Radebeuler Ansichtskarten – Wie sich Bilder ändern lassen

Sowohl für die alteingesessenen wie die neuen Radebeuler hat die Stadt zahlreiche Aspekte, die von Interesse sind: Bauwerke, Geschichte, Ereignisse… Eine Widerspiegelung dieser Dinge findet sich in einer besonderen Kunstform, den vielfältigen Ansichtskarten die von Radebeul und den Ortsteilen seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts

Abb. 1

herausgegeben wurden. Dieses besondere Format der historischen Zeugnisse hat eine wachsende Zahl von Interessenten. Legendär sind die Sammlungen von Gottfried Thiele, der in den Reihen „Archivbilder“ und „Bilder aus der DDR“ des Sutton Verlags Erfurt Teile seiner Sammlung veröffentlichte und von Gert Morzinek, der in mehreren Bänden des Verlags M. Lange die Stadt Radebeul und seine Ursprungsgemeinden in alten Ansichtskarten darstellte. Natürlich dürfen die beiden Bände von Frau Lieselotte Schließer „Radebeul in alten Ansichten“, herausgegeben von der Europäischen Bibliothek Zaltbommel/Niederlande, in dieser Aufzählung nicht fehlen. Die letzte Publikation dieser Art aus dem Jahr 2018 hat Michael Schmidt unter dem Titel „Grüße aus der Karl-May- und Eduard-Bilz-Stadt Radebeul in historischen Ansichtskarten“ geschaffen und im Sonnenblumen-Verlag Dresden veröffentlicht.

Abb. 2

Die Verlage, die diese Post- und Ansichtskarten vom jetzigen Radebeul anboten sind vielfältig: Der bedeutendste ist sicher Brück und Sohn, Meißen, aber auch Carl Pittius, dessen Nachfahren ein Schreibwarengeschäft in Radebeul-West betrieben, das den älteren Radebeulern noch in guter Erinnerung sein dürfte, hat viele Ansichtskarten herausgegeben. Daneben gibt es eine Reihe Dresdner und kleinerer Radebeuler Verlage.

Abb. 3

Befördert wurde der Verkauf von Ansichtskarten durch die zunehmende Beliebtheit der Lößnitz als Ausflugsort

Abb. 4

der Dresdner. Besonders für Ausflugsziele wie Friedensburg, Meierei, Bilzbad oder Spitzhaus gab es Ansichtskarten in großer Vielfalt von den verschiedensten Verlagen. Veränderungen im Stadtbild waren für diese Verlage eine Herausforderung. So wurde die schöne Ansicht der Friedensburg mit der Niederlößnitz durch den Bau des Wasserturms 1914 plötzlich unmodern. Veraltete Ansichtskarten ohne den neuen Turm zu verkaufen, schien problematisch zu sein. Also fügte man dieses Bauwerk im Druckstock manuell hinzu, wie es die Ansichtskarten des Verlags Albert Ernst aus Dresden erkennen lassen. Von diesem Verlag gab es viele Ansichtskarten mit Bildern aus den ehemaligen Radebeuler Orten. Den eingefügten Wasserturm kann man trotz des Versuchs durch eine gleichzeitige Änderung der Handkolorierung von einem Sommerbild zu einem Frühjahrsaspekt deutlich als Fälschung erkennen (Abb. 1 und Abb. 2).
Die Ansichten auf den Karten sollten ja besonders schön sein. Manchmal fanden die Ansichtskarten-Produzenten offenbar Strommasten als störend für die Harmonie des Bildes und retuschierten sie in der Nachauflage einfach weg.

Abb. 5

Das kann man an Beispielen aus den 50er Jahren sehen. Aus dem Verlag Brück und Sohn, Meißen, stammt die Karte von der Bahnhofstraße (Abb.3) und aus dem Verlag A. & R. Adam, Dresden, die Karte, die die Straße „An der Jägermühle“ abbildet (Abb.4). Der gewissenhafte Historiker muss also bei Ansichtskarten vorsichtig sein und mit geschönten Darstellungen rechnen.
Kurios sind dagegen die Karten aus dem Verlag von Carl Pittius, die die Häuser Lößnitzgrundstraße 38 zeigen, über die Dietrich Lohse in Vorschau und Rückblick im Heft 06/2017 berichtete. Postalisch gelaufen sind sie 1915 und 1917. Warum wohl haben die beiden Damen vor dem Grundstück den Verleger gestört (Abb.5)? Sollten sie vielleicht nicht von der imposanten Stromtrasse des gerade in Betrieb gegangenen Elektrizitätswerks in der ehemaligen Pönitzschmühle ablenken, die Radebeul mit Strom versorgte?
Nun sind diese Beispiele Zufallsfunde. Bei der großen Zahl von hergestellten Ansichtskarten ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man noch mehr solcher Bearbeitungen finden kann.

Wilfried Rattke

Weißes Roß

Der Januar

Winterimpressionen im Innenhof Foto: Archiv C. Grün

Wenn das lang herbeigesehnte Weihnachtsfest vorbei war – wie lang erschien uns Kindern damals ein Jahr – dann begann es langsam mit dem Schnee. An so genannte „Grüne Weihnachten“ kann ich mich oft erinnern, im Januar blieb der Schnee dann meist liegen. Ungeduldig waren schon die Schlitten aus der „10“, dem unteren Vorraum des Garagenbodens, hinter unseren Kinderfahrrädern hervorgeholt und von Staub und Spinnweben befreit worden. Wolfgang schmirgelte mit Sandpapier die Kufen ab und rieb sie mit Speckschwarte ein. Ich kann mich noch erinnern, dass ich einmal lange am Kinderstubenfenster gestanden habe und mit Inbrunst „Schneeflöckchen Weißröckchen“ gesungen habe. Und dass es dann tatsächlich zu schneien anfing, ein kleines Kinderwunder.

Endlich hatte sich der Grasgarten in eine weiße, in der Wintersonne flimmernde Fläche verwandelt. Immer wieder war ich angetan von den bunt funkelnden Schneekristallen. So stellte ich mir den Eispalast der Schneekönigin hoch oben im eisigen Norden immer vor, strahlend und gleißend. Über die unberührte weiße Fläche durfte um nichts in der Welt drübergelatscht werden, nur dort, wo die Schlitten eine Spur zogen. Wolfgangs Schlitten war neu, sehr stabil aus hellem, lackiertem Holz, bei Leiter-Franke gekauft. Ich musste, wie in vielen Dingen, Muttels Utensilien aus ihrer Kinderzeit benutzen, auch z.B. den Schulranzen. Mein Schlitten war lang und schmal und hatte nur einen Sitz im hinteren Drittel aus Leinwand. Da diese morsch geworden war, bekam der Schlitten längs und quer ein Gurtband gespannt, angefertigt vom Polstermeister aus Wahnsdorf. Er besserte jeden Sommer auf dem Garagenboden die in sein Fach schlagenden Möbel aus und hatte eine etwas wimmernde Stimme. Oma verbot uns strengstens darüber zu lachen. Dann war in unserem Schlittenarsenal noch die Käsehitsche vorhanden, klein und einsitzig.

Vater Pätzold, das Faktotum Foto: Archiv C. Grün

Mit Begeisterung wurde im Hühnergarten Schnee zu großen Ballen gerollt, die dann zu einer Schneebude verbaut wurden. Ich kann mich noch erinnern, dass Wolfgang hineingekrochen war und plötzlich der ganze Bau über ihm zusammenbrach. Ein älterer Junge, er hieß Lipsky, zog Wolfgang an den Beinen heraus, es war wirklich Eile geboten. Ältere Kinder waren bei Oma und Muttel nicht so beliebt, beide waren davon überzeugt, dass sie uns nur zu Unfug verleiteten. In diesem Fall war es aber recht gut, dass ein älterer dabei war. Infolge dieses Geschehens wurde das Bauen von Schneebuden strikt verboten. Aber findig wie wir waren, fanden wir eine große Holzkiste, die wir mit Schnee umpappten. Vater Petzold, Omas Haus- und Hoffaktotum, nagelte einen Sack vor die Öffnung, so konnten wir trotz der Kälte eine Weile darinnen hocken.

Wir sind natürlich auch viel rodeln gegangen. Erst in der Nähe, dann wurde mit zunehmenden Alter der Aktionsradius immer mehr erweitert. Nähe, das bedeutet, dass wir den Hof und den kleinen Abhang unserer Wiese am Mühlweg hinunterfuhren. Die Obstwiese war damals noch nicht aufgefüllt und stand bei Hochwasser, welches der Lößnitzbach mit sich brachte, ständig unter Wasser. Die bis hinunter an die Kleinbahnschienen über die Lößnitzgrundstraße hinweg war dann einige Winter unsere Rodelbahn. Autos gab es kaum, es war Kriegszeit. Nachdem wir eine Weile mit den Schlitten solo gerodelt waren, wurde Bob gemacht. Alle vorhandenen Schlitten wurden hintereinander zusammengebunden und vornweg Wolfgang mit seinem stabilen Gefährt. Am Ende hing die Käsehitsche dran, die während der Abfahrt unheimlich hin und her schlenkerte. Und damit komme ich auf Gunther. Er war ein sogenannter Mongoloid, etwa zehn Jahre älter als wir, aber auf unserer Entwicklungsstufe stehengeblieben. Seine Mutter war froh, wenn er mit uns ziehen konnte. Zu unserer Ehre sei gesagt, so richtig geärgert haben wir ihn nicht. Allerdings wurde er auf Kinderart zu Handlungen genutzt, zu denen keiner Lust hatte. Er musste verschossene Bälle zurückholen, oftmals aus dem Gestrüpp. Oder er musste herbeiholen, was wir gerade so brauchten. Gunther tat ziemlich freudig, was wir von ihm verlangten, hatte er es satt, ging er nach Hause. Beim Bobfahren war es für Gunther selbstverständlich, dass sein Platz auf der Käsehitsche war. Er konnte sich meistens nur bis zum halben Berg halten, dann warf es ihn hinunter. Unverdrossen wartete er oben am Abfahrtspunkt, um dann wieder auf der Hitsche Platz zu nehmen. Gunther trug gestrickte weiße Fingerhandschuhe, die von unseren bunten Fäustlingen seltsam abstachen. Er starb in den Hungerjahren nach 1945, weil er die ungewohnte Nahrung strikt verweigerte.

Gefährlicher zum Rodeln war die Haarnadelkurve (oberer Teil der Hoflößnitzstraße) oberhalb der Grundmühle. An einen Unfall aber kann ich mich nicht erinnern, Der Sternweg, er geht vom Augustusweg vor der Baumwiese rechts ab, war auch eine beliebte Rodelbahn. Nur waren wir meist zu faul bis dahin zu laufen. Und zu Seiferts Wiesen nach Wahnsdorf sind wir später nur mit Skiern hingekommen. Das waren so unsere Winterfreuden bis weit in den Februar hinein, wenn der Schnee liegen blieb.

Zuhause wurde mit den Spielsachen gespielt, die wir zu Weihnachten bekommen hatten. Die Regale und Schubfächer von Wolfgangs Kaufmannsladen und meiner Puppenküche waren vom Weihnachtsmann neu aufgefüllt worden. Das waren leckere Dinge aus Marzipan, Butterstückchen in Kleeblattform, Würste und Brote und auch buntbestreute Schokokladenplätzchen. Leider war der Vorrat in meiner Puppenküche schnell verbraucht und so bediente ich mich heimlich in Wolfgangs Kaufmannsladen. Wenn er die leeren Fächer aufzog, bezog ich regelmäßig meine Dresche. Meine Puppen, sechs an der Zahl, die Brunhilde, die Krimhild, die Heidi, die Steffi, die Ursel und der Puppenjunge Siegfried waren von Muttel auch neu eingekleidet worden. Sie, die für Näherei sonst nie einen Nerv hatte, entwickelte sich zu einer wahren Modistin.

Als Juttel in das Alter kam, dass sie meinen blauen Puppenwagen kriegen sollte, wurde mein großer Weihnachtswunsch, lang ersehnt, endlich erfüllt. Ich bekam einen schicken Puppensportwagen, die damalige Bezeichnung für Wagen für Kleinkinder, die aus dem Babyalter heraus waren. Dieser elegante Wagen war der Stolz meiner Puppenzeit. Leider haben meine Herren Söhne später alles zur Minna gemacht, indem sie damit, mit allem Möglichen beladen, im Hof herumkapriolten. Jungen fehlt eben für so etwas der Sinn.

Das war der Januar unserer Kinderzeit.

Christa Stenzel/ Christian Grün

Baum erneut ausgezeichnet

Auszeichnungsakt zur Vergabe des 3. Hauptpreises für Sächsische Heimatforschung 2024 im Klemperer-Saal der SLUB am 15. November 2024.
Die Personen von l. n. r.: Gerald Heine, Abteilungsleiter beim Staatsministerium für Kultus, Martin Munke von der SLUB, die Autoren Karl Uwe Baum und Roland Friedel sowie René Misterek vom Landesverein Sächsischer Heimatschutz e. V. Foto: K. (Gerhardt) Baum

Interview mit Landespreisträger für Heimatforschung

Karin (Gerhardt) Baum im Gespräch mit Karl Uwe Baum über seine kürzlich erfolgte Auszeichnung mit dem Sächsischen Landespreis für Heimatforschung für die Arbeit Die letzte Nummer. Geschichten aus einem Landesverband.

Nach dem du bereits 2020 für deine Webseite www.amateurtheater-historie.de den Sächsischen Förderpreis für Heimatforschung erhalten hattest, konntest Du im November letzten Jahres erneut einen Preis entgegennehmen.

Ja, darüber freue ich mich natürlich sehr. Den 3. Hauptpreis habe ich zusammen mit meinem Freund Roland Friedel aus Leipzig erhalten für unsere gemeinsame Arbeit über den Landesverband Amateurtheater Sachsen e.V., in dem wir über 20 Jahre mitgewirkt haben.

Der dritte Preis ist für Viele so etwas wie ein Trostpreis. Wie siehst du das?

Natürlich nimmt man an so einem Wettbewerb teil, um zu gewinnen. Und ich würde lügen, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Aber es handelt sich hier ja nicht um eine Klassenarbeit. Man muss sich einer Jury stellen und die hat in dieser Kategorie halt nur einmal eine Note EINS zum vergeben. Zum Wettbewerb 2024 wurden landesweit immerhin über 50 Arbeiten eingereicht, da sind wir mit dieser Platzierung schon sehr zufrieden.

Der sächsische Landeswettbewerb für Heimatforschung ist sehr breit aufgestellt. In einem „Orchideen-Fach“ wie dem euren, ist es sicher schwer, in so einem Wettbewerb zu bestehen.

Meines Wissens ist unser Beitrag von 2024 und sind die von mir 2017 und 2020 eingereichten Beiträge bisher die einzigen Arbeiten zum Thema nichtprofessionelles Theater, die sich für den Landespreis beworben haben. Aber einen wirklichen Überblick habe ich natürlich nicht, da keine Listen über die bisher vorgelegten Arbeiten zugängig sind.
Vergangenes Jahr wurden Werke ausgezeichnet, die sich u.a. mit Themen wie Archäologie, Tieren und Pflanzen in einer Bergbaufolgelandschaft, Geschichten aus Riesa, Historisches aus einer Familienstiftung oder Bergbau im Erzgebirge beschäftigten. Auch einem Film über Falkenstein wurde geehrt. Da ist Theater eher eine ausgemachte Seltenheit, noch dazu, wenn das Thema in der heutigen Zeit verortet ist.

Um was geht es eigentlich in eurer Arbeit konkret?

Einerseits beschreiben wir aus unserer Erinnerung die Entwicklung des Verbandes seit seiner Gründung 1990 bis 2013. Andererseits zeigen wir in der Arbeit auf, wie die Transformation des Amateurtheaters der DDR in eine andere Gesellschaft erfolgte und wie die Akteure mit den anderen kulturpolitischen Verhältnissen zurechtgekommen sind. Hier wird weniger theoretisiert, vielmehr werden konkrete Begebenheiten beschrieben und Problemfelder aufgezeigt.

Wie muss man sich das vorstellen?

Im Abschnitt „Strukturfalle mit Atempause“ beispielsweise beschreiben wir, wie der Verband 2004 aus der Förderung durch das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst herausgeflogen ist und was er daraufhin unternommen hatte. Wir haben dann sofort sehr scharf reagiert und den Vorgang öffentlich gemacht. Darauf sah sich das Ministerium veranlasst, seine Entscheidung zurückzunehmen. Aber 2005 büßte der Verband wegen diesem „unfreundlichen Akt“ die Hälfte seiner Vorhaben ein.
Die Arbeit enthält noch weitere Fälle, bei denen es zu Auseinandersetzungen mit Behörden und Einrichtungen gekommen ist.

Es gab aber sicher nicht nur negative Erlebnisse?

Natürlich nicht! Da wären wir beide vermutlich auch nicht über 20 Jahre dabeigeblieben. Die vielen erfolgreichen Projekte, die besonders ab 2000 einsetzende dynamische Entwicklung des Verbandes, die Etablierung des Sächsischen Amateurtheater-Preises 2007 und die Schaffung der Preis-Skulpturen von den Radebeuler Künstlern Gabriele und Detlef Reinemer und viele andere erfreuliche Ereignisse wurden ebenso genannt und mit reichlichen Abbildungen versehen
Das alles hat Martin Munke von der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek auch in seiner Laudation zur Preisverleihung sehr warmherzig beschrieben, freilich nicht im Detail ausgeführt.

Wie soll es nun weitergehen?

Zusammen mit dem Landesverband Amateurtheater werden wir 2025 die Arbeit als Publikation in einer kleinen Auflage im Eigenverlag herausbringen. Gegenwärtig befassen wir uns mit der Überarbeitung des Textes. Eventuell wird es zu einer kleinen Erweiterung kommen, ergänzt durch zusätzliche Abbildungen. Sicher hat die Arbeit nicht das Zeug zu einem Bestseller, obwohl der Text durchaus unterhaltend und spannend verfasst ist. Wir sind aber sicher, dass das Buch nicht nur in Fachkreisen seine Leser finden wird. Die Publikation Auf der Scene. Gesichter des nichtprofessionellen Theaters in Sachsen von 1500 bis 2000, die der LATS 2013 herausbrachte und an der Roland Friedel und ich beteiligt waren, ist heute u. a. an allen deutschsprachigen Hochschule gelistet.

Da kann ich euch für 2025 nur viel Erfolg bei der Herausgabe der Publikation wünschen. Danke für das Interview.

Karin (Gerhardt) Baum

Im Auftrag der Redaktion von Vorschau & Rückblick.

Nie wieder ist jetzt!

Stolpersteine für Gertrud und Wilhelm Schaye in Radebeul Augustusweg 1, Foto: T. Bendel

Am 27. Januar 2025 jährt sich die Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagerkomplexes bei Auschwitz in Ostoberschlesien, Sinnbild des Holocaust, durch die sowjetische Armee zum 80. Mal. Seit 1996 wird dieses Datum im vereinigten Deutschland in einem umfassenden Sinne als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. In Radebeul ist es seit 2010 gute Tradition, dass Schüler einer der örtlichen Oberschulen bzw. Gymnasien aus diesem Anlass eine Gedenkveranstaltung organisieren, bei der sie Ergebnisse ihrer Beschäftigung mit bestimmten Aspekten der NS-Diktatur und ihren Opfern öffentlich vorstellen.
In diesem Jahr wird das Gedenken einmal mehr durch Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 10 des Radebeuler Lößnitzgymnasiums gestaltet, die dazu am Montag, den 27. Januar um 18 Uhr in die Aula ihrer Schule, Steinbachstraße 21, einladen. Antonia Ubbelohde und Lenja Grötzsch aus der 10 B, die die Federführung übernommen haben, geht es diesmal besonders darum, dass Jung und Alt bei dieser Gedenkstunde über historische, aber auch über aktuell-politische Fragen ins Gespräch kommen. Anknüpfungspunkte für die Diskussion werden drei Impulsvorträge bieten, in denen die SchülerInnen Opfergruppen der NS-Herrschaft vorstellen, die wegen ihrer politischen Einstellungen verfolgt wurden, und die NS-Verbrechenskomplexe der Vernichtung »unwerten Lebens« im Rahmen der sogenannten Euthanasie sowie der aus rassistischen Motiven betriebenen »Ausrottung« der Juden Europas thematisieren.
Für Antonia Ubbelohde, die im vergangenen November in Köln – als einzige Teilnehmerin aus Sachsen – zur Anne-Frank-Botschafterin ausgebildet wurde, ist es dabei wichtig, die vom Anne-Frank-Zentrum formulierten Ziele dieser Funktion mit Leben zu erfüllen. Auf der Website des Zentrums heißt es dazu: »Mit ihren Aktionen leisten die Anne Frank Botschafter in ganz Deutschland einen wichtigen Beitrag für eine demokratische Gesellschaft und für das Gedenken an Anne Frank und den Holocaust. Als selbstbewusste Vorbilder inspirieren sie andere Jugendliche, sich ebenfalls mit Diskriminierungsformen in Geschichte und Gegenwart auseinanderzusetzen und sich für eine lebendige Erinnerungskultur und eine partizipative Gestaltung der Gesellschaft einzubringen. Das Lernen über die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust bietet dabei eine besondere Chance: Es zeigt, wie sehr gesellschaftlicher Wandel vom Handeln Einzelner abhängig ist und welche Gefahr darin liegt, wenn Gesellschaften ihre humanen Werte verlieren.«
Schülerinnen und Schüler des Lößnitzgymnasiums engagieren sich seit Jahren aktiv und mit neuen Ideen für die Erinnerungskultur in Radebeul. So übernahm die Schule 2024 die Patenschaft für die am 17. Juni am Grundstück Augustusweg 1 neu verlegten Stolpersteine für die vom NS-Regime wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgten Radebeuler Gertrud und Wilhelm Schaye, und ein von Geschichtslehrerin Tanja Bendel betreutes Schülerteam entwickelte seit 2022 mit der Actionbound-App eine interaktive Stadtführung zum Thema »Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens in Radebeul (1933–1945)«, die seit Anfang September letzten Jahres online ist. Auch über dieses Projekt soll bei der Gedenkstunde am 27. Januar informiert werden. Daneben stehen musikalische Darbietungen von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums auf dem Programm.
»Die Erinnerung an das Vergangene ist der Schlüssel zur Zukunft«, lautet das Motto der Veranstaltung. Den engagierten Jugendlichen ist zu wünschen, dass möglichst viele am Thema interessierte Radebeuler ihrer Einladung Folge leisten und sich aktiv in die Diskussion einbringen. Die Aula des Lößnitzgymnasiums ist barrierefrei zu erreichen, und: »Nie wieder ist jetzt!«

Frank Andert

Perspektivwechsel

Eine Weihnachtsgeschichte aus unserer Zeit
An der Kasse war es dann doch überraschend schnell gegangen, der vollgepackte Wagen mit dem Feiertagseinkauf musste nur noch zum Auto gerollt werden. Er ging noch einmal die Einkaufsliste durch – ja, er hatte an alles gedacht. Norwegischer Bio-Lachs für Heiligabend, Geflügel aus regionaler Schlachtung für den ersten und Grillgemüse mit Schupfnudeln für den zweiten Feiertag, dazu gute Weine, Obst, Brötchen, Brot, Milchprodukte und Aufstriche für vier Tage. Weihnachten konnte kommen. Ziemlich teuer das Ganze, dachte er, aber was soll’s. Man gönnt sich ja sonst nichts. Wozu geht man arbeiten. Bloß gut, dachte er, dass er nicht so genau auf den Cent schauen musste. Er bedauerte insgeheim diejenigen, die sehr genau überlegen und rechnen mussten. Ein Netz mit 1,5 kg Orangen oder doch lieber acht Äpfel in der Pappschale? Für ihn stellte sich die Frage nicht, er hatte beides mitgenommen. Er hatte sich an der Supermarktkasse beim Warten umgeschaut und gewundert, was andere Leute vor ihm so auf das Band legen. Der schlecht rasierte alte Mann. Die junge Mutter mit zwei quengelnden Kindern. Die Frau mit den strähnigen Haaren hinter ihm. Sollten das tatsächlich Weihnachtseinkäufe sein? Er war schon auf dem Weg zum Auto, als er sich erinnerte, dass er noch Fahrkarten für die Straßenbahn kaufen wollte, in der Innenstadt würde man schlecht parken können. Eine 4er-Karte, damit er sich am Abend nicht darum kümmern müsste. Er stellte fest, dass ihm auch Bargeld fehlte. Nach der Christvesper wollte er wie immer etwas in den Korb am Ausgang werfen. Wie sagte der Pfarrer immer? „Es darf gerne rascheln.“ Er schob den Wagen zum Geldautomaten und tippte den Betrag ein. Ein Bekannter grüßte im Vorübergehen, wünschte „Frohe Weihnachten“, im Reden nahm er die Karte aus dem Schlitz, steckte sie ein, wandte sich wieder dem Bekannten zu, sie gingen scherzend nach Draußen, ein Händedruck und schon packte er alles in seinen Tesla. Er brachte den Einkaufswagen zurück und ging zum Fahrkartenautomaten. Er traf die Auswahl und wurde zur Zahlung aufgefordert. Das Portemonnaie aber war leer. Die paar Münzen reichten nicht.
Jedes Jahr das Gleiche. Weihnachten steht vor der Tür und hinten und vorn fehlt das Geld. Ach was, schlimmer wird’s mit jedem Jahr. Was soll’s, sagte sie, es wird schon gehen. Wie es halt immer gegangen ist. Süßkram für die Enkel, für Tochter und Sohn irgendwelche Artikel aus der Werbung. Vielleicht kann Yvonne ja doch eine neue Küchenwaage gebrauchen. Die hier sieht ja ganz gut aus und ist sogar von einer Marke. Für Marco ein Set mit Schrauben und Dübeln. Wo er doch immer so gern handwerkt. Das braucht er sicher. Irgendwann mal. Oder auch nicht. Sie seufzte und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es auf die Geste ankäme. Für sich selbst erwartete sie gar nichts. Besser so, als dann enttäuscht werden. Sie stand an der Kassenschlange und schaute sich um. Der Mann vor ihr, was sich der alles leisten kann. Lachs. Geflügel von der Frischtheke wie es scheint, Wein und sonstwas. Der verdient bestimmt gut. Hat der’s gut. Packt sich seinen Wagen voll und macht sich’n Lenz mit seiner Familie. Wenn der wüsste, wie es anderen Leuten geht. Der kennt das gar nicht. Muss sich nicht überlegen, ob 1,5 Kilo Orangen oder 1 Kilogramm Äpfel. Der nimmt einfach beides. Jetzt bezahlt er. Für den Betrag würde sie Sachen für drei Wochen holen. Weg isser. Dann war sie an der Reihe. Es dauerte nicht lange und sie hatte bezahlt. Bar natürlich. Sie packte ein und dachte eine Weile nach. Eigentlich müsste sie noch zum Bäcker, wenigstens einen halben Stollen für Heiligabend und die Feiertage. Das Geld im Portemonnaie reichte nicht, also musste sie Geld holen. Sie überschlug den Kontostand im Kopf. Noch vier Werktage bis wieder Geld vom Amt kam. 20 Euro müssen reichen, dachte sie, und ging zum Geldautomaten. Niemand stand dort, sie würde nicht warten müssen. Sie war noch gar nicht richtig angekommen, da sah sie im Geldausgabeschlitz ein Bündel Scheine. Sie nahm es, blickte sich um. Wer war vor ihr dort gewesen? Sie wartete. Würde jemand kommen? Sie wartete. Was sollte sie machen? Sie wartete und dachte dabei an den Stollen. Sie dachte daran, was sich ihre Enkel vom Weihnachtsmann gewünscht hatten. Sie dachte an Yvonne und Marco und wie die beiden schufteten und dann doch kaum etwas am Monatsende übrig blieb. Sie dachte auch daran, was sie sich so sehnlich wünschte. So lange war sie schon nicht mehr beim Friseur gewesen. Sie blickte sich um, nahm das Geld, steckte es ein und ging.
Offenbar hatte er das Geld liegen lassen. Wie dumm! Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass ihm das noch nie passiert war. Schnellen Schrittes ging er wieder zum Geldautomaten, vielleicht war das Geld noch da. Es war weg. Er ärgerte sich über sich selbst und kurz darauf hob er die gleiche Summe noch einmal ab, steckte das Geld ein, holte sich die Fahrkarten und ging Richtung Parkplatz. Vielleicht hat das Geld jemand gefunden, der es gut gebrauchen kann, dachte er bei sich. Bei dieser Vorstellung wurde ihm etwas wohler zumute und es durchzuckte ihn in der Gedanken, als würde seine Vergesslichkeit womöglich etwas mit Weihnachten zu tun haben. Auf dem Weg zurück zum Auto musste er beim Friseur vorbei. Durch die Scheiben erkannte er die Frau mit den strähnigen Haaren wieder. Sie schien sehr glücklich zu sein, denn sie lächelte versonnen vor sich hin. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Es wurde das schönste Weihnachtsfest seit langem. Für beide.

Bertram Kazmirowski

 

Ehrung für Robert Bialek

Robert Bialek, flankiert von Barbara Meyer und Andreas Brzezinski, Foto: Rico Thumser/Leipzig

Auf der Denkmalmesse in Leipzig wurde der Radebeuler Baumeister* Robert Bialek (Chef eines Baubetriebes in Coswig) am 8. November 2024 mit einem Sonderpreis für Putzarbeiten und Putzgestaltung ausgezeichnet. Eingereicht hatte er seine Arbeit zur Erhaltung bzw. Erneuerung eines Putzbildes (Sgrafitto) des Künstlers Hermann Glöckner von 1955. Hierbei handelt es sich um ein großes, dreilagiges Putzbild am ehem. Klubhaus des AWD, Turnerweg 1, in Radebeul. Er hat damit eine alte, fast vergessene künstlerische Putzgestaltung wieder aufleben lassen.
Die Ehrung Bialeks wurde mit einer Urkunde in Leipzig in feierlicher Form von Barbara Meyer, Staatssekretärin im Sächsischen Staatsministerium für Regionalentwicklung und Andreas Brzezinski, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Dresden vorgenommen.
In Radebeul ist Robert Bialek, ganz abgesehen von der og. Arbeit, längst kein Unbekannter mehr. Stellvertretend seien hier seine Baustellen am Haus Kynast, am Bismarckturm und die laufende Arbeit am Pavillon des Mohrenhauses genannt. Dazu kommt auch seine langjährige Mitarbeit im Radebeuler „verein für denkmalpflege und neues bauen“.
Wir gratulieren Robert Bialek ganz herzlich zu der besonderen Ehrung!

Petra Ploschenz und Dietrich Lohse

* Die alte Berufsbezeichnung wurde bewußt angewendet, weil alte Häuser „sein Ding“ sind.

Zusammen 52 Jahre im Dienst von „Vorschau & Rückblick“

Dietrich Lohse und Karl Uwe Baum feiern einen runden Geburtstag

Karl Uwe Baum

Dietrich Lohse

Sein Entschluss, am 31. März 1990 zur Eröffnung einer Fotoausstellung in das Schloss Hoflößnitz zu gehen, sollte für Dietrich Lohse ungeahnte Folgen haben, denn sein Besuch mündete schließlich in einem Beitrag im Juni-Heft der gerade erst aus der Taufe gehobenen Monatszeitschrift „Vorschau & Rückblick“. Unter der Überschrift „Ein Kompliment für die Fotografin“ fasste der Autor seine Eindrücke des Samstagabends unterhalb der Weinberge zusammen. Was er damals wohl selbst nie für möglich gehalten hätte: Knapp 35 Jahre später ist Dietz, wie er von allen von uns kurz und bündig genannt wird, immer noch Mitglied der Redaktion! Langjährige Leserinnen und Leser kennen Dietrich Lohse vor allem als unseren Mann für Denkmalpflege, Baugeschichte und architektonische Details, aber in den Anfangsjahren waren auch eine Reihe von Ausstellungsrezensionen und Personenporträts dabei. Viele werden sich auch erinnern, dass wir Dietrich Lohse mehrere Jahrgänge an Titelbildern zu verdanken haben. 2025 wird er wiederum das Heft auf diese Weise prägen, und zwar mit einer Auswahl an historischen Radebeuler Winzerhäusern, begleitet von sachkundigen Kommentaren.
Was Karl Uwe Baum am 31. März 1990 machte, ist nicht überliefert. Vielleicht saß er zu der Zeit, als Dietz Lohse in der Hoflößnitz weilte, gerade an Unterlagen und brütete darüber, wie man am besten einen Landesverband Amateurtheater gründet. Denn dieses Thema trieb den begeisterten Laienschauspieler damals und die Folgejahre um. Vielleicht auch deshalb dauerte es ziemlich genau 17 Jahre, bevor sich KUB erstmals in unserem Heft zu Wort meldete. Prominent auf S. 1 im April-Heft 2007 platziert, formulierte der Autor unter der Überschrift „Genussvolles Monatsheft“ seine Gedanken zu einem Beitrag, der im März erschienen war und sich kritisch mit kulturpolitischen Entwicklungen in Radebeul befasst hatte. Interessant ist, dass Karl Uwe Baum den im letzten Satz seines Beitrages geäußerten Vorsatz „Weiter so!“ nach und nach begann, selbst in die Tat umzusetzen, denn aus einer anfänglich nur losen Verbindung mit der Redaktion wurde mit den Jahren ein stetig engagierteres Mittun und Mitdenken. Wenn es in Radebeul jemanden gibt, der sich traut mit spitzer Feder Missstände anzuprangern und Fehlentwicklungen aufs Korn zu nehmen, dann ist es Karl Uwe, unser Spezialist für Kommunal- und Kulturpolitik.
So sehr sich die beiden Redaktionskollegen vom Temperament auch unterscheiden, eines haben sie gemeinsam: Sie feiern in den Tagen zwischen Heiligabend und Neujahr jeweils ihren 80. Geburtstag! Lieber Dietz und lieber Karl Uwe: Wir danken euch für zusammen 52 Jahre treuer Autorschaft für unser Heft, gratulieren euch von Herzen und wünschen euch Lebensfreude im Prozess stetiger Reifung, Begegnungen mit heiteren Musen, die euch küssen und zum Schreiben verführen und vielfältige Erfahrungen mit den Genüssen des (Älter)Seins!

Für Redaktion und Verein
Bertram Kazmirowski

Gedenkausstellung „Wandlungen“

Ingo Kuczera in seinem Atelier auf der Gartenstraße, 2001, Foto Thomas Adler

Zum 60. Geburtstag und 20. Todestag des Radebeuler Malers Ingo Kuczera

Den Schwerpunkt der Gedenkausstellung in der Radebeuler Stadtgalerie bilden die Werke der großzügigen Schenkung von Ingo Kuczeras Erbengemeinschaft an die Städtische Kunstsammlung Radebeul. Eine Ergänzung erfolgt durch Leihgaben aus vier privaten Sammlungen.
Die Kunstexponate umspannen den Entstehungszeitraum von 1984 bis 2004. Gezeigt werden Bilder, Grafiken, Objekte, Entwürfe, Illustrationen, Modelle und Dokumente. Aber auch Alltagsgegenstände wie Ingo Kuczeras Garderobe mit Kutte und Schal sowie sein roter Wasserkocher beleben die Präsentation.
Die Zeit, in der ich Ingo Kuczera unmittelbar und recht intensiv erlebt habe, war relativ kurz. Zunächst hatte ich ab und an eigenwillige Bilder und Zeichnungen von ihm bemerkt. Erstmals war das 1991 im Café Color auf der Gartenstraße, welches der Kulturjournalist Wolfgang Zimmermann betrieb. Dass Ingo dort ausstellte, lag nahe, befand sich sein Wohnatelier doch ebenfalls auf der Gartenstraße.

Die Elbe bebaut die Berge um Radebeul“, 1999, Tempera, Repro: Archiv Baum

Ohne Titel (männliche Halbfigur, Kopf, Baum) 2001 Gouache, Faserstift, Repro: Archiv Baum

Den Künstler Ingo Kuczera habe ich als Person bewusst wahrgenommen, nachdem die Radebeuler Stadtgalerie 1997 am neuen Standort in Altkötzschenbroda wiedereröffnet wurde. Von 1998 bis 1999 sowie von 2001 bis 2002 wurden für Ingo Kuczera Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) in der Stadtgalerie bewilligt.
Er selbst verstand sich als Bindeglied zwischen städtischer Galerie und Künstlerschaft. Maßgeblich wirkte Ingo Kuczera an der Konzipierung und Realisierung der thematischen Sommerprojekte mit. Dazu gehörte auch die Gestaltung des Galeriehofes als eine Art Open-Air-Galerie. Dafür sind viele Bilder auf großformatigen Sperrholzplatten entstanden, welche allerdings immer wieder übermalt wurden.
Angeregt zum Ausstellungstitel „Wandlungen“ hatte uns ein Tafelbild, welches Ingo auf eine – der bereits erwähnten großformatigen Sperrholzplatten – gemalt hatte. Beim Abbau des alten Schuppens im Galeriehof wurde es wiederentdeckt. Allen bisherigen Übermalungs- und Entsorgungsaktionen zum Trotz, hatte es sich in Funktion einer Schuppentrennwand erhalten und fand schließlich im Depot der Kunstsammlung einen sicheren Platz. Dessen Präsentation im Rahmen einer Ausstellung erfolgt nunmehr zum allerersten Mal.
Am 25.8.2000 schreibt Ingo in sein Tagebuch: „Arbeite seit 1 Woche an 5 Bildern für den Galeriehof. Gutes Gefühl!!! Sonne scheint, Kaffee kocht, Farbe wird bezahlt und alle sind gespannt und anteilnehmend – wie ich.“.

Im Jahr 2002 stand das thematische Gemeinschaftsprojekt unter dem Motto „Radebeul – total global?“. Die Eröffnungsveranstaltung begann im Bahnhof Radebeul-West. Eine Harfenistin und der Saxofonist Micha Schulz musizierten zur Verwunderung der Fahrgäste auf den Treppen zu den Bahnsteigen. In den heute nicht mehr begehbaren Tunnel hängten wir Textbahnen von Ju Sobing. Die Säulen in der Bahnhofshalle wurden mit Bildern von Johanna Mittag verschönt, die dann – letztendlich gestohlen worden sind. Die Verbindungsstrecke zwischen Bahnhof und Galerie hatte Ingo mit bizarrem Schwemmgut aus der Elbe drapiert. Das Ganze mündete natürlich in ein wunderbares Künstlerfest und in der Stadtgalerie war adäquat zur Thematik eine Gemeinschaftsausstellung mit Werken von 20 Künstlern zu sehen.
Ingo Kuczera fühlte sich wohl und angenommen, was sich auch auf seine Schaffensfreude ausgewirkt hat. Aus der dienstlichen entwickelte sich allmählich eine freundschaftsähnliche Beziehung. Gemeinsam sind wir durch die kleinen Dresdner Galerien gezogen und haben uns über das Gesehene sehr intensiv ausgetauscht. Ingo besaß ein sicheres künstlerisches Urteilsvermögen und eine große Portion hintergründigen Humor. Wenngleich Beuys sein Idol zu sein schien, war er sehr offen für aktuelle Tendenzen in der Kunst. Auch die älteren Künstler wie Wigand, Glöckner, Wittig, Weidensdorfer oder Graf interessierten ihn sehr.

Ohne Titel (Komposition), 2002, Acryl, Gouache, Bleistift, Faserstift, Repro: Archiv Baum

Kuczera, der zunächst eine Schlosserlehre absolviert hatte, war künstlerisch talentiert, daran bestand kein Zweifel und so strebte er die Ausbildung zum

Ohne Titel (Trinker) 2003, Acryl auf Pappe, Bildausschnitt, Repro: Archiv Baum

Bildenden Künstler an. Die Zeichenzirkelzeit in Rathenow war intensiv. Seinem Lehrer Gerhard Hentschel verdankt Ingo ein solides Fundament.
Was zunächst so hoffnungsvoll begann, geriet schließlich ins Stocken. Die Bewerbungen an den Kunsthochschulen in Berlin und Dresden schlugen fehl. Allerdings meinte Claus Weidensdorfer im Nachhinein: Zum Glück! Was hätte ein Künstler wie Ingo dort auch lernen sollen?
Letztlich bekannte sich Ingo dazu, ein Autodidakt zu sein, schließlich hätten van Gogh, Modigliani oder Ebert auch nicht studiert.
Die Erinnerung an Ingo Kuczera schließt die Erinnerung an Dr. Dieter Schubert ein. Schützend hielt er als Amtsleiter für Bildung und Kultur während der ABM-Zeit immer wieder seine Hände über Ingo, der in kein Behördenraster passte! Ingo war ein Nachtmensch. Alkohol diente oftmals als Stimuli, und all das bot reichlich Konfliktpotenzial.
Besonders spannend wurde es, als 1999 im übernächsten Grundstück (Altkötzschenbroda 23) die Werkstattgalerie „Atelier Oberlicht“ eröffnet wurde. Neben Ingo Kuczera gehörten zu der Künstlergemeinschaft zunächst Frank Hruschka, Markus Retzlaff, Nikolai Bachmann, Homayon Aatifi und Julius Hempel. Spiritus Rektor war Frank Hruschka. Er hatte die Intention oder besser gesagt die Illusion, dass Künstler an einem Ort in einer Gemeinschaft arbeiten, sich permanent austauschen, anregen, präsentieren und vermarkten. Was folgte, waren interessante Projekte und nächtelange Diskussionen über Kunst. Wobei Letzteres für Ingo nicht unwesentlich gewesen sein dürfte. Dabei wurde viel geraucht, getrunken und auch gestritten. Von allen sechs Künstlern ist Ingo Kuczeras enger Freund und Kollege, Markus Retzlaff, der Einzige, der bis heute im Oberlicht künstlerisch tätig ist.

Schon die wenigen Auszüge aus dem Tagebuch, lassen Ingo Kuczeras Gefährdung und Verletzlichkeit erahnen. Ingo wollte die Menschen mit seiner Kunst überraschen und anrühren. Sein Credo: Es muss eine Poesie in die Welt! Das ist klar! Liebe und so!
Vor allem Gedichte von Heine, Rilke, Hölderlin und Heym haben ihn sehr inspiriert. In der letzten Zeit spielte er immer wieder Chansons von Edith Piaf.
Ingos psychische als auch körperliche Verfassung war wechselhaft. Seinen 40. Geburtstag feierte Ingo am 3. November 2004 im engsten Kreis und am 6. November folgte eine weitere Feier im “Atelier Oberlicht“, die mit einer Kabinettausstellung neuester Arbeiten verbunden war. Zum Grafikmarkt wiederum, der am 6. und 7. November stattfand, hatte Ingo wohl gar nichts verkauft und war sehr enttäuscht.
Ingo Kuczeras plötzlicher Tod am 10. November 2004 löste große Betroffenheit aus. Künstler wie Peter Graf und Christiane Latendorf drückten ihre Gefühle in sehr berührenden Bildern aus, die ebenfalls in dieser Gedenkausstellung zu sehen sind.
Zu Ingos Beerdigung in Premnitz hatten Angehörige und enge Freunde eine Fahrgemeinschaft gebildet. Der Friedhof erinnerte an einige von Ingos melancholischen Bildern und wirkte auf mich sehr bedrückend.
Schon bald stand die Frage an – Wie weiter? Die bevorstehende Haushaltauflösung mahnte zur Eile. Wir hatten alle keine Erfahrungen im Umgang mit einer solchen Situation. Doch dann geschah Erstaunliches.
Aus den ersten Kontakten, die zu den Angehörigen geknüpft wurden, entwickelte sich ein vertrauensvolles Miteinander. Die Erbengemeinschaft, vertreten durch Antje Zimmermann, erwies sich als umsichtig, aufgeschlossen, zuverlässig und – außergewöhnlich beharrlich. Die Radebeuler Stadtverwaltung wiederum bot personelle und räumliche Unterstützung an. Im Jahr 2005 wurde dann damit begonnen, Ingos Kunstwerke in die Stadtgalerie umzusetzen. In beiden Etagen wuchsen die Bilderstapel beträchtlich. Wie intensiv Ingo gearbeitet hatte, wurde uns erst nach seinem Tode bewusst.
Weit über 4.000 Arbeiten galt es zu sortieren, zu vermessen, zu fotografieren und zeitlich einzuordnen. Geholfen hatten damals u. a. Ingos Partnerin, die Bildhauerin Manuela Neumann, der Maler und Grafiker Markus Retzlaff sowie die Vorsitzende des Radebeuler Kunstvereins Ingeborg Bielmeier.

Ohne Titel (Figuren und Instrumente), 2003, Acryl, Gouache auf Sperrholz, Repro: Archiv Baum

Für das Engagement bei der Erfassung des künstlerischen Nachlasses und für die Erstellung eines Kataloges wurde die Stadt Radebeul von der Erbengemeinschaft mit einer großzügigen Schenkung für die Städtische Kunstsammlung belohnt.
Die Herausgabe des Kataloges erfolgte im Eigenverlag der Stadtgalerie. Mitgewirkt hatten daran: die Druckerei WDS Pertermann, die Versuchsdruckerei von KBA Planeta, die Lößnitzdruckerei und die Artothek Frank Hruschka. Finanzielle Unterstützung kam durch die Stadt Radebeul, den Kulturraum Elbtal, den Förderkreis der Stadtgalerie und das Kunsthaus Kötzschenbroda.
Obwohl nunmehr fast zwei Jahrzehnte vergangen sind, bildete der Katalog für die Gedenkausstellung eine wichtige Arbeitsgrundlage. Tagebucheintragungen des Künstlers sowie Gedanken und Erinnerungen von Freunden, Künstlerkollegen, Angehörigen und Wegbegleitern tragen zum Verständnis des künstlerischen Werkes bei.
Die Ausstellung zeigt Arbeiten aus verschiedenen Schaffensabschnitten. Während in den frühen Jahren vorwiegend kleinere Formate auf Papier entstanden sind und eine erdige Farbgebung dominiert, verblüfft das Spätwerk durch kompakte Großformate, häufig in gewagten Grün- und Blaunuancierungen. Der Phase des Experimentierens mit abstrakten Elementen folgte die erneute Hinwendung zur erzählerischen Gegenständlichkeit. Steigende, schwebende, fallende Figuren durchqueren surreale Landschaften. Große Formen kontrastieren mit verspielten Details, schmückenden Ornamente und zarte Strukturen. Menschen, Tiere und Pflanzen gehen symbiotische Beziehungen ein. Vor allem Frauen bilden für ihn ein unerschöpfliches Thema. Tiere wie Einhorn, Schwan und Delphin tragen symbolischen Charakter. Aus Ingo Kuczeras Bildern spricht die romantische Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit. Und manche Bilder bergen Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben sollten, wie sein Künstlerkollege Peter Graf einmal geäußert hat.
Für die Möglichkeit, dass ich diese Gedenkausstellung maßgeblich mitgestalten durfte, bin ich dem Zweier-Team der Stadtgalerie, Magdalena Pieper und Alexander Lange, sehr dankbar. Viele neue Zusammenhänge haben sich mir dadurch bereichernd erschlossen.
Heinz Weißflog schrieb 2007 in einer Rezension über Ingo Kuczera: „Er war unglücklich im Leben, aber erfüllt in seiner Arbeit, die ihn bis zuletzt trug.“.
Ingo selbst schrieb am 20.3.1997 in sein Tagebuch: „Ich möchte, daß man über meine Bilder einmal sagen kann – sie wären wie ein leiser Abgesang und wie ein letztes Dankeschön an eine versinkende Welt.“.
Ingo Kuczera hinterließ ein starkes eigenwilliges Werk, dass es weiterhin zu ergründen gilt. Ausstellungen fanden nach seinem Ableben in Radebeul, Meißen, Dresden, Medingen, Radeberg, Erfurt und Weimar statt. Zahlreiche Arbeiten wurden in öffentliche Sammlungen übernommen. Allen, die dazu beitragen, dass Ingo Kuczeras Kunst bewahrt wird und in der Öffentlichkeit ihre Wirkung entfalten kann, sei hiermit herzlich gedankt.

Karin (Gerhardt) Baum


Der Ingo-Kuczera-Katalog „Bilderrauschen“ aus dem Jahr 2006 umfasst 128 Seiten und ist während des Ausstellungszeitraumes zum Vorzugspreis von 10 Euro in der Stadtgalerie erhältlich.
Und außerdem:

7.1.-19.1.2025
Ingo-Kuczera- Gedenkausstellung in der Stadtgalerie Radebeul
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16.1.2025, 19 Uhr
ART ROOM – Film-Projekt „Mit Künstlern im Gespräch“

19.1.2025, 16 Uhr
Kuratorenführung durch die Ausstellung mit Alexander Lange und Karin Baum

3.1.-15.2.2025
Ingo-Kuczera-Gedenkausstellung in der Galerie Hebecker, Weimar

Editorial 01-25

Liebe Leserinnen und Leser,

für meine Familie und mich war 2024 ein ganz besonderes Weihnachtsfest- weil es ein ganz besonderes Jahr war.
Im Januar trat ich meinen Dienst als Pfarrer in Radebeul an, im Februar zogen wir um, vom beschaulichen Dorf auf den quirligen Anger.
Der Frühling kam, der Flieder blühte und die Sorge, ob die Kinder gut ankommen, legte sich.
Es wurde Sommer und wir genossen das südlich-lässige Flair zwischen Anker und Oberschänke.
Der August holte gegen Ende nochmal aus und an einem heißen Mittwoch duckte sich ein handtellergroßes Kätzchen im Pfarrhof unter den Postkasten. Wie bestellt! Willkommen Minki!
Der Herbst kam und das große Fest mit ihm – wir staunten und ließen uns gern mitreißen. Ich lernte die Bräuche und Protagonistinnen kennen, zwischen Oberbürgermeister, Bacchus und Weinköniginnen fand ich meinen Platz.
Der trübe November war fast nicht mehr auszuhalten – am Totensonntag stand ich mit den Posaunen auf dem Friedhof – dann kam endlich der Advent.
Die zweite Initiation in die kleine Stadtgesellschaft.
Budenglanz und Lichterzauber?
Wo parke ich? Wann gehe ich einkaufen?
Muss ich jeden Glühweinstand probiert haben?
Ein irres Jahr war das. Alles zum ersten Mal.
So viele Begegnungen, so freundliche Menschen, so offene Arme.
So viel Liebe.
Alles, was ihr tut, das geschehe in Liebe.
Dieses Wort hat uns Christenmenschen als Losung durch das Jahr 2024 begleitet.
Es tröstet, dass es wohl keinen unter uns gibt, der ihm gänzlich gerecht werden konnte.
Und irgendwie will ich es doch auch ins nächste Jahr mitnehmen.
Selbst wenn Sie mit Gott und dem Krippenkind nichts anfangen können, dann halten Sie es einfach mit dem Autor des Kleinen Prinzen, Antoine de Saint-Exupéry: „Sehnsucht nach Liebe ist Liebe. Und siehe, du bist schon gerettet, wenn du versuchst, der Liebe entgegenzuwandern.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein liebevolles und gesegnetes neues Jahr 2025.

Ihr Pfr. Martin Scheiter

Editorial 12-24

Liebe Leserinnen und Leser,

mit dem Dezemberheft schließt, so unglaublich es auch klingen mag, das nunmehr 34. Jahr von „Vorschau & Rückblick“. Tatsächlich steht im kommenden Wonnemonat Mai mit der 35. schon wieder ein kleines Jubiläum an. Das wird gefeiert werden – das ist schon mal klar!

Was ist bisher geblieben? Vielfältigste Rückblicke auf über mehrere Jahrzehnte, und wie immer, die magere, so doch hoffnungsvolle Vorschau auf das Ungewisse.

Die „Vorschau“ gibt es immer noch – immerhin. Sogar einige Gründungsmitglieder sind nach wie vor beherzt und engagiert dabei. Selbst die Dazugekommenen Redakteure rühren teils seit Jahrzehnten mit. Unsere Kernrubriken wie Themen zu Stadt und Kultur oder Denkmalpflege sind noch immer beispielhaft vertreten.

Eine besondere Bereicherung erfahren wir über Ihre Zuschriften, die mit ihren ganz eigenen Geschichten und Themen besondere Akzente setzen. Die Reihe „Als die Läden noch die Namen von Leuten trugen“ entwickelte sich zu einem veritablen Klassiker. Leider harren noch immer einige Texte der Veröffentlichung, allein das begrenzte Seitenvolumen verhinderte bisher ein zeitnahes Erscheinen.

Apropos „Seitenvolumen“: unser Heft liegt üblicherweise bei 32 Seiten. Nun, da Weihnachten naht, haben wir sprichwörtlich keine Mühen und Kosten gescheut und möchten Ihnen mit vorliegendem Heft von 40! Seiten ein kleines Geschenk machen.

Wir wünschen allen eine geruhsame, friedvolle Advents- und Weihnachtszeit!

Bleiben Sie uns gewogen und tragen Sie weiterhin zum Erhalt unseres kleinen wie wertvollen Heftes bei!

Sascha Graedtke

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