750 Jahre Kötzschenbroda (1271–2021)

Anlaß für Gedankenspiele zwischen gestern, heute und morgen

Dominierte im Jahr 2020 zunächst die nationale Nachwende-Nabelschau, wurde diese immer mehr von der Corona-Pandemie überlagert. Nur eine kurze Unterbrechung dachte man zunächst, danach geht alles weiter wie bisher. Ein großer Trugschluss! Heute sind wir klüger. Unser Blick hat sich „welt-weit-web“ geweitet.

Sinnspruch an der Fassade des Lügenmuseums
Repro K. (Gerhardt) Baum

Die Corona-Pandemie ist allerdings auch keine Begründung, um gar nichts mehr zu tun, wohl eher eine Herausforderung. Die gesundheitlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen sind noch lange nicht abzusehen. Auch einzelne Bereiche gegeneinander auszuspielen ergibt keinen Sinn. Geplant wird nur noch unter Vorbehalt und mehr oder weniger komplex. Die allzeitbereiten Zukunftsdeuter wurden zunehmend stiller, die sogenannten „Querdenker“ umso lauter. Dabei haben wir doch schon in der „guten Kinderstube“ gelernt: Wer schreit hat unrecht. Aber wie hängt das nun alles mit dem 750-jährigen Jubiläum von Kötzschenbroda zusammen?

Gestern habe ich mir im neuen SZ-Treffpunkt das Buch „Ich habe einen Knall“ von Oliver Kreider gekauft. Die Reaktion meiner Familie: Bist Du verrückt, willst du den etwa noch reicher machen? Natürlich war das nicht der Grund. Ich wollte wissen: Was hat uns dieser Mann mitzuteilen? Was ist ihm so wichtig, dass es in Form eines Buches Verbreitung finden soll? Immerhin schaut Oliver Kreider aus seiner „Friedens“-Burg von oben herab und weit über Radebeuls Grenzen hinaus. Ich wiederum schaue von unten nach oben, erinnere mich an Eierschecke, Apfelsaft, Sonntagsspaziergänge, den schönen Blick und meine kindliche Freude, sobald ich in der Draufsicht unser Haus entdeckt hatte. Die zerstörerische Logik der Treuhand kann ich bis heute nicht nachvollziehen, selbst wenn mich fortan der Ruf als nörgelnde Spaßbremse verfolgen sollte.

Die AG »Machbarkeitsstudie Stadtmuseum« auf Exkursion im Januar 2006 v.l.n.r.: Frank Andert, Gerd Schindler, Frank Thomas,
Dr. Dieter Schubert, Thomas Gerlach, Karin Gerhardt, Prof. Dr. Hans Dieter Blanek Foto: K.U. Baum

Doch das ist eigentlich nur Nebensache, denn spätestens hier wird es wirklich interessant. Aus Gedankenspielereien ergeben sich Fragen wie: Was und wer ist historisch relevant? Wie und wann ist Radebeul zur Stadt in ihren heutigen Grenzen zusammengewachsen? Geschah es freiwillig oder unter Zwang, als 1876 Fürstenhain, 1920 Lindenau, 1923 Naundorf, Zitzschewig und Niederlößnitz nach Kötzschenbroda eingemeindet wurden?

Gelebte Stadtteilkultur – Staffettenstabübergabe von Serkowitz an Zitzschewig im August 2009 zur Veranstaltungsreihe »Radebeuler Begegnungen« im März 2010 Foto: S. Preißler;

Und welches Kötzschenbroda ist nun eigentlich gemeint, wenn wir den 750. Geburtstag feiern: Altkötzschenbroda oder die Ursprungsgemeinde Kötzschenbroda ohne bzw. mit Kötzschenbroda-Oberort? Oder ist die Stadt Kötzschenbroda (mit ihren sechs Ursprungsgemeinden) gemeint, die allerdings nur zehn Jahre (1924-1934) existierte? Also wer ist denn nun ein waschechter Kötzschenbrodaer? Um die Verwirrung noch etwas zu steigern, stößt man auch auf Radebeul 1 bis 6 sowie Radebeul Ost, West und Mitte. Während der Bahnhof Radebeul-West in S-Bahn-Haltepunkt Kötzschenbroda umbenannt wurde, bezeichnete man das inmitten von Kötzschenbroda befindliche dritte Sanierungsgebiet der Stadt Radebeul als Sanierungsgebiet „Zentrum Radebeul-West“. Ich hoffe, die geneigte Leserschaft kann mir noch folgen.

Spannen wir nun den Bogen von der ersten urkundlichen Erwähnung Kötzschenbrodas im Jahr 1271 bis heute, wird uns zunehmend klar, wie wenig wir eigentlich über diesen langen Zeitraum wissen. Skelettfunde belegen, dass dieses Gebiet schon viel eher besiedelt war. Immer wieder fanden Naturkatastrophen, Seuchen, Kriege und gesellschaftliche Umbrüche statt. In guten wie in schlechten Zeiten galt es, den Alltag zu bewältigen. Die Menschen arbeiteten viel und hart. Sie haben sich geliebt, gefreut, gehasst und getötet. Sie haben gefeiert, gebetet, rebelliert und versucht, im irdischen Dasein einen Sinn zu erkennen.

Vieles lässt sich sowohl aus der näheren als auch der ferneren Geschichte lernen. Vorausgesetzt, man wird fündig in öffentlichen Museen und Archiven. Vermutlich weiß ein Großteil unserer künftigen Leistungsträger (Irrtum nicht ausgeschlossen!) mehr über Europa oder Amerika als über die Geschehnisse in Gegenwart und Vergangenheit vor der eigenen Haustür. Andererseits hatte sich schon Radebeuls erster Stadtarchivar Paul Brüll (1892–1983) in den 1960 er Jahren darüber beklagt, dass die Möglichkeiten des Archivs von den Schulen noch zu wenig genutzt werden würden.
Antworten auf Fragen zur Stadtgeschichte erhält man jedoch nicht nur im Stadtarchiv. Fündig wird man u. a. im Sächsischen Weinbaumuseum Hoflößnitz, im Karl-May-Museum, im Sächsischen Schmalspurbahnmuseum, im Lügenmuseum, in der Städtischen Kunstsammlung, in den Heimatstuben Kötzschenbroda und Naundorf, im Bilz-Museum, in den Kirchen und auf den Friedhöfen. Aber auch die Bibliotheken, Buchhandlungen und der Notschriftenverlag haben interessante Lektüre über Radebeul im Angebot.

Karl Reiche am häuslichen Küchentisch beim ordnen seiner handschriftlichen Aufzeichnungen im März 2010 Foto: K. (Gerhardt) Baum

Aufzeichnungen aus eigenem Erleben sind eine besonders wertvolle Bereicherung und lassen Stadtgeschichte lebendig werden. Das Tagebuch von Dr. Wilhelm Brunner (1899–1944), dem letzten Bürgermeister der Stadt Kötzschenbroda, vermittelt Einblicke, unter welchen Umständen die Vereinigung von Kötzschenbroda mit Radebeul von statten ging. Der kötzschenbrodaer Bauer Karl Reiche (1920–2017) wiederum schildert in seiner jüngst erschienenen Autobiografie „Ein Leben mit der Landwirtschaft“.

Zu den wichtigsten Informationsquellen gehören Ortschroniken, Kirchenbücher, Personenstandsregister, Adressbücher, das Stadtlexikon, die Denkmaltopografie, die Schriftenreihe zur Stadtentwicklung, das integrierte Stadtentwicklungskonzept (INSEK), aber auch Festschriften, Vereinsdokumentationen, Brigadetagebücher, Hausbücher und, und, und …. Hinzu kommen Periodika wie „Vorschau und Rückblick“ oder die „Naundorfer Nachrichten“ sowie die lokale Tagespresse. Auch das Spektrum von themenbezogenen Sonderausstellungen ist äußerst vielfältig und aufschlussreich.

Was jedoch in Radebeul fehlt, ist ein zentraler öffentlich zugängiger Ort, an dem sich die Geschichte der Stadt und ihrer zehn Ursprungsgemeinden in aller Komplexität anhand von Sachzeugnissen zu Geologie, Besiedlung, Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Alltag, Politik, Kunst, Kultur, Architektur und Brauchtum sowie zu besonderen Ereignissen, sozialen Strukturen oder Persönlichkeiten usw. übersichtlich nachvollziehen lässt. Dass Radebeul die einzige Mittelstadt in Sachsen zu sein scheint, in der es kein Stadtmuseum gibt, könnte man schon fast als ein Alleinstellungsmerkmal hervorheben.

Wie es dazu kam, dass die Große Kreisstadt Radebeul eine Stadt ohne Stadtmuseum ist, vollzog sich gleitend und fast geräuschlos. Ab Mitte der 1980er Jahre begann sich die Museumsleitung zunehmend auf den inhaltlichen Schwerpunktbereich Weinbau zu konzentrieren. Aus dem einstigen Heimatmuseum Haus Hoflößnitz (bzw. Schloß Hoflößnitz) wurde das Weingutmuseum Hoflößnitz und schließlich das Sächsischen Weinbaumuseum Hoflößnitz. Der plötzlichen Erkenntnis, dass der Stadt Radebeul nunmehr etwas Wichtiges fehlen könnte, folgte die Bildung einer Arbeitsgruppe, welche eine Machbarkeitsstudie für ein künftiges Stadtmuseum erstellen sollte. Als mögliche Museumsstandorte wurden u. a. das ehemalige Postgebäude in Radebeul-West, das ehemalige Rathaus Niederlößnitz, das ehemalige Bahnhofsgebäude in Radebeul-West vorgeschlagen. Alle erarbeiteten Machbarkeits-Varianten wurden 2006 mit der Begründung zurückgewiesen, dass man die raren Steuergelder nicht mit einem Stadtmuseum „verfrühstücken“ könne.

Natürlich ist es preiswerter, sich mit fremden Federn zu schmücken. Doch die Abrechnung erfolgt zum Schluss, wenn man plötzlich als Stadt mit leeren Händen dasteht, so wie bei der Puppentheatersammlung oder dem Zeitreisemuseum.

Auch Träume können schnell zerplatzen. Vom lebendigen Handwerksmuseum in einer ehemaligen kötzschenbrodaer Korbmacherwerstatt blieb dem Verein „Zunftlade Hartmann-Hof e. V.“ nur das sorgfältig und kompetent erarbeitete Konzept. Das Heimatgeschichtliche Kabinett im ehemaligen Rosenhof hat es tatsächlich gegeben – aber leider nur für eine sehr kurze Zeit.

Warum erwähne ich das alles? Weil man aus der Vergangenheit lernen sollte. Andererseits will ich mit diesem Beitrag dazu anregen, einmal in Augenschein zu nehmen, was in den letzten Jahren außerhalb der etablierten musealen Einrichtungen entstanden ist.

Kötzschenbroda im Wandel – Abriss des Nähmaschinenteilewerkes (Nähmatag) im Februar 2013 Foto: K. (Gerhardt) Baum

Eine Sonderausstellung erinnerte im Herbst 2018 an das erste sanierte Gebäude in Altkötzschenbroda vor 25 Jahren Foto: K. (Gerhardt) Baum

Die Heimatstube Kötzschenbroda wurde 2006 eröffnet und befindet sich auf städtischem Grund und Boden im ehemaligen Auszugshaus eines historischen Dreiseitenhofes. Für das fehlende Stadtmuseum ist das natürlich kein Ersatz. In drei Etagen und auf einer Fläche von insgesamt etwa 30 m² können die Besucher etwas über die Geschichte und den gelebten Alltag von Kötzschenbroda erfahren. Die Bewirtschaftung der Einrichtung erfolgt durch die städtische Galerie in Zusammenarbeit mit der AG Kötzschenbroda. Eine Besichtigung ist auf Anfrage möglich.

Die AG Stadtmuseum wiederum durfte von 2010 bis 2013 das Dachgeschoß eines Schulgebäudes für Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Lagerzwecke nutzen. Danach erfolgte der Umzug in die wesentlich kleineren Räume des Wasaparkes, wo sich seit 2014 auch das Radebeuler Stadtarchiv und die Städtische Kunstsammlung befinden. Am neuen Standort haben seitens der AG keine Ausstellungen und Veranstaltungen mehr stattgefunden. Diesbezügliche Aktivitäten erfolgten extern.

Die 2011 eröffnete Naundorfer Heimatstube wird privat betrieben. Im Untergeschoß befindet sich ein Schreib- und Kreativcafé mit reichlich Platz für Workshops und kleine Feierlichkeiten. Im Obergeschoß werden alte Gebrauchs- und Einrichtungsgegenstände sowie Bild- und Textdokumente aus Naundorf gezeigt. Ein Großteil des ausgestellten Spielzeuges kann auch benutzt werden. Vor allem Familien sind herzlich willkommen. Die aktuellen Öffnungszeiten sind der Homepage zu entnehmen.

Das Bilz-Museum im Eingangsbereich des Bilzbadgeländes wurde durch den Bilzbund angeregt und ausgestaltet. In einem kleinen Gebäude mit original erhaltener Bausubstanz wird seit 2012 an das Wirken des Naturheilkundlers und Lebensreformers Friedrich Eduard Bilz (1842–1922) erinnert. Die Besichtigung kann während der Badesaison und darüber hinaus auf Anfrage beim Bilzbund erfolgen.

Zum 350. Jahrestag der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages zwischen Schweden und Sachsen im Pfarrhaus zu Kötzschenbroda wurde 1995 in der Friedenskirche ein Gedenkraum eingerichtet, der an dieses bedeutende Ereignis erinnert und zu den Öffnungszeiten der Kirche frei zugängig ist.

Auch die „Stolpersteine“ auf der Moritzburger Straße in Radebeul-West sind ein wichtiger Bestandteil unserer Erinnerungskultur, die es an die nächste Generation zu übermitteln gilt.

Engagierten Freizeithistorikern, Heimatforschern bzw. Multiakteuren wie Lieselotte Schließer (1918–2004), Isolde Klemmt (1927–2008), Gottfried Thiele (1936–2006), Hans-Georg Staudte, Erika Krause, Gudrun Täubert, Gert Morzinek oder Barbara Mazurek sind kaum jüngere nachgefolgt. Die IG Heimatgeschichte und der Kunstverein haben sich hauptsächlich wegen Überalterung aufgelöst. Gegenwärtig aktiv sind in Radebeul der „verein für denkmalpflege und neues bauen“, der Dorf- und Schulverein Naundorf, der Heimatverein Wahnsdorf, der Bilzbund, die AG Stadtmuseum und die AG Kötzschenbroda. Anzumerken wäre hier allerdings, dass diese Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Letztendlich ist festzustellen, dass in Bezug auf die beschriebene Problematik in Radebeul zahlreiche lose Enden existieren, die es miteinander zu verknüpfen gilt. Wer, was, wann und wo zu stadtgeschichtlichen Themen anbietet, das sollte für interessierte Heimatfreunde und Touristen in Form einer Übersicht unkompliziert ersichtlich sein. Auf den frischen Wind aus dem Radebeuler Kulturamt und die kreativen Impulse der Bürger, Künstler und Vereine sind wir vorurteilsfrei gespannt.

Der 750. Geburtstag von Kötzschenbroda könnte einen würdigen Anlass für Initiativen und Beiträge der unterschiedlichsten Form bieten. Die Redaktion des Monatsheftes „Vorschau und Rückblick“ würde sicher gern darüber berichten.

Karin (Gerhardt) Baum

 

Mit Bernhard Theilmann poetisch durch das Jahr

Coswiger Straße 23

Coswiger Straße 23

Die neuzeitliche Zuordnung des Hauses ist etwas verwirrend, denn es liegt mehr in der Flucht der Meißner Straße als in der Coswiger Straße. Da war die alte Bezeichnung Altzitzschewig Nr. 2 (an der Torsäule) logischer.
Wir sehen hier den Grundtyp eines mittelgroßen Bauernhauses mit Fachwerk an den Langseiten, massivem Giebel und steilem Satteldach vor uns. Es ist aber nur noch der Rest eines ehemaligen Bauernhofes, die Scheune, ehemals auf der Südseite querstehend, fehlt schon lange, für ein Auszugshaus gibt es zZ. keinen Nachweis. Das Anwesen entstand um 1750 und hieß Trobischhof. Das Wohn-Stallhaus brannte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bis auf den nördlichen Giebel ab und wurde danach vereinfacht wieder aufgebaut, wobei der Südgiebel abgewalmt wurde. Bereits vor 1900 wurde die Landwirtschaft in eine Baumschule umgewandelt. Unter Georg Roßberg (Vater und Sohn gleichen Namens) war es das Wohnhaus einer Gärtnerei. Teile des EG wurden zuerst an einen Sattler und Tapezierer vermietet, es folgte ein Friseurgeschäft mit Schaufenstern nach der Straße und schließlich ein Laden der Firma Rodax, die hier Haushaltchemie verkaufte. Als Dr. Bernd Kastler um 2005 das Grundstück erwarb, herrschte Leerstand und beginnender Verfall der Substanz. Es wurde unter Denkmalauflagen und einem Projekt des Architekturbüro Scharrer saniert und dient heute unter dem Namen „Gaumenkitzel“ als Wein- und Speiselokal.

Dietrich Lohse

Aufwachen ins Jahr

Tobias Märksch

Schon vor langer Zeit träumte mir von
Quellen,
die aus dem Dunkelrot eines jeden Neujahrsmorgens steigen.

Doch ist die Nacht dann qualmschwer meist und
klirrt
nicht letztenjahresoft aus zertretenem Pfützeneis.

Mitternachts hatte ich die neue Zahl in
Luft
geschrieben, nur im Schwung sternensprühender Wunder,

und das Ausschlafen ist längst nächsten-
tags
verschoben. Lass uns auf einen Berg in der Weite laufen,

wo Gruß, Vertrautheit und heißer Honigwein zur Aussicht
warten
und ein Rinnsal in das Morgen Flüsse gebiert.

City 74 (Auszug)

für Wolf Biermann
…..

Chausseestr.131
die tür bleibt im schloß
auch nach stunden
wohin jetzt beißen
in diesen unverdaulichen riesenstadtleib

vor dem museum verlernen soldaten das laufen
ihr dompteur alter schule trampelt sich die kälte aus den stiefeln
in die brust und höher
ich atme schwer bei dem gedanken
mein herz wäre gesund die füße müssten
ein zwei drei vier – halt halt! halt
doch was in meiner brust lebt verkürztvielleicht mein leben
dieser scharfe wind von vorn

zwei alte weiber am mitropastand
mit augen wie die böden ihrer kleinen gläser
husten zueinander
„mit seiner krankheit muss man leben“

Biermann
was zwitscherst du in dieser käfigstadt
wo die zukunft ds landes sich der vergangenheit erklärt
die um lager stacheldraht flocht
ihr handwerk nicht verlernen will
ich kann den stadtplan nicht auf ewigem papier gedruckt
sehen
und hab ihn mit seinen argumenten nicht nötig
wie jetzt die havemannsohnballade

Biermann
was wir nicht lieben
wollen wir nicht hassen müssen
flieh nicht in die laue ferne
du würdest schweigen

Berlin ich nehm als gastgeschenk
zwei neue schnipsel pappe mit
nicht sonne für den regenhimmel
oder Adriafrüchte den söhnen
aber eine anklage weinend
die ich wachhalten soll
um den alten Biermann zu sehen
stock und leier vor den enkeln her
als autorisierter fremdenführer im freilichtmuseum
Europäische Große Mauer

Auszüge aus den biographischen Notizen zu Bernhard Theilmann von Detlef Krell

Unser Monatsheft trägt den Untertitel: „für Radebeul und Umgebung“ und so haben wir uns für unsere Lyrikseiten 2021, den leider 2017 verstorbenen Dresdner Lyriker Bernhard Theilmann ausgesucht.

Erinnerungen an Bernhard Theilmann. Den Freund. Den Dichter. Den Familienvater. An das Räuspern des Geschichtenerzählers, an seinen Humor. An den Feingeist. Alexis Sorbas an der Elbe. Billardspieler, Skatfreund, Blueskenner, Chansonliebhaber, Tazabonnent, Bergsteiger, Koch, Hundefreund, Bocciabahnbauer, Maultrommelspieler. An den Raucher, Trinker, den Einzelgeher.
Den Leser, den Wortwerker, den Handwerker. Den Erkrankten. Den Dichter. Den Freund.
Am 28. März 1949 wird Bernhard Theilmann im Kurort Rathen in der Sächsischen Schweiz geboren.
Nach dem Abschluss der 10. Klasse erlernt Theilmann in der Victoria Heidenau den Beruf des Druckmaschinenbauers.
Nach dem Arbeitstag erwirbt er ab 1967 auf der Abendschule in Pirna das Abitur. Sein besonderes Interesse gilt der Literatur, er schreibt Gedichte.
Theilmanns Wehrpflicht endet mit der Ausmusterung wegen eines Herzfehlers.
Theilmann beginnt ein Studium der Kulturtheorie und Ästhetik an der Karl-Marx.Universität Leipzig und beendet es im Dezember offiziell mit der Begründung, er müsse sich um seine Familie kümmern. Mit dem Ausstieg aus dem Studium kommt er seiner Exmatrikulation zuvor.
Am 11. Mai 1972 heiraten Hanna-Rose [Faust] und Bernhard in Leipzig. Er nimmt [ Hanna-Roses
drei Kinder] als Söhne an. Das gemeinsame Kind […]wird 1972 geboren. Bernhard arbeitet als Werkzeugmacher in einer Fabrik für Blechspielzeug. Die Familie wohnt auf 35 Quadratmetern.
Als die Bildhauerin Kathrin Steisinger nach Berlin umzieht, übergibt sie ihre geräumige Wohnung in Dresden an Bernhard Theilmann.
Theilmann arbeitet als Maschinenschlosser, Hanna-Rose führt eine Betriebskantine.
Neben seiner beruflichen Tätigkeit ist Bernhard Theilmann als Lokalreporter unterwegs für das Sächsische Tageblatt. Nach dem unmissverständlichen Angebot eines inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit, die weitere journalistische Karriere durch IM-Tätigkeit zu befördern, betritt er die Redaktion nie wieder.
Gemeinsam mit Michael Wüstefeld wird Bernhard Theilmann aus der Dresdner Arbeitsgemeinschaft
Junger Autoren ausgeschlossen. Beide haben offen ihre Sympathie für Wolf Biermann und ihren Protest gegen dessen Ausbürgerung erklärt.
Beim Rat der Stadt Dresden beantragt Theilmann am 14, Juli 1977 die Druckgenehmigung für fünf Gedichte, die mit fünf Grafiken von [Eberhard] Göschel [dem langjährigen Freund] veröffentlicht werden sollen. Schließlich wird die Druckgenehmigung doch […] erteilt.
Während der Arbeit an der Auflage wissen Göschel, Theilmann und [Jochen]Lorenz [Drucker], daß sie nun einfach weitermachen werden. Gemeinsam mit Peter Herrmann und Ralf Winkler gründen sie die
Obergrabenpresse. Sie ist Druckwerkstatt, Galerie und Verlag. Etwas, das es unter den Verhältnissen der DDR gar nicht geben soll. Die Obergrabenpresse unternimmt mit der Herausgabe von Grafik-Lyrik-Editionen mit höchstem künstlerischen Anspruch nichts direkt Verbotenes, sondern etwas in den Hirnen der damaligen Macht Undenkbares. Theilmann: „Regen von unten.“ Das Credo der Gruppe ist nicht , eine Opposition zu formieren, sondern für sich selbst und ausgewählte Künstler Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, ohne Reglementierung.
Bernhard Theilmann ist nicht [immer] als Lyriker beteiligt.
Er ist der ohne große Worte und ohne Salär anerkannte Geschäftsführer der Obergrabenpresse, bis zu deren Beendigung im Jahr 2003.
Vor den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 engagiert sich Bernhard Theilmann im Bündnis Vereinigte Linke für eine souveräne DDR, die Umwandlung des Staatseigentums in gesellschaftliches Eigentum, Basisdemokratie und Abrüstung.
Im März 1990 erscheint das erste Heft des Stadtmagazins SAX. […] schon im Februar lud er [Bernhard Theilmann] zum Arbeitstreffen in seine Wohnung ein; die Stadt habe eine von der Vergangenheit unbelastete engagierte Zeitschrift nötig. Theilmann wurde als einer der beiden verantwortlichen Redakteure eingestellt.
Bernhard Theilmann vertritt konsequent einen engagierten Journalismus, der sich einmischt in die Belange der Stadt und dabei Haltung bewahrt. Bis 1993 wird er als Redakteur streitbar und geradlinig die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in seiner Heimatstadt hinterfragen und das Profil jeder Ausgabe des Monatsheftes schärfen, auch mit Ausstellungsbesprechungen, Buchrezensionen, Restaurantkritiken, mit Interviews, Porträts und immer wieder gern, bissigen Glossen. Theilmann wird namhafte Autoren für die Mitarbeit gewinnen, jungen Leute entdecken und ermutigen, Anzeigenkunden begeistern, Redaktionsbesprechungen bis in die Nachtstunden führen, wenn es das nächste Heft nötig hat.
Am 4. Oktober 1990 liest der Dresdner Lyriker im Deutschlandsender Kultur seine Gedichte zu Musik des Jazzgitarristen Joe Sachse. Unter den ausgewählten Gedichten: „Ich bin Miguel begegnet“ für Miguel Hernandez Gilabert, der am 28.März 1942, vom Franco-Regime zu dreißig Jahren Haft verurteilt, und im Gefängnis verstorben ist.
Von 1993 an schreibt Theilmann auch für die wöchentliche Szene-Seite der Sächsischen Zeitung.
Theilmann und der Drucker Jochen Lorenz reisen im Sommer 1995 auf Einladung der Künstlerkolonie ArtsAcre nach Calkutta zur Eröffnung der Ausstellung „Shuttle“. Sie ist ein Projekt der Obergraben-presse und der indischen Künstler.
Wieder in Dresden, wird Bernhard Theilmann plötzlich von schweren Krankheitssymptomen befallen. Eine konkrete Ursache wird nicht diagnostiziert.
1996 lädt ein Dresdner Reisebüro Journalisten ein, nach Peru zu fliegen und über die Reise zu berichten. Theilmann schreibt und fotografiert eine Reportage über die Salzterrassen von Maras bei Cuzco und die Menschen, die dort wie zu Zeiten der Inkas das Salz gewinnen.
Bald darauf brechen erneut Symptome seiner Erkrankung hervor. Die Ärzte stellen Borreliose fest.
Im Sommer 2001 erhält der Lyriker ein zweimonatiger Stipendium im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf. Er präsentiert dort die im Vorjahr bei der burgart-presse Rudolstadt verlegte Mappe „Piratensegel“ mit neun Gedichten von ihm und zehn Aquatintaradierungen von Göschel. Die Blätter hängen an einer Wäscheleine, der Dichter ist ganz in Weiß gekleidet. Er spielt auf der Maultrommel und liest seine Texte.
Aus einem Brief vom 23. August 2004:

zerbrochen ist meine maultrommel
die stählerne
geschmiedet
in der form des herzens
die mit mir sang
weil sie mich im atmen verstand

Am 13. August 2017 fällt Bernhard Theilmann ins Koma. Er stirbt im Kreis seiner Familie am 22.August. Seine letzte Ruhestätte findet er im Familiengrab auf dem Johannisfriedhof.

Detlef Krell

Gekürzte Fassung mit freundlicher Genehmigung
von Hanna-Rose Theilmann

 

Radebeuler Miniaturen

Was wird bleiben?
(für N.)

Morgenröte verkündet den neuen Tag.
Auf den Dächern der Häuser und im Geäst der hohen Bäume glitzert Raureif. Die Wiese glänzt wie von tausend Diamanten. Frühdunst schwebt über dem Wasser, und Susanna steigt, aufrecht, stolz und schön und ohne sich weiter um die Blicke der Neugierigen zu kümmern, aus dem Bade. In wärmende Wolle gehüllt setzt sie sich auf die Terrasse, atmet die Frische des erwachenden Tages und lauscht in die Stille hinein. Hin und wieder schwirren, eifersüchtig von den beiden Katzen beäugt, ein paar Meisen ums Vogelhaus. Susanna liebt das sanfte und doch auch harte Klack, mit dem sich die kleinen Federbällchen an die Brüstung krallen. Unten im Park reibt sich das Einhorn den Hals am schorfigen Stamm der alten Eiche und knabbert dann an der Rose.
Was wird bleiben von der Ruhe, sinniert Susanna, wenn der Stillstand Geschichte, die Pandemie bewältigt ist? Werden wir Langsamkeit gelernt haben, oder wird das Rasen noch irrsinniger als vorher?
Da geschieht etwas auch für Susanna höchst Merkwürdiges: Gemessenen Schrittes, ganz der feierlichen Morgenstimmung angepaßt, tritt ein Landschaftsgärtner aus dem Dunst und legt einen Laubbläser vor ihr auf die Terrasse. Mit einer angedeuteten Verbeugung verschwindet er im Ungewissen und macht einem Hausmeisterdienst Platz, der eine Motorsense und einen Laubsauger ablegt. Es folgen, zünftig in Ledermontur und mit Fransen an den Nähten, Biker mit ihren hochgetourten Maschinen, nicht mehr ganz so jugendliche Mopedpiloten, deren Maschinchen sich nur im Vollgas ganz langsam fortbewegen und dabei ein Geräusch verursachen, als würden sie über sich selber weinen. Die Reihe der Bringer reißt nicht ab. Schließlich liegen all die schweren Bohrhämmer vor Susanna auf der Terrasse, die Rüttelplatten, Motorspritzen, Rasenmäher, usw. usf., die uns übers Jahr den Aufenthalt im Freien unerträglich machen. Am Ende deckt ein Lufthansapilot den Kondensstreifen eines Überschallflugzeuges über alles Dargebrachte.
Susanna erhebt sich mit einem Lächeln.
Das braucht nun niemand wehr, sagt sie zum Einhorn und weist mit flinker Hand auf den Stapel der seltsamen Gaben, bring das hier weg, bevor sichs einer anders überlegt.
Die Zeit ist reif, heißt es im Lied.
Drauf steigt sie, ohne sich weiter um die Blicke der Neugierigen zu kümmern, ins Bad.
Leise beginnt es zu schneien.
Der Schnee macht die Stille noch tiefer.

Thomas Gerlach

Ein Tankwart…

Ein Tankwart lässt sich immer finden. Diesmal also sind es die Händler in Radebeul West und vermutlich die übergroße Mehrheit der 1.400 abgegebene Stimmen bei der Bürgerumfrage zum Verkehrskonzept um die Bahnhofstraße. Diese haben, so die Tatsachen, nicht für den Boulevard, aber für die Abschaffung der PKW-Stellplätze im mittleren Teil der Bahnhofstraße gestimmt. Ein SZ-Artikel hatte sie unlängst nochmals darauf hingewiesen und sie offensichtlich aus allen Wolken fallen lassen. Verdutzt rieben sich die Händler und Gewerbetreibende die Augen und meldeten schleunigst ihren Protest an.
Daraufhin rieben sich wiederum die Mitarbeiter der Stadtverwaltung sowie die Stadträte die Augen und verstanden ihrerseits die Welt nicht mehr. Die Händler könnten nicht lesen, so der Vorwurf. Denn der Bürgerwille soll nicht verfälscht werden, meinten andere Stimmen. Abstimmung sei Abstimmung! Schließlich konnte sich ja jeder der wollte, so ein weiteres Argument, umfangreich informieren. In den Beiträge der Tagespresse, im Amtsblatt, der „Westpost“, auf der Internetseite der Stadt, ja auch im Aushang am ehemaligen Bürgertreff stand alles Schwarz auf Weis. Da kann man nun hinterher nicht kommen und etwas ganz anderes wollen! Richtig!
Trotzdem hat irgendetwas nicht funktioniert. Die Leute schienen nicht richtig verstanden zu haben, was beabsichtigt war. Wenn diejenigen, die es unmittelbar betrifft mit der angebotenen Lösung unzufrieden sind, kann doch etwas nicht stimmen. Was aber war hier bloß schiefgelaufen…?

Sind die Bürger zu träge, zu uninteressiert, gar des Lesen unkundig? Nun will ich ja nicht einfach den bundesdeutschen Durchschnitt des funktionalen Analphabetismus von etwa 14 Prozent (laut Wikipedia) auf die Radebeulerinnen und Radebeuler übertragen. Aber man fragt sich schon, woher so kurz vor der alles entscheidenden Beschlussfassung über die Planung zum Verkehrsraum der Bahnhofstraße durch den Radebeuler Stadtrat der plötzliche Unmut bei den Händlern und Gewerbetreibern dieses Gebietes aufgekommen ist. Am „nicht-lesen-können“ kann es jedenfalls nicht gelegen haben, denn der Beitrag in der „Sächsischen Zeitung“ wurde sofort verstanden.

Lag es vielleicht am Amtsdeutsch? Damit haben ja selbst gewiefte Advokaten so ihre Schwierigkeiten. Den geläufigen Ausspruch „ich höre Amtsdeutsch und verstehe nur Bahnhof“, kennt vermutlich jeder. Doch um den Bahnhof kann es nicht gegangen sein, der ist ja längst raus aus dem Spiel. Aber Scherz beiseite… Offensichtlich muss hier ein gravierendes Missverständnis vorgelegen haben. Nur so kann ich mir erklären, dass so viele für die Variante Null, gewissermaßen für Boulevard light, gestimmt haben und nicht gleich für einen Boulevard? Oder hatte es vielleicht an der Null gelegen…?

Die Null ist ja im philosophischen Sinne so etwas wie ein unbeschriebenes Blatt. Häufig klärt man ein nicht gelöstes Problem, indem man einfach nochmals „bei Null“ anfängt. Ich sage dann immer: Alles auf Anfang! War es das, was den Teilnehmern bei der Abstimmung über die drei Varianten der künftigen Verkehrsführung durch den Kopf gegangen ist?. Warum sonst wurde die erste Variante mit „Null“ beziffert, dachte auch ich? Der nicht näher erklärte Zusatz „optimierter Bestand“ auf der Abstimmungskarte enthielt zumindest mit dem Wort „Bestand“ die vermeintliche Bestätigung für diese Annahme, dass sich nichts ändern würde. Nun will ich ja der Stadt keine „Rosstäuscherei“ unterschieben. Aber den Wegfall der Stellplätze als „optimierten Bestand“ auszugeben, halte ich schon für einen üblen Trick, wie der durchaus berechtigte Aufschrei der Händler und Gewerbetreibenden deutlich machte. Denn jeder weiß, dass deren Umsätze in der Bahnhofstraße seit Jahren nicht so blendend aussehen, dass immer mal wieder der Eine oder Andere aufgeben muss und Läden leer stehen. Den Bürgern bei der Umfrage so ein Vorschlag unterzuschieben, der vortäuscht, dass alles bleibt wie es ist und dann doch nicht, ist schon ziemlich starker Tobak!

Aber so manchen Abgeordneten verstehe ich da auch nicht. Geht es nun darum, dass sich das betreffende Gebiet in Radebeul West zu einem funktionierenden Stadtteilzentrum entwickeln soll oder nicht? Da hilft es nicht, wenn man auf den „Tankwart“ einschlägt. Zumindest aber sehe ich am Horizont einen Hoffnungsschimmert: Auf Vorschalg der „Freien Wähler“ sollen die Betroffenen über die nun folgenden Maßnahmen Schritt für Schritt erneut befragt werden. Da werden sicher auch wieder die Stellplätze zur Diskussion stehen. Wann, das kann ich leider nicht vermelden, da diesmal der Redaktionsschluss schon sehr zeitig erfolgte. Auf alle Fälle aber wünsche ich allen Lesern ein schönes Fest und ein hoffentlich besseres 2021,

Euer Motzi.

Wo die meisten Eßkastanien in Sachsen wachsen

Foto: D. Lohse

Bis vorgestern hätte ich gesagt: ist doch klar, in Radebeul natürlich. Hier haben wir fast südliches Klima, der Boden scheint zu passen und mindestens an drei Stellen – im Grundstück der Bilzvilla (Augustusweg 110), im Minckwitzschen Gelände und am Haus Kynast – wachsen und gedeihen viele Eßkastanienbäume. Außer den drei genannten Standorten gibt es hier noch ein paar Einzelstandorte. Eine erste Betrachtung dieser exotischen Bäume finden wir in Heft 3/1992 von V&R. Da kannte ich aber die Eßkastanien im Park von Haus Kynast noch nicht, wo der nach meiner Schätzung mit etwa 300 Jahren älteste Maronenbaum, wie Eßkastanien in ihrer Heimat am Mittelmeer auch genannt werden, steht.
Ein Artikel in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 26. Oktober 2020 machte uns neugierig auf eine größere Ansammlung dieser Bäume in Miltitz bei Meißen. Daraufhin haben wir, meine Frau und ich, bei schönem Herbstwetter einen Nachmittagsausflug nach Miltitz unternommen. Ab Meißen fährt man im Triebischtal ein paar Kilometer flußaufwärts. Das Dorf Miltitz erstreckt sich am linken Ufer der Triebisch vom Fluß den Berg hinauf. Oben angekommen, springen einem zunächst zwei größere Gebäude ins Auge: das überwiegend brach liegende Rittergut, zZ. kein allzu schöner Anblick, und die Kirche dagegen in erfreulicherem Zustand. Von dieser Höhe hat man in westlicher Richtung einen weiten Blick ins hüglige Land der Lommatzscher Pflege mit Feldern, Weiden und Wäldchen.

Die Kirche in Miltitz Foto: D. Lohse

Fast hätten wir den Anfang des Eßkastanienhains von Miltitz übersehen, er beginnt direkt neben dem Friedhof und zieht noch weit in die Tiefe. Ob die Legende stimmt, daß Bischof Benno von Meißen hier den ersten Maronenbaum gepflanzt habe, lassen wir mal offen – diesem Bischof wird mehr zugeschrieben als in ein Menschenleben paßt! Gesichert ist aber, daß Karl von Miltitz, der eine Zeit lang als Sekretär des Papstes im Vatikan tätig war, dort diese eßbaren Früchte kennen und schätzen gelernt hatte. Bei seiner Rückkehr in die heimatlichen Gefilde hatte er eine Tasche voll Eßkastanien mitgebracht und dieselben hier um 1550 in die Erde gesteckt und damit den Grundstock für diesen Hain gelegt. Daß unter den heute reichlich 80 Exemplaren noch ein

Drehwüchsiger Stamm einer Eßkastanie Foto: D. Lohse

Baum von 1550, also etwa 470 Jahre alt, da ist, möchte ich allerdings bezweifeln. Zu verschiedenen Anlässen ist die Anlage verjüngt worden und nach 1945 sind etliche Bäume der Not gehorchend als Feuerholz gefällt worden. Heute kümmern sich die Kollegen vom forstbotanischen Garten Tharandt gelegentlich um den Eßkastanienhain in Miltitz. Apropos Anlage, so wie hier die Bäume stehen, ist der Begriff Park m.E. nicht ganz zutreffend, ich möchte eher von Maronenplantage sprechen. So wie die Bäume hier stehen, kann man fast schon eine Monokultur erkennen. Die Bäume haben wegen der besonderen Lichtverhältnisse hohe Stämme gebildet und tragen nur im Kronenbereich noch Früchte. Höhen von 20 bis 25m wurden hier erreicht, wobei im mittleren Stammbereich nur noch Altholz zu erkennen ist. Davon könnte bei Sturm sogar eine Gefahr für Besucher des Parks ausgehen. Eine Wegeführung ist nur am Anfang der Anlage zu sehen, weiter hinten verliert sich das. Am Ende des Parks stehen, für den Besucher überraschend, eine große Eiche und eine stattliche Platane, sozusagen die Reste eines sonst üblichen Parks. Wir hatten die Haupterntezeit Ende September / Anfang Oktober verpaßt, fanden aber noch eine Handvoll kleinere bis mittlere Früchte.

Eine von 80 Eßkastanien Foto: D. Lohse

Auf der Rückfahrt erkannten wir, daß früher in Miltitz Kalk bergwerksmäßig abgebaut worden ist und daß im Tal in der Furkert-Bartsch-Mühle noch gemahlen wird und die Produkte da verkauft werden.

Sachsenweit ist Miltiz in Sachen Eßkastanien erster Sieger, ich kenne keinen Ort mit mehr als 80 Bäumen, war aber auch noch nicht überall. Und Radebeul ist, obwohl ich hier nicht alle Eßkastanienbäume einzeln gezählt habe, eben leider nur Zweiter!

Dietrich Lohse

75 Jahre Henschel-Verlag

Der nachfolgende Text war ursprünglich für die Nummer 12/2020 vorgesehen, da der Henschelverlag in dem Jahr sein 75-jähriges Bestehen begangen hatte. Leider konnte der Beitrag wegen eines Überangebotes an Texten nicht veröffentlicht werden, so dass dies nun im Januarheft 2021 nachgeholt wurde. Die Redaktion

Die Geschichte des vom Dreher Bruno Henschel 1945 gegründeten „Bühnenvertrieb Henschel & Sohn“ kannten sicher nur wenige begeisterte Theatergänger in der DDR. Der spätere HENSCHELVERLAG, Kunst und Gesellschaft in Berlin (1952–1990) hat die Verlagsphilosophie von Bruno Henschel, Kunst für alle und nicht nur für die Elite, weiter verfolgt. In den 1950er Jahren schenkte Henschel den Verlag „seiner Partei“, der SED. Erstaunlich für die damalige Zeit, dass der Verlag dennoch den Namen seines Gründers behalten durfte.

Die Gestaltung des 2. Bandes der »Geschichte
des Films« besorgte Klaus Nicolai. Die Drucklegung erfolgte bei Sachsendruck Plauen 1976 Archiv Baum

Der Henschel-Verlag war zu DDR-Zeiten ein vielseitige Verlagsanstalt mit einem breiten Angebot von Zeitschriften, Fachliteratur bis hin zu Kunstbänden und natürlich von Textbüchern. Die konnte man über henschel-SCHAUSPIEL beziehen und kostenlos zur Ansicht bekommen. Den Verlag nutzten alle professionellen Theaterhäuser wie auch die Amateurtheater. Ein spezielles Stückangebot für das nichtprofessionelle Theater gab es nicht, wenn man mal von der kurzen Episode 1961 bis 1965 absieht.
Wie alle Verlage hatte auch Henschel immer mal wieder mit „staatlichen Einwänden“ bei der Herausgabe von Texten zu kämpfen. Bei Werken zum Laienpiel war dies eher ungewöhnlich. Dennoch zog der Verlag 1961 die Veröffentlichung des fast fertig gestellten Buches Studenten spielen von der FDJ-Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst zurück. Der Band sollte die Inszenierungen von Heiner Müllers Lohndrücker und Die Korrektur durch das Studententheater dokumentieren. Die Premiere löste allerdings einen republikweiten Skandal aus, der die Absetzung und das Verbot des Stückes, 32 von der SED verhängte Parteistrafen, die Ablösung des Leiters der Gruppe B.K. Tagelehn und dessen Versetzung in die Produktion sowie ein Berufsverbot für den Autor nach sich zogen. Die darauf einsetzende Selbstzensur des Verlages legte fest, dass „die vorliegende Arbeit auf keinen Fall“ veröffentlicht werden kann.
Die Wellenbewegung der Kulturpolitik in der DDR wirkte sich eben auch auf den Verlag aus. Trotz der Ereignisse um die Studenteninszenierung an der Hochschule für Ökonomie, bezogen die Amateurtheater auch weiterhin über den Verlag ihre Stücktexte. Dazu trug vermutlich auch das Wettbewerbssystem der Gewerkschaft bei, mit den Leistungsvergleichen auf allen administrativen Ebenen. Aber auch die Theatergruppen waren an guten Stückvorlagen interessiert.

»AMOK« ist das dritte Stück in der Folge »Trilogie der Erinnerung« von Christian Martin und entstand
zwischen 1987 und 1989. Bei Henschel wurde es 1990 verlegt. Es behandelt das Endstadium
der DDR die »Sehnsucht junger Menschen nach Offenheit und Wärme«, die umschlägt in »selbstzerstörerischen Haß« Archiv Baum

Der 1986 von henschel-SCHAUSPIEL herausgegebene Schauspiel-Katalog enthielt über 1.700 Titel von mehr als 600 Autoren. Darunter das Gegenwartsjugendstück Ich komme, Philadelphia von Brian Friel und das aus dem DDR-Alltag entstandene, gern gespielte, Jochen Schanotta von Georg Seidel wie auch das beliebte Märchen Die kleine Hexe, die nicht böse sein konnte von Maria Clara Machado, welches allein in den sächsischen Bezirken mindestens 15 mal inszeniert wurde. Natürlich fehlten die meisten aktuellen Dramatiker der westlichen Welt, teils auch wegen Mangel an Devisen. Aber Schriftsteller Heiner Müller, der Popstar der 1980er, war genauso für Amateure zugängig wie die Werke des Iren Sean O’Casey oder des Österreichers Jura Soyfer. In der Hauptsache aber wurden von den Amateurbühnen Autoren aus den sozialistischen Ländern und der DDR gespielt. Alle Werke waren bei Henschel ohne Probleme zu erhalten.
Bereits 1952 kam auch der Deutsche Filmverlag zum Henschelverlag, der dann 1972 das erste Buch der fünfbändigen Ausgabe der Geschichte des Films herausbrachte. Das ungeheuer faktenreiche Werk erzählt die Filmgeschichte von 1895 bis 1953. Verfasst wurde sie vom polnischen Filmhistoriker Jerzy Toeplitz, der unter anderem von 1957 bis 1968 Rektor der polnischen Filmhochschule in ?ód? war. Bemerkenswert ist die Verlegung des Werkes durch den Henschelverlag auch deswegen, weil Toeplitz zum Zeitpunkt der Herausgabe des ersten Bandes bereits in Australien weilte. Toeplitz hatte Polen verlassen, weil er im Zusammenhang mit den Studentenunruhen in der Volksrepublik 1968 von der Filmhochschule ?ód? entlassen wurde. Das Originalwerk der Filmgeschichte umfasst sechs Bände. Die Henschel-Ausgabe wurde in fünf Bänden zusammengefasst, welche für die Ausgabe eine Überarbeitung erfuhr.
Der Henschelverlag hatte mit den drei Bereichen Theatervertrieb, Buchverlag und Zeitschriften eine unangefochtene Monopolstellung in der DDR. Die ca. 120 Angestellten brachten im Jahr etwa 75 Bücher heraus, darunter viele Erstausgaben. Wegen seiner vielfältigen Angebote auf den Gebieten Musik, Film, Theater und bildender Kunst waren die Erzeugnisse von Henschel auch im Ausland sehr gefragt. Etwa ein Viertel der gewinnbringend Produktion in den 1980er Jahren war dafür bestimmt.
Nach 1989 stand der Henschel-Verlag auf der Kippe. Es schaltete sich die Treuhand ein und der Verlag ging für eine symbolische Mark über den Tisch, hatte mehrere Besitzer, wurde auseinandergerissen und schließlich durch die Initiative mehrerer Autoren unter Wolfgang Schuch als GmbH neu gegründet. Heute vertritt der Henschel Schauspiel Theaterverlag 900 Autoren mit mehr als 2.000 Werken. Neben der dramatischen Weltliteratur kann man besonders anspruchsvolle Märchenbearbeitungen und Theaterstücke für Kinder und Jugendliche beziehen. Neben Textbüchern hat der Verlag auch die Edition Stücke. Henschel-SCHAUSPIEL aufgelegt. Heute existieren Teile des ehemaligen Henschelverlages als Gruppe Seemann Henschel GmbH & Co. KG mit Sitz in Leipzig im Verlag von Michael Kölmel weiter.

Karl Uwe Baum

 

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