Ergänzung zum Artikel „Beetziegel“ in V&R 08/23, S. 12-14

Nach Erscheinen des Artikels über ein Detail einer gartengestalterischen Modeerscheinung des 19. Jh. kamen zwei unabhängige Meldungen von ähnlichen Funden von Beetziegeln in Niederlößnitz herein. Über dieses Echo freut sich der Verfasser des Artikels natürlich – das Thema hat also die Leser interessiert. Weil sich durch diese Informationen (die erste erhielt ich als Anruf, die zweite in knapper Briefform) die gestalterische Vielfalt der Beetziegel dokumentieren lässt und weil sich dadurch auch neue Erkenntnisse ergeben, habe ich mich zu der Ergänzung entschlossen.

Foto: D. Lohse

Die erste Info zu einem weiteren Beetziegel erhielt ich von Herrn Karlfried Müller zur Borstraße 7, der da einen Teil des Gartens bewirtschaftet. Der hier schon vor Jahren gefundene Beetziegel mit verschlungenem Astwerk ist leicht beschädigt und wird an der Wand eines Nebengebäudes präsentiert. Das Vorhandensein eines früheren Rundbeetes mit Beetziegeln im großen Grundstück der Villa aus dem 19. Jh. kann angenommen werden, ist aber z.Z. nicht nachweisbar.

Foto: D. Lohse

Die zweite Meldung von Funden mehrerer, leicht beschädigter Beetziegel im Grundstück Käthe-Kollwitz-Str. 26 stammt von Familie Richter. Hier können wir zwei verschiedene Gestaltungen von Beetziegeln, solche mit hellgrauem Ton und durchbrochenem Kopfteil (Schlingenornament) und solche aus rötlichem Ton mit an Jugendstil erinnerndem Kopfteil erkennen. Interessant ist, dass einer der zuletzt genannten eine Prägemarke hat, die mit Eduard Lehmann eine Kötzschenbrodaer Herstellerfirma ausweist. Die Beetziegel dürften hier aber nur ein Nebensegment der Produktion gewesen sein. Die baulichen Reste des Betriebes in der Neuen Straße wurden nach der Wende entfernt. Heute stehen neue Wohnhäuser auf dem Gelände. Dass in der Käthe-Kollwitz-Str. 26 im Grundstück des von August Große um 1880 errichteten Landhauses ein mit Beetziegeln gestaltetes Prachtbeet vorhanden war, bezeugen kleinere Bruchstücke (Schlingenornament) im Erdreich des Vorgartens.

Foto: D. Lohse

Foto: D. Lohse

Durch die ergänzenden Funde von Beetziegeln können wir ein paar Schlussfolgerungen herausarbeiten:

  • 1.      Nachweise an drei Standorten in Niederlößnitz sagen uns, dass es solche Prachtbeete im 19. Jh. doch öfter gab, als beim Erstfund (palmettenartiges Kopfteil) zu vermuten war.
  • 2.      Es fällt auf, dass für den ähnlich strukturierten und etwa zur gleichen Zeit wie Niederlößnitz entstandenen Ortsteil Oberlößnitz z.Z. keine Nachweise vorliegen. Mit dem Nachweis von Beetziegeln in Oberlößnitz kann aber noch gerechnet werden.
  • 3.      Durch die Tatsache, dass Eduard Lehmann, Neue Straße 17, Kötzschenbroda, neben Blumentöpfen und Ofenkacheln auch Beetziegel hergestellt hatte, ist anzunehmen, dass diese auf kurzem Weg in Kötzschenbroda und Niederlößnitz verbreitet wurden – der Weg nach Oberlößnitz war da schon weiter.
  • 4.      Schäden an fast allen Fundstücken legen die Annahme nahe, dass sich die Mode Beete mit Beetziegeln anzulegen nicht lange gehalten hat – zerbrechliches Material und filigrane Formen aus gebranntem Ton sowie Frostschäden, wenn die Beetziegel vorm Winter nicht ausgegraben wurden, wie einzelne Hersteller angaben, unterstreichen die Annahme einer kurzen Modeerscheinung.

Ich danke allen Personen, die durch ihre Hinweise zum Zustandekommen dieser Ergänzung zum Thema Beetziegel beigetragen haben und hoffe, dass die jeweiligen Fundstücke weiterhin aufbewahrt werden können.

Dietrich Lohse

Hymnische

Einigkeit

Am anderen Morgen schoß niemand.

Stille griff um sich. Auf dem weiten Rund des nun doch etwas verbeulten Erdballs schwiegen die Waffen. Die Soldaten kehrten zu ihren Familien zurück. Polizei und Kriminalität entsorgten ihre Bewaffnung. Es war Friede auf Erden, was bei vielen Menschen durchaus ein Wohlgefallen auslöste.

Mißtrauisch geworden richtete Friedebold Schreiber, Korrespondent einer unerhörten Nachrichtenagentur, folgende Frage an die Generalitäten sich mächtig fühlender Staaten:

Was nun, Herr General?

Die eingehenden Antworten aus (um nur einige zu nennen) Australien, Kanada, Indien, Frankreich, Spanien, Italien, Polen, Israel und – mit einiger Verzögerung – aus Rußland, China und den USA, lasen sich etwa gleichlautend so:

Wir haben die Lage im Griff. Nach einer Atempause wird wieder Normalität eintreten. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.

Die Welt atmete auf.

Recht

Ein Kriegsdienstverweigerer, schlimmer: ein Deserteur, ein Fahnenflüchtiger, also ein Krimineller, schwimmt in internationalem Gewässer. Er schwimmt allein, schon das gilt als bezeichnend. Er schwimmt schon lange. Die Arme schmerzen, immer wieder muß er Krämpfe aus den Waden drücken. Auch das Atmen fällt langsam schwer. So oft er auch in der Ferne hoffnungsvolle Berge glühen sieht, weiß er doch, daß kein zivilisiertes Land ihn aufnehmen, kein rechtschaffener Mensch ihm auch nur eine Atempause gönnen wird: Fahnenflucht, Kriegsdienstverweigerung wird nirgendwo als Asylgrund anerkannt. Selten sind sich kriegführende Staaten so einig in der Auslegung internationalen Rechts.

Freiheit

Nach dem neuerlichen Amoklauf mit was weiß ich wieviel Toten brandete die Diskussion über eine Verschärfung des Waffenrechts erneut auf. Eine von der Regierung eingesetzte unabhängige Jury stellte dazu abschließend fest, daß es keinen Zusammenhang zwischen individuellen Taten und dem generellen Recht auf Waffenbesitz gibt. Ein Eingriff in persönliche Freiheitrechte ist damit in keiner Weise gerechtfertigt. Der Schiedsspruch ist endgültig, Widerspruch wird nicht zugelassen.
Die (Männer-)Welt atmete auf.

Thomas Gerlach

War Friedrich Eduard Bilz in Chile?

Es gibt zumindest keine Quelle, die das bestätigt hätte. Ich glaube auch nicht, dass er jemals in seinem Leben eine so weite Reise unternommen hat. Und doch ist im heutigen Chile immer wieder von Bilz die Rede, wie passt das zusammen? Die weltweite Verbreitung von Ideen und Produkten des Radebeuler Naturheilkundlers Friedrich Eduard Bilz (1842-1922) erfolgte zumindest auf zwei Wegen: zuerst natürlich durch sein mehrfach verbessertes und in 14 Sprachen übersetztes „Bilzbuch“, in spanischer Sprache erreichte es um 1900 auch Chile. Und dann noch durch das Produkt „Bilzbrause“, später in Deutschland in Sinalco-Cola aufgegangen. Das „Bilzsalz“, ein weiteres Bilzprodukt (sh. auch V&R 09/21), dürfte dagegen nur lokale Bedeutung erreicht haben. Über die verschlungenen Wege auf denen das Radebeuler Getränk nach dem weit entfernten Chile gekommen und bis heute präsent ist, möchte ich heute nachdenken.

Repro: D. Lohse

Mein achtundzwanzig jähriger Enkelsohn Franz, der Anfang 2023 mehrere Länder Südamerikas, darunter auch Chile, bereiste, gab mir dazu eine Steilvorlage. Als er uns seine elektronischen Bilder von der abenteuerlichen Reise zeigte, fiel mir zwischen schneebedeckten Bergen, Salzwüste, Pazifikküste und Urwald ein Bild auf, wo er ein Erfrischungsgetränk mit der Aufschrift BILZ zu sich nimmt. Später schickte mir Franz dann ein anderes Foto von einem geöffneten Kühlschrank, gefüllt mit roten Bilzgetränken, einer angeblich nach Erdbeere schmeckenden Brause. Dazu bekam ich einen Wikipedia-Ausdruck, der den Zusammenhang von Bilz und Pap, einem roten und gelben Erfrischungsgetränk in Chile zu erklären versucht.

Repro: D. Lohse

F. E. Bilz war ja sozusagen als Naturheilkundler und Weltverbesserer angetreten. So wollte er, dass die Menschen gesünder leben und weniger Alkohol trinken sollten. Er entwickelte eine wohlschmeckende Limonade, um sie seinen Gästen im Bilzsanatorium anzubieten, alkoholische Getränke gab es da nicht. Seine Limonade kam aber über den Testlauf nicht hinaus, ihm fehlte in Radebeul eine Firma, die davon größere Mengen produzieren konnte und so musste er deutschlandweit eine Firma mit entsprechender Produktionskapazität für seine Bilzbrause suchen. 1902 schien er in Franz Hartmann im Lippeschen (heute NRW) einen entsprechenden Partner gefunden zu haben. Von da ab wurde in Detmold Bilzbrause in großen Stückzahlen hergestellt. Hartmann firmierte seit 1906 als Sinalco AG und lieferte die Bilzbrause außer an Bilz selbst in die Länder Europas und weltweit eben auch bis nach Chile. Aber dann stritten sich die Geschäftspartner Bilz und Hartmann über die Geschäftsanteile, weil Bilz als Erfinder der Brause offensichtlich damit weniger verdiente als Hartmann. Das Zerwürfnis erstreckte sich über ein paar Jahre bis Hartmann das Produkt schließlich nur noch unter dem Namen Sinalco-Brause vertrieb.

Foto: D. Lohse

Ähnlich wie die Vereinigten Staaten, war im 19. Jh. auch Chile ein Einwanderungsland für Europäer. Denkbar wäre z.B., dass Chile für Europäer aus klimatischen Gründen interessant war, weil durch den speziellen geografischen Zuschnitt Chile (Länge ca. 4100 km, Breite im Schnitt 200 km) Anteil an mehreren Klimazonen, darunter auch gemäßigtes Klima wie in Mitteleuropa, hat. Unter vielen Einwanderern war 1870 auch der Deutsche Andreas Ebner Anzenhofer mit seiner Frau. Später erfuhr er von dem erfolgreichen Naturheilkundler Bilz in Radebeul und auch von dessen roter Brause und er versuchte in Chile mit Erfolg solche Limonade mit geringen Abweichungen vom Originalrezept (Lizenzumgehung!) herzustellen. Das Geschäft brummte und nach dem Tod Ebners führte ab 1905 der Sohn die Bilz‘sche Limonadenproduktion in Chile weiter. Dabei verwendeten sie auch ein dem deutschen Bilz-Brause-Etikett sehr ähnliches Flaschenetikett, u.a. mit dem Kopf von Bilz!

1916 ging die Firma Ebner in dem staatlichen Getränkekonzern CCU auf. Er produziert bis heute die beliebten Erfrischungsgetränke „Billy Bilz“ und „Billy Bilz leicht“. Und mit genau solcher eingebürgerten Bilzbrause löschte Franz Anfang dieses Jahres seinen Durst am Rande der Atacama-Wüste und musste unwillkürlich an Radebeul und den alten Bilz denken, von dem ihm sein Großvater erzählt hatte.

Gerne hätte ich meine Recherche mit einer Reise ins ferne Chile verbunden, da wären sicher noch weitere Fakten zur Bilzbrause zu finden gewesen. Leider hätte das weder mein, noch das Budget von Vorschau & Rückblick hergegeben, auch nicht, wenn wir beide Budgets zusammengelegt hätten, schade eigentlich!

Dietrich Lohse

Leserzuschrift

„Als die Läden noch die Namen von Leuten trugen“

Dieser Beitrag von Herrn Märksch in „Vorschau und Rückblick“ vom September hat mich sehr an meine Kindheit und Jugend erinnert. Ich bin gebürtiger Radebeuler und gehöre mit meinem Alter tatsächlich zur „Letzten Generation“, die die Vergangenheit reflektieren kann.

Gehen wir mit den Erinnerungen in die Jahre kurz nach dem Kriege zurück.

Hunger und Kälte im strengen Winter 1946/47 waren unsere ständigen Begleiter. Von den im Beitrag genannten 22 Bäckereien in Radebeul war eine Bäckerei „Lohse“ auf der Nizzastraße. Frau und Herr Lohse waren uns Kindern zugetan (selbst kinderlos). Ich besuchte damals die Oberlößnitzer Schule. Herr Wunderlich, ein Neulehrer, den wir sehr liebten, war bemüht, uns die schwere Zeit leichter zu machen. In der Weihnachtszeit wurde das Klassenzimmer weihnachtlich geschmückt. Ein Höhepunkt war die Weihnachtsfeier kurz vor den Weihnachtsferien. Wie wir zu dem Roggenmehl kamen, mit denen die Plätzchen gebacken werden sollten, weiß ich nicht mehr. Aber in Erinnerung bleibt, dass wir beim Bäcker Lohse in der Backstube mit seiner Hilfe den Teig ansetzten und er uns in seinem Backofen die Plätzchen gebacken hat. Gleichermaßen gab uns Frau Lohse die Kuchenränder ab, wenn wir in den Laden kamen. Natürlich geschenkt!

In Erinnerung ist auch der Bäcker Gemser in der Hoflößnitzstr. 2. Ebenfalls befand sich im gleichen Haus das Lädchen von „Trikot-Bauer“. Bauers hatten bis zur Bombardierung ein gleiches Geschäft in Dresden. Herr Bauer hatte gute Verbindungen zu früheren Textilherstellern im Erzgebirge Er konnte manchen Wunsch bezüglich der Trikotagen bei den Frauen erfüllen. Im Eckhaus Rosenstraße 2 war Haussteins Markthalle. Hier kauften wir, was man auf die Lebensmittelkarte kaufen konnte. Im gleichen Haus war eine Gardinenspannerei. Meine Mutti schaffte dorthin die Gardinen zum Spannen. Wer kennt das heute noch?

Im Nebenhaus befand sich Lindners Milchgeschäft. Butter auf Lebensmittelkarte wurde grammweise von einem Butterblock abgeschnitten und in Papier verpackt. Milch aus der Kanne wurde in der Milchkanne geholt. Molke gab es ohne Bezugsschein, auch in den Milchkrug. Gegenüber in der „Stalinstr.“ War das Papier- und Süßwarengeschäft der zwei Schwestern Mallow. Hier kaufte man Tinte, Schreibfedern, Puppenausschneidebögen, Modellbögen zum Basteln. Es roch hier immer gut nach Süßigkeiten, ob es welche zu kaufen gab, weiß ich nicht mehr.

Auf der Rosenstr., Ecke Nizzastr. gab es die „Rosenschänke“. Sie gehörte dem Fleischereister Paul, der die Gaststätte verpachtet hatte. Gab es in unserer Familie einen Anlass, wurde das Bier hier im Bierkrug geholt! Die Fleischerei Paul war im gleichen Haus. Frau Paul hatte die Kunden so erzogen, dass man zum Einkauf nie ohne Einpackpapier kam. Oft war es nur Zeitungspapier! Einmal in der Woche gab es Wurstbrühe mit Majorangeschmack aber ohne Fettaugen.

Im Eckhaus, gegenüber von „Märkschs Reinigung“ war in dem großen Eckhaus die Drogerie Biedermann und im gleichen Haus, wo später die Frau Stur ihren Zigarettenladen hatte, war Herr Otto Deisting, in Dresden auf der Prager Str. ausgebombt, der Tabakwarenhändler. Er verkaufte aber sehr zum Leidwesen meines Vaters nur Zigaretten auf die „Raucherkarte“. Da half auch ein freundliches Schreiben meines Vaters nicht, mit dem ich zu Deisting geschickt wurde. Auf der „Maxim-Gorki-Str. war „Kohlen-Klotzsche“. Ein freunlicher, nicht nach Kohlenstaub aussehender Kohlenhändler. Kohlen gab es nur auf die Kohlenkarte. Selbst im eiskalten Winter 1963 gab es für Neugeborene eine Sonderzuteilung Briketts, die man mit dem Schlitten abholte.

Wieder ein paar Schritte weiter, auf der „Stalinstr.“ war das Geschäft von „Radio Domann“. Nun schon in den 50iger Jahren, stand im Schaufenster ein Fernseher von RAFENA mit dem Namen „Rembrandt“. Bildschirmgröße etwa die Größe einer Postkarte!

Das Milchgeschäft von Burkhardt und die Fleischerei Dübel, später Beyer überspringe ich, um zu „Spielzeug Stiller“ zu kommen. Außer Spielwaren konnte man hier auch Haushaltsartikel kaufen. Es gab immer etwas Gefragtes hier. Ein ca. 10 cm großer Bergmann aus dem Erzgebirge kostete in den 60iger Jahren 1,45 DM. Erinnerungen. Nun noch einmal auf die „Ernst-Thälmann-Straße“. Hier hatte Herr Kettler einen Frisör-Salon. Im Laden war er kaum. Sicher fuhr er lieber mit seinem „Borgwardt“ (ein damals echter Hingucker) herum. Die Angestellten machten die Frauenköpfe schön. Auch auf der Ernst-Thälmann-Str. war das Modegeschäft Hofmann, schräg gegenüber der Drogerie Schreckenbach. Hier kauften meine Eltern auf Punktkarte für mich einen Konfirmandenanzug. Sie hatten sich die Punkte abgespart.

Nochmals zurück ans „Weiße Roß“. Die altehrwürdige Gaststätte wurde von Herrn Stiller und seiner Gattin betrieben. Gemütlich und nett, auch die Preise. Beefsteak mit Möhrengemüse 1,95 Mark. Ein Bier 0,42 M, dazu noch ein Sol-Ei. Alles in den fünfziger Jahren. Und an der Ecke neben der Veranda der Kiosk von Eis-Neumann. Noch viel eher gab es in der Wartehalle vom Bahnhof „Weißes Roß“ einen Verkauf von Frau Ciomer oder so ähnlich, sie zauberte eine Brühe ohne Fettaugen, aber sehr schmackhaft für wenige Pfennige. Fein geschnittener Schnittlauch schwamm auf der braunen Brühe. Die damals zahlreichen Fahrgäste der Bimmelbahn verkürzten sich so die Wartezeit, bis sie der Zug von der Arbeit nach Hause brachte.

In der Nähe des „Weißen Roßes“ gab es das „Textilhaus am Weißen Roß“ von Herrn Scha(a)le. Man stieg ein paar Stufen hinab, um in den Verkaufsraum zu gelangen. Hauptsächlich gab es hier Kurzwaren.

Diese von mir niedergeschriebenen Erinnerungen sind ein kleiner Ausschnitt aus den Kinder- und Jugendjahren, die fried- und hoffnungsvoll waren. Trotz aller Widrigkeiten der damaligen Zeit, unsere Kindheit war schön. Dazu trugen die Eltern und auch die engagierten Lehrer bei.

Ulf Deumer

„Viva sukkulenta“

Ein Rückblick auf „Kunst geht in Gärten“

 

Schwebende Flora – Detail aus der Rauminstallation »Flora war gestern!« von Gabriele Schindler
Foto: K. (Gerhardt) Baum

Es war ein tristes, ja erschreckendes Szenario, welches sich im hölzernen, zum Garten hin offenen Anbau des Kunsthauses Kötzschenbroda in Radebeul bot. Auf grauen und sandfarbenen Hügeln hatten sich Reptilien verschiedender Größe und Art positioniert, die sich teilweise in dinosaurierartige Gestalten zurückentwickelt und in ihrer Farbgebung der Landschaft angepasst hatten. Das Bedrohliche offenbarte sich erst auf den zweiten Blick. Zwischen den Tieren spazierten prächtig gekleidete Menschen und führten ihre Reptilien aus. In Szene gesetzt war eine mögliche Alltagssituation der Zukunft. Zwischen den mit vielen witzigen Details ausgestatteten Pappkaché-Figuren waren echte Sukkulenten platziert. Über allem schwebte, verständnislos blickend, die entzückende, mit Blütengirlanden umkränzte Göttin Flora. Das nüchterne Fazit der Dresdner Künstlerin Gabriele Schindler spiegelte sich im Titel der Installation „Flora war gestern“ wider. Diesen nahezu visionären Vorgriff auf die Zukunft fanden dann auch die Besucher durch das Wetter mehr als bestätigt.

Figur und Fisch – Details aus der Rauminstallation von Gabriel Schindler »Flora war gestern!«
Foto: K. (Gerhardt) Baum

Wie auch in den Jahren zuvor,stand die temporäre Gemeinschaftspräsentation im Kunsthaus unter einem Motto. „Viva sukkulenta“ nahm konkreten Bezug auf den Klimawandel und seine Folgen.

»Viva sukkulenta!« Detail aus der übermalten Fotografik-Serie von Bernd Hanke
Foto: K. (Gerhardt) Baum

Figur und Fisch – Details aus der Rauminstallation von Gabriel Schindler »Flora war gestern!«
Foto: K. (Gerhardt) Baum

An der von der Radebeuler Stadtgalerie organisierten zweitägigenSchau (2. und 3. Juli 2023) hatten im Kunsthaus zehn Künstler und eine Gruppe teilgenommen. Sie kamen aus Dresden, Weinböhla und Radebeul. Das Spektrum der ausgestellten Arbeiten war wieder vielfältig, wobei auch neue Aspekte eingebracht werden konnten. So wurden erstmals Arbeiten von jungen Sprayern des KIZ Weinböhla gezeigt, einer Freizeiteinrichtung für Kinder und Jugendliche. Davon ließ sich wiederum der Grafik-Designer Bernd Hanke aus Dresden inspirieren, der seine vier mit Fotografiken bedruckten Leinwände per Hand übermalte und ihnen neue Botschaften gab. Diese sind noch bis einschließlich September am Kunsthaus, für Passanten gut sichtbar, zu sehen.

Besonderer Beliebtheit erfreute sich die „Malmaschine“, welche der Maler Matthias Kistmacher konstruiert hatte. Eine große Papierbahn, gelagert auf zwei beweglichen Rollen, wurde hauptsächlich von Kindern mit Tempera-Farben bemalt. Kistmacher, der auch das Titelbild des Veranstaltungsflyers schuf, war noch mit drei großformatigen Stadtbildern vertreten. Eines davon zeigte das Straßennetz aus Satellitenperspektive.

Lina Tayern und Gabriel Jagieniak auf der Gartenbühne
Foto: K. (Gerhardt) Baum

Überhaupt schien der Perspektivwechsel ein wesentliches Merkmal dieser ungewöhnlichen Gemeinschaftspräsentation zu sein. Neben Gemälden, Fotografiken und Graffitis konnten auch Collagen, Scherenschnitte, Gartenbilder, Objekte, Skulpturen, Keramiken und Installationen bewundert werden. Bunt bemalte Schüsseln, Teller und Figuren von Christiane Latendorf fand der Besucher beispielsweise im Erdbeerbeet oder zwischen Pflaster- und Ziegelsteinen.

Die Künstler Gabriele Schindler und Reinhard Zabka im Gespräch
Foto: K. (Gerhardt) Baum

Der mit Sukkulenten bewachsene „Sächsische Garten-Azteke“ aus Sandstein von Gerald Risch aus Dresden war im Stein-Pflanzen-Garten genau richtig platziert. Eva und Matthias Kratschmers phantasievoller Digitaldruck „felis ca(k)tus“ zierte die Hauswand, gleich neben Moritz Jason Wippermanns dreidimensionalem Digital-Druck-Objekt „Henning Annegret Kalmar“, einem zweigesichtigen wundersamen Mischwesen. Wippermann zeigte noch in Form der digitalen Malerei eine erfrischende Parodie auf „Die Faulheit“. Nicht zu vergessen das Erstlingswerk der DebüTante 70+. Das Materialobjekt mit dem Titel „Selbst“ wurde in einem alleinsichtigen Glaskasten präsentiert. Und als Kunsthaus-Dauergast war auch Pseudo I dabei, dessen Identität noch immer ein Rätsel aufgibt. Die vier Meter hohen Stämme der kurz zuvor abgesägten und Trauer zeigenden Nadelbäume, ragten im Vorgarten als Mahnmale in den Himmel und wirkten wie eine makabre Performance.

Zahlreiche Besucher nahmen an den Führungen durch das Ausstellungsgelände teil, in die die anwesenden Künstler einbezogen waren und interessantes Hintergrundwissen vermittelt wurde. Das jeweils halbstündige Programm der wandernden Musiker lockerte die Atmosphäre an beiden Tagen zusätzlich auf. Nach verhaltenem Beginn – für den Sonnabend zu zeitig – steigerten sich besonders nach 15 Uhr die Besucherzahlen außerordentlich. Am Ende wurden 260 Gäste gezählt, die alle mit einigen netten Worten am Eingang begrüßt worden sind. Selbst die Radebeuler Kulturamtsleiterin Frau Dr. Gabriele Lorenz kam für eine kurze Stippvisite vorbei. Dass es auch in den anderen Gärten sehr schön gewesen sei, berichteten die Besucher und zeigten ihre Handyfotos.

Die Malmaschine in Aktion, Foto: K. (Gerhardt) Baum

Die Künstler wiederum nutzten die Veranstaltung zum Austausch mit dem Publikum und den Kollegen. Besonders am Sonnabend saß man noch bis tief in die Nacht bei angeregten Gesprächen und einem Glas Wein zusammen. Eine unkonventionelle Dokumentation erinnerte an „Kunst geht in Gärten“ I–III und belegt, dass sich künstlerischer Anspruch und Humor sehr gut miteinander vereinbaren lassen. Gern würde das Kunsthaus im kommenden Jahr wieder an der Radebeuler Gemeinschaftsaktion „Kunst geht in Gärten“ teilnehmen, vorausgesetzt, dass es eine Fortsetzung gibt.

Karin und Karl Uwe Baum

Radebeul – Kultur.Landschaft.Wandel.

Anlass der diesjährigen Doppelausstellung KULTUR.LANDSCHAFT.WANDEL. in der Galerie und AUFBRUCH.IMMER.WIEDER. im Auszugshaus von Altkötzschenbroda 21 ist die Sanierung des ersten Gebäudes auf dem Anger nach 1989 – eben jenes Auszugshauses vor genau 30 Jahren.

Was hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten getan, wie sehen Künstlerinnen und Künstler die Stadt? Über 50 von Ihnen beteiligen sich an der Ausstellung – aus Radebeul und seiner Umgebung, ergänzt durch Werke aus der Städtischen Kunstsammlung, wie von Claus Weidensdorfer, Gunter Herrmann oder Günter Schmitz.
Global und regional hat sich politisch einiges getan. Furchtbar ist die Tatsache, dass Krieg in der zu betrachtenden Zeit offensichtlich wieder als politisches Mittel akzeptiert wird. Das Gleichgewicht des Schreckens wurde Anfang der neunziger Jahre aufgehoben und lässt wieder die Möglichkeit zu, scheinbar regional begrenzte Konflikte militärisch auszufechten, im ehemaligen Jugoslawien, im arabischen Raum und aktuell in der Ukraine. Nationalismus, Fanatismus und Terrorismus können nicht eingegrenzt werden. Die Welt gerät auf allen Gebieten offenbar aus den Fugen, was uns auch die zunehmenden Unwetterkatastrophen zeigen. Regional hatte Radebeul die Überflutungen von 2002 und 2013 zu bewältigen. Markus Retzlaff lässt vom Burgberg in einem fast monumentalen Bild auf das wunderbar restaurierte Meißen schauen – eine Reminiszenz an seinen Stich von der überfluteten Stadt im Jahr 2002 und ein erweiterter Blick auf das Elbtal.
Es ist nicht verwunderlich, dass viele Künstler die Weinberge, welche ohne Zweifel den Naturraum von Radebeul bestimmen, zum Thema genommen haben. Der Steinbruch von Gunter Herrmann öffnet die Ausstellung nach oben und daneben vergnügt sich ein Paar von Michael Hofmann auf Schloß Wackerbarth. Kritisch betrachtet Pit Müller die Hänge. In die Dunkelheit hat sich Goldstaub eingeschlichen – die „Goldstaubviertel“ Radebeuls. Bärbel Kuntsche sieht mit ihrem Blick aus dem Fenster auf die, über den Bergen vorbeiziehenden Ballons, Mechthild Mansel lädt mit stilistisch reduzierten Mitteln auf Schloss Wackerbarth. Anita Rempe verliert sich im Dickicht der Rebstöcke der Hoflößnitz und Roland Gräfe betrachtet kritisch den daneben entstandenen Neubau. Ein regelrechtes Wimmelbild produzierte Lutz Richter. Vor den Bergen laufen für Christiane Herrmann die Kinder auf den vereisten Elbwiesen im Winter Schlittschuh und Ingo Kuzcera lässt eine Badende im Sommer aus den Elbfluten steigen. Gabriele Reinemer setzt mit ihrer Weinbergfliege allem die Krone auf.
Kulturraum ist Lebensraum. Während es bei Karola Smy blüht und duftet, bietet Wolfgang Smy ein Bild des Grauens mit abgehackten Bäumen und architektonischen Kästen. Für die Lößnitz, der Enrico Scotta in Erinnerung an ein Gasthaus die Perle verliehen hat, ist besseres zu hoffen.
Der untere Raum ist geprägt von Installation und Plastik und erzählt Geschichten. Peter Graf versammelt seine alten Freunde zum Plausch in Radebeul. Gabriele Seitz treibt der Klimawandel mit immer weniger zur Verfügung stehenden Wasser um. An einem Baumstumpf hängt ein Bewässerungssack, wie er im Stadtgebiet oft zu sehen ist. Auch Annerose Schulze beschäftigt das Thema Hitze. Irene Wieland arbeitet an einem Projekt mit der Hoflößnitz mit den exotischen Vögeln im Berg- und Lusthaus – ergänzt fehlendes mit eigenen Kreationen. Reinhard Zabka präsentiert den Tatort Radebeul, hinterlegt mit einem „blutigen“ Bild von Klaus Liebscher. Wirklich blutig wurde es allerdings für Johannes den Täufer, dem Salome den Kopf abschlug und ihn, wie Detlef Reinemer auf einem Tablett präsentierte. Bei Reinhard Zabka fließt kein Blut, auch wenn der Kommissar André Uhlig einiges zu tun hat. Weitere Künstler tauchen in den verschiedenen Clips auf. Daneben erinnert Burkhard Schade an die Installationen der Labyrinthe zum Weinfest. Wunderbar ergänzt Stefan Vogt mit seinem Treatro Grotesco die Installation. Mit einer kalligrafischen Arbeit von Homayon Aatifi, der als afganischer Flüchtling viele Jahre in der Lößnitz lebte, zieht ein exotisches Moment in die Präsentation. Ihm hat Fritz Peter Schulze ein stark farbiges Zeichen daneben gesetzt.
Veränderungen prägen jede Zeit. Eine unschöne Veränderung gab es für die überfahrene Weinbergschnecke von Wolf Eike Kuntsche, während sich daneben ein Liebespaar in einem leeren Schneckenhaus vergnügt. Der berühmte „Mäuseturm“ von Steffen Gröbner ist heute nur noch ein Steinhaufen. Liselotte Finke-Poser und Sophie Cau setzen sich mit dem Wegzug der Puppentheatersammlung auseinander. André Uhlig treibt der Verfall der Kolbe-Villa um und Sylvia Preißler jener des Bahnhofs Kötzschenbroda. Simone Ghin sieht bereits die Zukunft mit den Windrädern während auf demselben Feld bei Klara Freier der Mohn in voller Blüte steht. Franziska und Sophia Hoffmann arbeiteten bis 31. März mit vielen anderen noch in der Alten Molkerei auf der Fabrikstraße. Sie wurden von dort vertrieben. Mit ihrer Installation „Molkereiprodukte erinnern sie an die enorm produktive Zeit in der „Molke“. Ingo Kuczera, der sich vor 19 Jahren das Leben nahm, machte bereits Anfang der Zweitausender praktische Vorschläge zur künstlerischen Gestaltung der Bahnhofstraße und des Angers in Altkö. Er wollte Veränderung. Mystischer und mythologischer sieht Anne Pinkert einen Neubeginn. Ein Neubeginn ist jeden Tag nötig und hoffentlich auch möglich. Die Stadtgalerie Radebeul wird Entwicklungen weiterhin begleiten und anschaulich machen.

10 ½ Jahre Chorleiter – Unsere Würdigung für Eric Weisheit

Lobrede zum Vereinstag Radebeul am 02.09.2023:

Auftritt des Lößnitzchores vor dem Kulturbahnhof
Foto: Archiv Lößnitzchor


Heute stellen sich hier viele, recht unterschiedliche Vereine vor. In unserem Verein unterstützt uns sehr engagiert, belebend, jugendlich erfrischend, ehrgeizig, kompetent und zielstrebig unser Chorleiter Eric Weisheit.

Es ist allgemein üblich, runde Jubiläen zu würdigen. Runde Jubiläen?? Das kann ja jeder!!! Wir vom Lößnitzchor möchten heute hier die Gelegenheit nutzen, unserem Eric zum 10 ½ -jährigen Jubeltag zu gratulieren.

unsere Laudatio für Eric Weisheit:

Im Januar 1987 ging ein Stern am Kulturhimmel von Sachsen auf, es wurde unser Radebeuler Chor gegründet.

Kurze Zeit darauf, schon im März 1987 erblickte ein anderer klitzekleiner Stern das Licht der Welt:

Eric Weisheit.

Schon als Kleinkind hatte er nichts anderes im Kopf als Musik. Musik begleitet ihn von Kindesbeinen an: Bereits sein Urgroßvater war Organist, sein Vater spielt Gitarre und Cello. Im März 2013 stellte sich Eric, die Treppe hoch humpelnd mit einer Knieorthese, bei uns Sängerinnen und Sängern vor mit den Worten. „Ich bin Eric, ich kann nicht ohne Musik!!“ Als gemischter Laienchor haben wir viel Freude und Spaß am Singen. Unterhaltsam und mit Witz leitet Eric die Chorproben und entwickelt so Qualität und Atmosphäre. Eric sorgt mit Humor, Ausdauer und ausgeprägtem musikalischen Gehör dafür, dass aus dem Gesang von 40 Kehlen ein harmonisches Klangbild entsteht. Er weiß alle Stimmlagen gut zu führen. Geduldig feilt er an Tönen, Pausen, Einsätzen, Betonungen, Lautstärken sowie Punktierungen und mit angemessenem musikalischem Anspruch schließlich auch an Aussprache, Klangfarbe und Ausdruck. Mit Augenzwinkern erträgt er die Schwatzhaftigkeit, die in all den Jahren unter den strengen Blicken diverser Chorleiter einfach nicht abgelegt werden konnte. Durch intensive Probenarbeit hat sich die stimmliche Vielfalt unseres Chores in den letzten Jahren deutlich verbessert.

Der Anspruch unseres Chores ist es, überwiegend a-capella zu musizieren. Das breit gefächerte Repertoire reicht von Balladen, Scherzliedern, deutscher und fremdsprachiger Literatur bis hin zu geistlicher Musik aus dem 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dazu gehören sogar Uraufführungen aus der Feder von Eric.

Seine Klavier- und Orgelspiele unterstützen und bereichern unsere Konzerte. Mit viel Geschick und Ausdauer studierte Eric mit uns das „Te Deum“ von Johann Adolph Hasse und die Messe D-Dur von Antonín Dvo?ák mit den Teilen „Kyrie“, „Gloria“, „Sanctus“, „Benedictus“ und „Agnus Dei“ ein. Auch als Solist bereichert er ein Konzert mit einer Solo-Arie.

Wir wollen dir, lieber Eric, ganz herzlich Danke sagen für all dein Engagement, deine Geduld, dein Fordern und Fördern zum erfolgreichen Gestalten unseres Vereinslebens.

Sabine Papke

www.loessnitzchor.de

Editorial

Im Septemberheft erschien in unserer „Vorschau“ ein Gastbeitrag von Tobias Märksch mit dem Titel: „Als die Läden noch die Namen von Leuten trugen.“ Der Autor hatte damit wohl einen Nerv getroffen, denn es erreichten uns seither einige Zuschriften und Erinnerungsbilder.
In diesem Heft sind die Gedanken von Ulf Deumer nachzulesen, meines einstigen Geographielehrers an der damaligen German-Titow-Schule auf der Wasastraße. Ein herzlicher Gruß sei ihm an dieser Stelle entboten.
Ende Juli hat in Radebeul-Ost nun auch ein Laden für immer geschlossen, das in diesem Gefüge sicher eine Erwähnung verdient hat. (Die SZ berichtete über die Hintergründe.)
Es handelt sich um den langjährig geführten Zeitungsladen von Lars Bellmann auf der Meißner Straße. Für unsere „Vorschau“ strategisch von herausragender Bedeutung, nahmen von hier aus doch zahllose Kunden kistenweise unser Heft nach Hause mit.
Über die Ästhetik der Ladenführung konnte sicher gestritten werden. Man musste manchmal Staunen, ob der Ladeninhaber noch selbst einen Überblick in diesem aufgetürmten Durcheinander hatte.
Trotzdem begleitete mich dieses Geschäft durch das Vorbeibringen der neuen „Vorschau“, mit dem gelegentlichen Ausfüllen eines Lottoscheines, dem Kauf einer Zeitschrift und mit einem Schwatz über dem Ladentisch über viele Jahre.
Ich wünsche Herrn Bellmann für einen Neustart an anderer Stelle viel Glück und Erfolg!

Sascha Graedtke

Seelenlandschaften

Ich male, also bin ich.

Renatus Cartesius oder René Descartes, ein in Frankreich geborener europäischer Denker der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, hatte mit vergleichbaren Worten seinen Weg zu sich selbst gefunden. Mit seinem kartesischen Koordinatensystem gab er auch uns Nachgeborenen einen sicheren Kompass an die Hand, uns in der Welt zurechtfinden zu können. Sie wurde ein Stück durchschaubarer, diese Welt, was umso wichtiger scheint, als das meiste, das heute geschieht auf Erden, einfach unbegreiflich ist.

Max Manfred Queißer, Musette, 2003-II (2.Fassung), Öl auf Leinwand, 120 x 80 cm
Foto: Herbert Boswank


Der Maler Max Manfred Queißer fand, als er schließlich so weit war, in diesem Satz einen sicheren Halt:

Ich male, also bin ich.

Es war ein schmerzlich weiter Weg bis dahin.

Bevor er noch hatte Gelegenheit finden können, sich über seine eigenen Ziele klarzuwerden, wurde dem Siebzehnjährigen 1944 ein fremdes Ziel diktiert: Heldentod.

Süß ist es und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben.

Der römische Dichter Horaz war es, der diesen Schwachsinn in seinem dritten Odenbuch unter der Überschrift Mannestugend abgesondert hatte. Dem Dichter, der sonst durchaus auch kluge Sachen niederschrieb, kann möglicherweise sogar verziehen werden: Er war ein Kind seiner Zeit, groß geworden in den Wirren der römischen Bürgerkriege. Unverzeihlich und in hohem Maße peinlich ist, dass wir als Menschheit nach ziemlich genau zweitausendundfünfzig Jahren immer noch darauf hereinfallen und mit dem gleichen Lied auf den Lippen in jeden noch so blödsinnigen Krieg ziehen.

Ich bin – um das Ende vorwegzunehmen – dankbar, dass es Manfred vergönnt war, noch in dem Glauben sterben zu können, eine wirkliche Zeitenwende könnte zu einem wahren Frieden führen. Das Erlebnis des Rückfalls in eine Barbarei, die schlimmer ist, als die der römischen Bürgerkriege, blieb ihm zum Glück erspart.

Max Manfred Queißer, Inspiration nach Béla Bartók, Klavierkonzert Nr. 1, 1999, Öl auf Hartfaser, 80 x 120 cm
Foto: Herbert Boswank


Für ihn selbst war das Abenteuer Krieg glimpflich ausgegangen. Statt Heldentod erwarteten ihn drei Jahre sowjetische Kriegsgefangenschaft. Manfred sprach wiederholt von gestohlenen Jahren. Es waren die Lebensjahre achtzehn bis einundzwanzig. Besonders schwer dürfte auch ihn die Erkenntnis getroffen haben, daß das Vaterland, für das er den Kopf hatte hinhalten müssen, nichts als ein schlimmer Betrug gewesen ist der das Wort zur doppelten Lüge machte und die Opfer dreifach sinnlos.

Ich male, also bin ich.

Ein Satz wie dieser hat ihn ins Leben zurück gebracht. Das war nicht selbstverständlich. Den damaligen Heimkehrern standen weder Psychologen noch Therapeuten zur Seite, sie mussten allein klarkommen mit sich und ihren Erlebnissen.

Nach all den dunklen Jahren waren es zuerst die farbenfrohen Bilder der französischen Impressionisten, die Manfred anregten und ihn schließlich bewegten, selbst zum Pinsel zu greifen.

Dank zahlreicher fruchtbarer Freundschaften zu Künstlerinnen und Künstlern und in ihren Ateliers – er bezeichnete sie später oft als seine Akademien – erwarb er die nötigen Fähigkeiten. Auch die Teilnahme am Abendakt in der Hochschule diente der Lehre und keinesfalls der Schaulust, auch wenn die einem jungen Mann nach Krieg und Gefangenschaft durchaus zu verzeihen gewesen wäre.

Seine berufliche Laufbahn begann er mit dem Studium in Leipzig. Dem Diplom in Soziologie folgten in Dresden Promotion und Habilitation mit philosophischen Themen. Während der damit verbundenen wie daran anschließenden wissenschaftlichen Tätigkeit lag der Pinsel stets in ständiger Reichweite. Ebenso ging es der Geige, die zu seiner besten Freundin geworden war. Sie blieb das auch dann noch, als Gerlinde, die große Liebe seines Lebens begann, seine Tage zu bereichern.

Der Freundeskreis wuchs mit dem Aufgabenspektrum. Stellvertretend will ich hier Karl-Heinz Adler und Friedrich Kracht nennen, mit denen er u. a. den Bauhaus-Gedanken am Leben zu halten suchte.

Als schließlich ein weiteres selbsternanntes Vaterland sich sang und klanglos in Wohlgefallen auflöste, waren es neben Gerlinde wiederum die Farben und die Musik, die ihn auffingen. Glücklich konnte er wiederholen:

Ich male, also bin ich.

So tauchte er ein in die Tiefen der Musik, deren Klänge in ihm zu Farben wurden. Bach, Hindemith, Schönberg, Strawinsky und immer wieder Holst – der von Gerlinde sorgsam edierte Katalog liest sich wie ein Gang durch die Musikgeschichte. Dank der nunmehr offenen Grenzen konnte Manfred die Bilder der Impressionisten im Original erleben, konnte er dorthin reisen, wo die von ihm verehrten Maler gearbeitet hatten. Von überall her brachte er mehr Eindrücke mit unters heimische Dach, als in einem Leben zu bewältigen sind. Und sie alle flossen ein in den Bilderreichtum dieser Jahre: Karneval in Venedig, Musette und Jazz in Paris, Adria, Dubrovnik, Venetien – zufällige Stichworte für ein überreiches Leben:

Ich male, also bin ich.

Die äußeren Gegebenheiten eines Lebens, die Stationen zwischen Geburt, erster Liebe, Heirat und Tod lassen sich in einem Koordinatensystem kartieren. Für Erlebnisse gibt es keine Maßstäbe.

In Manfreds Bildern gibt es keine Winkel, schon gar keine rechten. Seine innere Welt ist nicht erfassbar. Sie zeigt sich in Ideen und Farben, in Musik und Poesie.

Glücklich, wer fähig ist, der Fülle Form geben zu können – auch wenn es zwecklos scheint –
Glücklich, wer fähig ist, die Formen mit Farben zu füllen –
Glücklich, wer sagen kann,
ich male, also bin ich.

Thomas Gerlach, Juli/Aug. 2023

Mit den Texten der brachialromantischen Hausapotheker Dieter Beckert und Jürgen B. Wolff durchs Jahr

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