Straße. Wenn mein Artikel über Fußwege in Radebeul das Interesse an der Thematik geweckt haben sollte, würde mich das sehr freuen. Zahlreiche Fakten zur historischen Entwicklung von Wegen, Gassen und Straßen der Lößnitzstadt finden sich u. a. auch in älteren Beiträgen von Vorschau & Rückblick, in der Radebeuler Denkmaltopografie sowie im Radebeuler Stadtlexikon.

Karin (Gerhardt) Baum

Weitere Beiträge zur Fußwegproblematik in Vorschau & Rückblick:
Dietrich Lohse „Es tat sich was in der Finsteren Gasse“, Juni 2016
Dietrich Lohse „Eine etwas kritische Wegebetrachtung – oder wo unsere Fußwege zu verbessern wären“, November 2016
Dr. Ursula Martin „Mit dem Rollator durch Radebeul“, September 2021

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