Vorn die Ostsee, hinten die Meißner Straße

„ … Etwas ist immer.
Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.

Kind Of Blue, 2020 Repro: M. Kunze

Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Dass einer alles hat:
das ist selten.“

Wir können uns da in Radebeul doch sehr glücklich schätzen, da das Städtchen, vor allem kulturell einiges zu bieten hat. Seit mittlerweile fünf Jahren sind die kleinen Ausstellungen in (Matthias) „Gräfes Wein & fein“ auf der Hauptstraße in Radebeul Ost eine feste Institution im kulturellen Jahreskalender. Von Beginn an versuchten die Initiatoren jungen und älteren Künstlern eine Plattform zu geben, um ihre Arbeiten im Dialog mit den Interessierten für die Bildende Kunst zu stellen. Ein Glas Wein kann ja durchaus dabei helfen, den Gesprächseinstieg zu erleichtern.

Inspiriert vom Gedicht „Das Ideal“ von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1927, dessen Schlussvers im obigen Zitat zu lesen ist, entlehnt sich der Titel der aktuellen Ausstellung „Vorn die Ostsee, hinten die Meißner Straße“.
Der Architekt Maximilian Kunze, der seit seiner Kindheit zeichnet – inspiriert und ermuntert durch Großvater Günter Schmitz und Vater Dietmar Kunze – zeigt Pastelle und Siebdrucke.

Die Arbeiten lassen sich, wie der Titel der Ausstellung sagt, zwischen seinen Sommeraufenthalten auf Rügen und seinem Lebensmittelpunkt Dresden und Radebeul geografisch einordnen.
Dass das Radebeuler Pendant zur Friedrichstraße im Titel die Meißner Straße und nicht etwa die Weinbergstraße ist, hat etwas mit dem besonderen Blick zu tun, mit dem Maximilian Kunze durch die Städte und Landschaften geht. Motive sind nicht die großen Sehenswürdigkeiten und bekannten Bauten, sondern das alltägliche, anonyme, seien es die Scheunentore an der Ostsee, gewachsene Häusergruppen in Radebeul oder die Anlegestellen der Dampfschiffe an der Elbe. Während sich bei den Siebdrucken (bedingt durch die Technik) die Motive in flächige Kompositionen aufzulösen beginnen, zeigt Maximilian Kunze in seinen Pastellen, trotz ebenfalls abstrahierender Vorgehensweise, eine weichere, romantische Seite seines Schaffens.

Zwei Loggien, 2017 Repro: M. Kunze

Die Eröffnung fand am 23. Januar, zwölf Tage nach Maximilian Kunzes 31. Geburtstag statt. Der Dresdner Gitarrist Eckart Poster und langjähriger Gitarrenlehrer von Maximilian Kunze, begleitete die Eröffnung soulig-musikalisch.
Matthias Gräfe ist zu danken, dass er uns Künstlern eine Möglichkeit der Ausstellung und Begegnung gibt.
Er ist stets ein für die Bildende Kunst aufgeschlossener Hausherr. Dies wurde zur Ausstellungseröffnung mit vielen Gästen und guten Gesprächen bei gutem Wein wieder einmal bestätigt.

Gabriele Reinemer
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Bis zum 15.03.2020 kann man die Arbeiten von Maximilian Kunze bei „Gräfes Wein & fein“ auf der Hauptstraße 19 in Radebeul Ost noch betrachten.

Radebeuler Kultur e.V – ein “Vorstellungsgespräch“

v.l.n.r. hinten: Günter »Baby« Sommer,Anja Wenzel, Björn Reinemer vorn: Heiko Fröhlich, Stephan Leonhardt, Gabriele Reinemer Foto: A. Lindackers

Kultur und Radebeul gehören seit langem zusammen wie das Ying & Yang, wie die Pedale zum Fahrrad, Karl May zu Radebeul oder ein guter Käse zum Rotwein. Die Kultur in der Natur mit den Weinbergen der Lößnitz und den köstlichen Weinfesten, welche nicht nur der Trinkkultur verbunden sind, sondern stets mit Kunst und künstlerischen Aktionen einhergehen, sind Zeugnisse einer hohen Lebensqualität. Zur Hochkultur in Radebeul gehören die Landesbühnen Sachsen ebenso wie die Stadtgalerie und die Auslobung des Kunstpreises der großen Kreisstadt Radebeul.
Wozu braucht es aber bei so viel Kultur noch einen Verein?
Weil es neben der persönlichen Achtsamkeit eines jeden Einwohners unserer Stadt einen Ort geben muss, wo man sich auch einbringen kann mit seinen Ideen. Wo man seine Beobachtungen vortragen und Vorschläge machen kann, wie man diese kulturelle Vielfalt schützen, erhalten und erweitern kann. Die allgemeine, Generationen übergreifende Begeisterung für die kulturelle Vielfalt unserer Stadt möchten wir an einer Stelle bündeln, die benennbar ist und eine Adresse mit ansprechbaren Personen hat.
Mit der Anerkennung unserer Gemeinnützigkeit treten wir nun aus einem Backstagebereich – wie wir Musiker sagen – heraus, und begeben uns ins Rampenlicht der Bühne, wo der Moment der Wahrheit spielt.
Wir haben uns der Förderung von Kunst & Kultur in all ihren Genres verschrieben und beziehen die soziokulturelle Bildung in starkem Maß mit ein. Dies kann man an zwei laufenden Projekten gut ablesen. Es sind die Kostenübernahme für den instrumentalen Musikunterricht eines Kindes aus dem Projekt “Kinderarche Sachsen e.V.“ geltend für ein Jahr und die Vorbereitung eines Konzertes am Gymnasium Luisenstift Radebeul mit Esther Bejarano, einer 95-jährigen Überlebenden des KZ’s Auschwitz-Birkenau. Diese Dame werden wir nicht nur als Sängerin, sondern auch als erzählende Zeitzeugin eines der größten Verbrechen in der deutschen Geschichte erleben.
Des weiteren werden wir das Projekt unterstützen, welches die Keimzelle für die spätere Bildung unseres Kulturvereins war. Es ist das “XJAZZ Festival“ in der Edition Radebeul in seiner nunmehr fünften Ausgabe.
Dieses Festival ist eine Errungenschaft und Neuheit, welche von jungen Leuten in unser Elbtal gebracht wurde, die etwas Unruhe in die Beschaulichkeit des Radebeuler Bildungsbürgertums bringen wollten.
Und es ist ihnen gelungen! Mit dem XJAZZ Festival kamen neue Töne in unser Tal. Orte wie das Weingut Aust, die Lutherkirche in Ost und die Landesbühnen Sachsen wurden um eine Musikgattung bereichert, deretwegen man sich sonst mindestens nach Dresden, wenn nicht gar weiter weg bewegen muss.
Im Absatz 3 des Paragraphen 2 unserer Satzung heißt es:
“ Der Verein ist selbstlos tätig; er verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke“.
Also fließen alle anfallenden Geldbeträge sofort wieder der Unterstützung von Lesungen, musikalischen Veranstaltungen, Workshops, Theaterprojekten, Kursen und anderen kulturellen und soziokulturellen Aktivitäten zu. Durch die Anerkennung der Gemeinnützigkeit sind wir auch in der Lage, Unterstützern und Sponsoren Spendenquittungen auszustellen, welche eine steuerliche Relevanz für die Spender haben.
Weiterhin sagt die Satzung, dass Mitglieder des Vereins keine Zuwendungen von Mitteln des Vereins erhalten. Das macht uns transparent und glaubwürdig. Unsere “Jugend“ schützt uns auch vor einem Abgleiten in die “Vereinsmeierei“. Vorstandssitzungen mit lebendigen Diskussionen über die kulturpolitische Situation in Radebeul und über seine Grenzen hinaus, lassen uns die Felder finden, welche wir in unserem Rahmen fördern und beschleunigen können.
Jeder, der ein echtes Interesse daran hat, die kulturelle Landschaft Radebeuls zu erhalten und zu bereichern, kann bei uns ordentliches Mitglied oder Fördermitglied werden.
Die ausführlichen Punkte unserer Satzung kann man unter www.Radebeuler Kultur e.V. nachlesen.

Wenn sich die Radebeuler Bürgerschaft schon erfolgreich ohne Verein gegen das Eindringen von
McDonalds, Kentucky Fried Chicken und die Errichtung einer Sommerrodelbahn in den Weinbergen erwehren konnte, so lässt sich doch erahnen, welch Klang und kulturelle Kraft ein Verein haben mag, der all diese wunderbaren Einzelkämpfer in unserer Stadt zu einem Orchester
vereinen mag!
Bringen Sie sich ein! Das ruft Ihnen / Euch einer zu, der vom Sound und der Kraft einer Big Band was versteht,

Günter Baby Sommer

 

Editorial 3-20

Seit einigen Monaten hat es im sonst so beschaulichen Radebeul in Teilen der Bürgerschaft etwas Unruhe gegeben. Was war passiert?
Es regt sich Widerstand. Gegen den Abriss von historischen Einfriedungen, wie an der Gärtnerei des Hohenhauses oder an wiederholt unpassenden? Neubauten am Augustusweg.
Seit der Nachwendezeit ist eine rege Bautätigkeit zu verzeichnen. Mit dem abrupten Systemwechsel kam es dann naturgemäß zu einer erheblichen Verschiebung der Eigentumsverhältnisse von Grundstücken und Böden. Ein Prozess der noch immer andauert. Zwar galt die Stadt schon damals als dicht bebaut, wofür wir uns heute besonders glücklich schätzen dürfen. Umso erstaunlicher ist es, wie viele Baugenehmigungen seither erteilt worden sind. Freilich, Baulücken gab es immer und auch auf das Bauen in zweiter Reihe wird zunehmend geschielt. Mit dem Dichterviertel an der Waldstraße ist gar ein ganzer Stadtteil entstanden. Seine Lage ist aber so separat, dass es mit dem „alten“ Radebeul kaum in Konkurrenz gerät.
Schwieriger wird es nun mit Neubauten in historischen Lagen. Da schaut der angrenzende Anwohner oder achtsame Bürger schon genauer hin. Und die immer wieder großen Fragen: Was ist schützenswert? Was kann und darf in einer derartig homogenen Wohnlandschaft ergänzt werden? Ein quälender und quasi salomonischer Prozess, den das Radebeuler Bauamt im Widerstreit mit den Wünschen der Bauherren und bewahrender Interessen immer wieder abwägen muss, wie es beim Neujahrsempfang vom „verein für denkmalpflege und neues bauen“ so eindrucksvoll zu erleben war.
Es bleibt also dabei wachsam zu sein! Für mich als ehemaligen Schüler des Luisenstiftes hat zumindest das Grundstück mit dem jüngsten, fast bedrohlich wirkenden Neubau nahezu jegliche Heiterkeit verloren.

Sascha Graedtke

Von Stummfilmkino bis Kurzfilmnacht (Teil 1)

Oder: Kino in Radebeul – wen interessiert das noch? (Teil 1)

Die Redaktion von „Vorschau und Rückblick“ ist am 14. und 15. März bereits zum zweiten Male mit einem Stand auf dem Dresdner Geschichtsmarkt vertreten. Das diesjährige Schwerpunktthema „Fotografie, Film und Kino“ bot den willkommenen Anlass, für eine ungewöhnliche Spurensuche. Denn zum Thema Kino herrscht in Radebeul schon seit vielen Jahren eine merkwürdige Sprachlosigkeit.

Eröffnungsanzeige für das Imperial-Welt-Kino in der Kötzschenbrodaer Zeitung von 1908 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Man kann es kaum fassen, Radebeul, eine Stadt zwischen Dresden und Meißen mit 34.000 Einwohnern, ist gegenwärtig eine (fast) kinofreie Zone. Das „Großes Kino“ findet woanders statt. Zwar haben die Radebeuler weder eine Geburtenklinik noch ein Kino im herkömmlichen Sinne, doch dafür gibt es hier ein Mehrspartentheater, zwei Museen, eine Sternwarte, eine Stadtgalerie, eine Bibliothek, eine traditionsreiche Festkultur und Vieles mehr. Die Ausgaben für Kultur betrugen 2017 in Radebeul 2,6 Millionen Euro, was etwa 3,7 % des städtischen Gesamthaushaltes entspricht. Man könnte also meinen, dass alles gut ist, so wie es ist. Kino in Radebeul – wen interessiert das noch?
Stillstand ist keine Lösung, sagten sich die Gründungsmitglieder des neuen Radebeuler Kulturvereins und schrieben die „Förderung der künstlerisch, kreativen Szene und Kreativwirtschaft“ auf ihre Fahne. Einer Einladung des Vereins folgend, erlebte ich am 21. Dezember 2019 in der Hohlkehle auf der Meißner Straße 21 eine abwechslungsreiche „Internationale Kurzfilmnacht“. Das Zusammensein mit den filminteressierten jungen Menschen war erfrischend und der Gedanke kam auf, gemeinsam nach alternativen Lösungen zu suchen, wie Radebeuls kinofreie Zone mit neuem Leben gefüllt werden könnte.

Anzeige von Artur Ritter für seine Radebeuler Stummfilmkinos im Jahr 1911 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Welche Umstände zur Schließung aller Radebeuler Kinos geführt haben und ob diese Radikalität wirklich so alternativlos war, lässt sich auf die Schnelle nicht eindeutig klären. Baugutachten und Protokolle könnten Auskunft geben. Im Radebeuler Stadtarchiv stößt man auf viele authentische Zeugnisse von den Anfängen des Kinos bis zu den Auswirkungen der Abrissbirnen. Der umfassende Bestand an Tageszeitungen reicht von 1865 bis in die Gegenwart.
Wer vor über einhundert Jahren Aufmerksamkeit erregen wollte, schaltete in der lokalen Presse eine Anzeige. So stößt man zum Beispiel in der “Kötzschenbrodaer Zeitung“ vom 22. August 1908 auf ein spannendes Stück Filmgeschichte. Während Direktor Fey für sein mobiles „Salon-Cinephon-Theater“ auf der Kötzschenbrodaer Vogelwiese wirbt, wird in der gleichen Ausgabe die Eröffnung des „Welt-Imperial-Kinos“ angekündigt, welches nachweislich das erste Kino in Kötzschenbroda mit einem festen Standort auf der Harmonistraße 14 ist. Die Anzeige war allerdings etwas knapp gehalten. Um so wortreicher kündigte Direktor Fey das “leistungsfähigste

Briefkopf vom Palast-Theater aus dem Jahr 1935 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Kinematographentheater des Kontinents“ mit „lebender Photographie in Ton und Bild“ sowie „der direkten Kupplung des Auretophons mit dem Kinematograhen“ an. Übertreibung gehörte schon damals zum Geschäft. Dabei lag das Augenmerk vor allem auf den technischen Raffinessen. Gezeigt wurden kurze Filme über Katastrophen oder so sensationelle Ereignisse wie Automobil-Rennen. Auch standen unzählige „Schmachtfetzen“ wie das prachtvoll kolorierte Verwandlungsmärchen „Gretchens Talismann“ oder das ergreifende Drama „Die junge Volksschullehrerin“ auf dem Programm.

Programmankündigung im Monatsheft »Die Vorschau« für die drei Radebeuler Kinos im Jahr 1954 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Wann das erste fest stationierte „Alt-Radebeuler Kino- und Tonbildtheater“ auf der Dresdner Straße 10 eröffnet wurde, lies sich bisher nicht ermitteln. Vermutlich könnte es 1909 gewesen sein. Der große Zuspruch wird dessen Besitzer Artur Ritter dazu bewogen haben, in unmittelbarer Nähe auf der Sidonienstraße 1 ein weiteres Kino einzurichten. Die Eröffnung des elegant und technisch modern ausgestatteten „Union-Theaters“ in den Räumen einer ehemaligen Poststelle erfolgte im Jahr 1910. Der Erste Weltkrieg dämpfte allerdings die Expansionspläne der kleinen privat betriebenen Stummfilmkinos. Nachdem Artur Ritter im Krieg gefallen war, hat seine Witwe hat das Kino weitergeführt.
Wie sich im Laufe der Recherchen herausstellte, muss es in Radebeul zwei und in Kötzschenbroda sogar drei Stummfilmkinos gegeben haben. Erwähnt wurde in der „Kötzschenbrodaer Zeitung“ vom 11. April 1911 das „Dedrophon-Theater“ im Ratskeller-Saal, gegenüber dem Gemeindeamt, welches sich auf der Gartenstraße 16 (heute Hermann-Ilgen-Straße) befand und der 85jähige Herbert Bieberstein (1819 – 2009) beschrieb in der Geschichte „Stummfilmzeit in Kötzschenbroda“ das „UT-Lichtspiel-Theater“, welches sein Domizil in einem Hintergebäude auf der Gartenstraße 48 (heute Hermann-Ilgen-Straße) aufgeschlagen hattet. Von jenem „U.T. Universum-Theater“ steht z.B. im Kötzschenbrodaer Generalanzeiger vom 4. Januar 1925 eine Anzeige mit dem aktuellen Programm.
Der erste deutsche Tonfilm mit integrierter Tonspur wurde bereits im September 1922 im Berliner Alhambra-Theater aufgeführt. Den Durchbruch des Verfahrens brachte im Jahr 1928 der Film „Der Jazzsänger“. Bis dahin wurde die Verbreitung des Tonfilms durch die Stummfilmindustrie nahezu verhindert. Doch deren Glanzzeit war unwiederbringlich vorbei. Dem Stummfilm folgte der Tonfilm und diesem wiederum der Farbfilm.
Ehemalige Tanzsäle wurden zu prunkvoll ausgestatteten Lichtspieltheatern umgerüstet. In Kötzschenbroda eröffnete 1921 auf der Bahnhofstraße 7 im großen Saal des Kulmbacher Hofes das „Palast-Theater“ mit ca. 500 Plätzen. Bereits 1926 folgte die Eröffnung des Capitol-Lichtspieltheaters im großen Tanzsaal des ehemaligen Bahnhotels Viktoria auf der Bahnhofstraße 11 mit ca. 550 Plätzen. Hatten sich bereits die Stummfilmkinos Konkurrenz gemacht, so blieb die Rivalität unter den Betreibern der Lichtspieltheater erst recht nicht aus, denn die tägliche Auslastung der bestehenden Kinos soll bei kaum 30 Prozent gelegen haben. Obwohl der Besitzer des „Palast-Theaters“ massiv dagegen interveniert hatte, öffneten 1935 im kleinen Saal der „Goldenen Weintraube“ auf der Meißner Straße 152 die „Lößnitz-Lichtspiele“. Damit gab es in Radebeul ein weiteres Kino mit ca. 300 Plätzen.
Der Zweite Weltkrieg forderten seinen Tribut. Viele Kinogebäude in Dresden waren zerstört. In Radebeul blieben sie unversehrt. Der Spielbetrieb konnte sofort wieder aufgenommen werden. Mit der Überführung der privatwirtschaftlich geführten Kinos in Volkseigentum war auch deren Umbenennung verbunden, was in Radebeul nur eines der drei Kinos betraf. Aus dem „Filmtheater-Capitol“ wurde 1954 das „Filmtheater-Freundschaft“. Der kulturpolitischen Bedeutung des Lichtspielwesens war man sich in der DDR von Anfang an bewusst. Im Monatsheft „Die Vorschau“, welche ab 1954 durch den Rat der Stadt, Abteilung Volksbildung herausgegeben wurde, war das komplette Programm aller drei Radebeuler Filmtheater sowie der mobilen Aufführungsstätte in Wahnsdorf enthalten. Unter der Rubrik „Film des Monats“ verfasste Karlheinz Drechsel (Jazzmusiker, Musikjournalist, Initiator des Dresdner Dixilandfestivals) Filmkritiken, die auch heute noch lesenswert sind.
Dort wo kein Kino war, kam das Kino zu den Menschen. Filmvorführungen fanden in Dorfgasthöfen, Kulturhäusern, Altersheimen, auf Campingplätzen oder in Ferienlagern statt. Gerd Schindler, der hauptberuflich für die Wartung der Filmtechnik im gesamten Kreis Dresden-Land zuständig war, arbeitete zusätzlich als Filmvorführer. Er erinnert sich, dass es neben den drei Kinos in festen Häusern auch noch weitere Spielstätten gab, die zu bespielen waren. Die so genannte „Blechtonne“ im Bilzbad, eine Kinohalle in Leichtbauweise, wurde nur in der Saison genutzt. Die Freilichtbühne „Am Waldrand“ befand sich in der Gartensparte an der Forststraße. Ein Holzbau diente dort als Vorführraum. Die Projektoren waren den Sommer über fest verbaut. Eine stationäre Bildwand aus Blech von acht Metern Breite und einem Anstrich mit reflektierender Farbe, wie man sie für Fahrbahnmarkierungen benutzt, war dauerhaft eingebaut. Als Sitzgelegenheit dienten Holzbänke in bedauernswerten Zustand, aber es gab immerhin 600 Plätze.
Dass sich noch jemand an die Stummfilmzeit erinnert, hätte ich eigentlich gar nicht für möglich gehalten. Umso bewegender war es dann, als Herbert Bieberstein bei einer Lesung des Radebeuler Autorenkreises in der Stadtgalerie seine Geschichte „Stummfilmzeit in Kötzschenbroda“ vorgetragen hat. Auf humorvolle und sehr anschauliche Weise beschreibt er, wie er als sieben- oder achtjähriger Knabe, das Stummfilmkino des Herrn Jokusch erlebte. (Radebeuler Mosaik, Heft 9, 2006). Auch Joachim Richter (1926 – 2013) erinnerte sich mit der Geschichte „Radebeul, die Kinos, meine Oma und ich“ an seine Kinobesuche mit der Großmutter in Kötzschenbroda. Aus der kindlichen Begeisterung wurde eine Kinoleidenschaft fürs ganze Leben. (Radebeuler-Mosaik, Heft 10, 2007)
Ich selbst hatte ebenfalls das Glück noch alle drei Radebeuler Filmtheater kennenzulernen. Während das „Palast“ ein wenig altmodisch, aber urgemütlich wirkte, galt die „Freundschaft“ für damalige Verhältnisse als ausgesprochen modern. Es verfügte über ca. 500 Plätze und diente ja nicht nur als Kino. Hier fanden auch Konzerte statt und es traten Theatergruppen auf. Dass der Hinterausgang in einen – je nach Wetterlage – staubigen oder schlammigen Hof mündete, nahm man notgedrungen in Kauf. Wichtiger war es, möglichst keinen Film zu verpassen. Während ich mir im“ Palast“ vorwiegend Filme aus der Vorkriegszeit, Musik- oder Lustspielfilme anschaute (u. a. „Große Freiheit Nr. 7“ 1944, „Der Sänger von Capri“ 1959, „Pension Schöller“ 1960) waren es in der „Freundschaft“ Filme aus Frankreich, Italien, den USA, der DDR oder der BRD (u. a. „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ 1969, „Die Dinge des Lebens“ 1970, „Goya“ 1971, „Ein besonderer Tag“ 1977, „Die bleierne Zeit“ 1981).

Sommerfilmtage im Bilzbad mit der Kinohalle im Hintergrund, Ende der 1970er Jahre Foto: E. Wolf/ Stadtarchiv Radebeul

Mit zwei Kinos quasi vor der Haustür, gab es für mich keinen Grund, wegen eines Filmbesuches von Radebeul-West bis nach Radebeul-Ost zu fahren. Das änderte sich erst mit meiner Tätigkeit in der „Kleinen Galerie“, die sich bis 1995 auf der Ernst-Thälmann-Straße 20 befand. In einer Art Kooperation mit dem Filmtheater Union hatten wir mit Radebeuler Künstlern und dem Galerieinteressenkreis die Reihe „Film unserer Wahl“ ins Leben gerufen und konnten bei der damaligen Kinoleiterin Brigitte Beyer unsere Wünsche äußern. Vor allem die systemkritischen Filme aus der Sowjetunion wie „Stalker“ (1978/79, „Das Blaue vom Himmel“ (1983) oder „Briefe eines toten Mannes“ (1986) boten reichlich Stoff zum Diskutieren.
Über Programmgestaltung, Besucherzahlen, Preisgestaltung wurde immer wieder ausführlich debattiert. Der bauliche Zustand der Kinogebäude, die sich noch in privatem Besitz befanden oder durch die Gebäudewirtschaft verwaltet wurden, geriet dabei häufig aus dem Blick. Bereits 1957 hatte man die hygienischen Verhältnisse und die geringe Platzkapazität des Filmtheaters Union (zuletzt 90 Plätze) für unzureichend befunden und den Vorschlag gemacht, stattdessen den Tanzsaal der „Vier Jahreszeiten“ als Kino umzubauen. Der Vorschlag wurde zwar nie umgesetzt, dafür erfolgte die Rekonstruktion des Filmtheaters „Union“. Mit Wiedereröffnung im Jahr 1977 wurde es zum Kinder- und Jugendtheater ernannt. Gebräuchlicher war allerdings der liebevolle Spitzname „Flohkiste“. Die engagierte Kinoleiterin organisierte viele zusätzliche Veranstaltungen. Es gab Ferienprogramme, einen Jugendfilmclub sowie die AGs „Junge Filmvorführer“ und „Junge Rezitatoren“.
Für die Filmfreunde war es ein erster großer Kino-Schock als das Palast-Theater 1968 geschlossen wurde. Nach Kenntnis von Gerd Schindler lag die Schließung darin begründet, dass durch Säulen im Saal nicht die erforderliche Bildbreite erreicht wurde, um Cinemascope-Filme vorführen zu können. Im Filmspiegel von 1969 findet sich unter der Rubrik Meinungen eine Leserzuschrift von Joachim Richter. Als Mitglied des Radebeuler Filmclubs brachte er seine Verärgerung über die Schließung zum Ausdruck. Doch aller Protest hatte nichts bewirkt. Das Kino blieb geschlossen. Ein paar Jahre diente das Gebäude noch als Lagerhalle. Im Jahr 1985 erfolgte der Abriss.
Genau zwanzig Jahre später ereilte das Filmtheater Freundschaft ein ähnliches Schicksal. Es wurde 1988 geschlossen, was wohl durch den damaligen Filmstellenleiters forciert worden ist, um die Rekonstruktion zu erzwingen. Das Dach war undicht und die Toiletten konnten nur noch mit einer Ausnahmegenehmigung betrieben werden. Doch diese Mängel hätten sich wohl auch ohne Schließung beseitigen lassen. Ich erinnere mich noch gut an die Worte der damaligen Stadträtin für Kultur, die konsterniert feststellte: „Wenn wir das Filmtheater Freundschaft jetzt schließen, werden wir es nie wieder öffnen“. Ihre Kassandrarufe verhallten ungehört. Kühne Kino-Ideen (egal ob realistisch oder nicht) zerplatzten in den unruhigen Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs wie buntschillernde Seifenblasen.
Karin (Gerhardt) Baum
(Fortsetzung folgt)

Zum Titelbild Januar 2020

Titelbildserie 2020

Auch in diesem Jahr wollen wir die Leserschaft mit neuen Titelbildern erfreuen. Unsere Wahl fiel auf die Radebeuler Malerin und Grafikerin Bärbel Kuntsche, die im vergangenen Jahr ihren 80. Geburtstag beging, was man allerdings kaum glauben kann, ist sie doch wie eh und je künstlerisch aktiv.
Bärbel Kuntsche wurde 1939 in Weißenborn bei Freiberg geboren. Der Ausbildung als Porzellanmalerin in Meißen folgte von 1962 bis 1966 das Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Seit 1976 lebt sie mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wolf-Eike Kuntsche, in Radebeul. Bärbel Kuntsche gehört zu jenen Künstlerinnen, welche die „Dresdner Sezession 89“ gründeten. Speziell für die hiesige Kasperiade, den Grafikmarkt und die Radebeuler Begegnungen schuf sie zahlreiche Illustrationen und Vignetten. Vor allem die von ihr gestalteten Kasperiade-Plakate sind begehrte Sammelobjekte. Im Jahr 2005 wurde Bärbel Kuntsche für ihr künstlerisches Gesamtwerk mit dem Radebeuler Kunstpreis ausgezeichnet.
Das Motiv des Januar-Heftes trägt den Titel „Maria und Elisabeth“. Es zeigt zwei Frauen, die einander begegnen. Beide sind schwanger, gehen mit offenem Blick und ausgestreckten Armen aufeinander zu. Die schwungvolle Tuschezeichnung entstand 1989, was kein Zufall gewesen sein kann. Denn es war jenes WENDE-Jahr, in dem Gravierendes geschah und das uns mit vielen Fragen aber voller Hoffnung entließ.
Karin (Gerhardt) Baum

Zum Titelbild Februar 2020

Zur Titelbildserie

Das neue Reisegesetz der DDR vom Januar 1990 ermöglichte allen Bürgern endlich zu reisen, wohin sie wollten. Was heute als eine Selbstverständlichkeit empfunden wird, löste damals bei vielen Menschen unbeschreibliche Glücksgefühle aus. Freiheit wurde vor allem auch als Reisefreiheit begriffen.

Das Reisen bildet, wussten schon Generationen vor uns. Italien galt seit Jahrhunderten als Sehnsuchtsland. Allein in Rom sollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts über 500 deutsche Maler, Bildhauer und Architekten gelebt haben. Goethes Italien-Reise-Tagebuch stößt noch heute auf großes Interesse.

Auch das Radebeuler Künstlerpaar Bärbel und Wolf-Eike Kuntsche begab sich mit den befreundeten Künstlern Claus Weidensdorfer, Ute und Werner Wittig auf Goethes Spuren. Bärbel Kuntsche erinnert sich, dass sie überwältigt waren von der Kultur, Natur und Architektur, vom Duft der Orangenblüten, der seidigen Luft und dem besonderen Licht. Endlich war es möglich, bedeutende Kunstwerke im Original anzuschauen. Unentwegt wurde gezeichnet und die Skizzenbücher füllten sich. Eindrücke der Italienreisen spiegelten sich auch in ihrem späteren Schaffen.

Die Tuschezeichnung „Römische Landschaft“ entstand im Jahr 2001. Sie ist sparsam angelegt. Zu sehen sind Pinien, Zypressen und ein Gehöft. Der Blick schweift vom Palatin, einem der sieben Hügel Roms, über eine weite Landschaft. Das Forum Romanum ist allerdings nur für des Ortes Kundige als solches zu erahnen.

Karin (Gerhardt) Baum

Mit Wolf Biermann poetisch und politisch durch das Jahr

Nachgereicht: Weltweit erste öffentliche Aufführung verschollen geglaubter Werke der Komponistin Prinzessin Amalie von Sachsen

Im wunderbaren Ambiente am Fuße der gründenden Weinberge und wohl eingestimmt mit einem Tropfen erstklassigen frischen Weines begrüßte der Hausherr Prof. Dr. Rainer Beck am Abend des 17. August 2019 seine Gäste mit einer Einladung in die musikalische Welt der Amalie und den längst verflogener Klänge der spätromantischen Musik.

Prinzessin Amalie von Sachsen (1794-1870)


In einem Preview zum 150. Todestag der Prinzessin Amalie von Sachsen am 18. September 2020 präsentierten die vier hochkarätigen Musikerinnen des Dresdner Streichquartetts „Baroccoli“ verschollen geglaubte und nun wiederentdeckte Werke.

Mit einer Fülle an Wissen über die Komponistin, deren Werk mit ihrem Leben verklungen und nicht wieder zu Ruhm gelangt war, führte uns eine Expertin, Frau Petra Andrejewski, behutsam in die Welt der Amalia ein, die nichts mit Anna Amalia in Weimar verwechselt werden darf. Amalie von Sachsen lebte vom 10. August 1794 bis zum 18. September 1870, sie war eine Prinzessin von Sachsen, aber sie arbeitete unter dem Pseudonym A. Serena als Komponistin von Opern und Kantaten und war eine Schülerin Carl Maria von Webers. Unter dem Pseudonym Amalie Heiter verfasste sie zudem zahlreiche Theaterstücke. (Wikipedia)

Die Musikerinnen glänzten durch ein hervorragendes Zusammenspiel und jede auf ihre Weise als virtuose Meisterinnen ihres Fachs. Sie begeisterte das Publikum auf einzigartige Weise mit Werken der Komponistin Amalie die aufhorchen ließen.

In ständigem Wechsel von schnellen und langsamen Tönen, piano, pianissimo oder forte gespielte Partituren konnte der aufmerksame Zuhörer einem Reigen italienisch gleichender Opernklänge folgen, was wundervoll zu den sanften sommerlichen Weinterrassen der Lößnitz entsprach.

Man sollte sich mehrere Namen merken: Das Streichquartett „Baroccolo“, die Autorin und Bewahrerin der Werke Amaliens Frau Petra Andrejewski und nicht zuletzt dem Veranstalter, dem Weingut der „Drei Herren“ und dessen wunderbaren Weinen.

Noch ein Geheimtipp: Wir dürfen gespannt sein, was in der kommenden Zeit an Musik der Amalie von Sachsen zur Aufführung gelangen wird. Unter Vorbehalt angekündigt wurde die Aufführung der Oper „Elvira“ für die Musikfestspiele im nächsten Jahr (2020) im Palais des Großen Gartens in Dresden.

Mit einem große Dankeschön an alle fleißigen Mitgestalter/-innen dieses unvergesslichen Abends hoffe ich, dass es nicht allein bei dieser gelungenen Veranstaltung bleiben wird.

Ina Vogt

Käthe Kollwitz in China

Käthe Kollwitz ist seit den 1930er Jahren in China wohlbekannt. Dies haben wir vor allem Lu Xun zu verdanken. Lu Xun, auch der chinesische Gorki oder chinesische Brecht genannt, war Chinas bedeutendster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Viele sagen, Lu Xun sei von Kollwitz’ Holzschnitt so begeistert, weil auch analphabetische Menschen die revolutionäre Botschaft verstehen können oder dass er während seines Studiums in Japan schon die Leidenschaft für Holzschnitt wie Kunstwerke von Hokusai entwickelt habe. Meiner Meinung nach sind solche Erklärungen zu vage und ich habe angefangen, das Tagebuch von Käthe Kollwitz und die Briefsammlung von Lu Xun zu lesen. Dabei habe ich die tiefere Verbindung zwischen den beiden entdeckt:

In seinem Prolog von Applaus schrieb Lu Xun, „als wäre im einem Blechhaus ohne Fenster, die Menschen sind fest eingeschlafen, bald werden sie alle ersticken und sterben, aber sie fühlen keine Trauer, weil sie nichts davon wissen. Jetzt ist ein Mann plötzlich wach geworden, und er hat auch paar anderen Menschen aufgeweckt. Die Wachen leiden an Angst und Frustration, weil sie die Situation nicht ändern können. Aber ich denke, wenn es schon paar wache Menschen gibt, werden wir irgendwie doch die Hoffnung haben, das Blechhaus gemeinsam zu zerstören, indem sie alle anderen auch zum Aufwachen bringen.“ Kollwitz hat ihre Radierung im Jahr 1941 unter dem Titel » Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden « gemalt. Sie sagte schon im Jahr 1922, „ich will wirken in der Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.“

Sowohl Lu Xun als auch Kollwitz setzen sich ein, um das Bewusstsein von Menschen zu verändern, um das gedemütigte Volk zu befreien. Sie fordern die Menschen auf, das soziale Unrecht nicht schweigend hinzunehmen, weil die Rechte nur erkämpft werden können, sie werden nicht einfach vom Herrscher geschenkt.

Weder Lu Xun noch Kollwitz geben auf, obwohl es im Moment gar kein Licht in der Dunkelheit zu geben scheint. Kollwitz hat zu diesem Thema immer wieder Kunst geschaffen, auch nachdem sie im Jahr 1933 zum Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste gezwungen wurde. Im Jahr 1931 trotz der Angst vor Verhaftungen versuchte Lu Xun seine Studenten zu retten und hielt Reden in der Öffentlichkeit. Im Juli 1936 erkrankte LuXun schwer an Tuberkulose. Er konnte nicht mehr schreiben, aber mit letzter Kraft wählte er seine Lieblingsholzschnitte von Kollwitz aus und veröffentlichte sie als Mappe mit Kollwitz-Reproduktionen in Shanghai. Im Oktober 1936 starb Lu Xun.

Beide sind offene internationale Humanisten. In den 20er Jahren entwarf Kollwitz ein Plakat „Helft Russland“als Beitrag zur Überwindung der Dürrekatastrophe im Wolgagebiet und unterschrieb den Aufruf der Deutschen Liga für Menschenrechte für eine Verständigung mit Frankreich. Lu Xun sprach Japanisch und sogar etwas Deutsch, er erwarb mit Hilfe der amerikanischen Journalistin Agnes Smedley Kollwitz’ Werke. Im Jahr 1918 setzte Agnes Smedley sich für die indische Unabhängigkeitsbewegung gegen England ein und befreundete sich mit Kollwitz. In den 1930er Jahren zog sie nach Shanghai und lernte Lu Xun kennen. Es scheint mir, dass die beiden Künstler keine kulturellen Grenzen kannten.

Sowohl Lu Xun als auch Kollwitz haben sich eine bessere Zukunft vorstellen können und daran geglaubt, dass wir sie realisieren könnten. In Deutschland höre ich oft den Satz, „Es ist halt so, das geht nicht anders.“ In China erzählen viele Freunde mir, dass eine Demokratie dort eh nicht funktionieren könne, weil es so viele Menschen in China gebe. Kollwitz hat den ersten und zweiten Weltkrieg erlebt, ihren Sohn und Enkelsohn durch den Krieg verloren. Sie starb einen Monat vor Kriegsende. In ihrer Lebenszeit wirkte alles so hoffnungslos, weil die Menschen so dumm waren und versuchten, einen Krieg mit einem noch größeren Krieg zu beenden. Lu Xun erlebte den dramatischen Veränderungsprozess in China, in dem das Kaiserreich China abgelöst wurde und China andauernd unter inneren Konflikten litt. Auch Lu Xun starb, bevor er hätte Frieden spüren können. Die beiden Künstler lebten in einer Dunkelheit und glaubten dennoch, dass solches Elend auch ein Ende haben könne.

Unsere Gegenwart war für Kollwitz und Lu Xun die Zukunft. Wie sieht es denn heute aus? Die demokratischen Parteien haben in den 1990er Jahren beachtliche Erfolge erreicht, stehen aber heutzutage hilflos vor der Herausforderung einer immer schnelleren, komplexeren, globaleren Welt. Hätte es Kollwitz, Mann und Einstein überrascht, die AfD in der Bundestagswahl 2017 und Europawahl 2019 die stärkste Partei in Sachsen werden zu sehen? Hätte es sie zu einem neuen Dringenden Appell motiviert? Im Spiegel sieht man sein Bild oft klarer als wenn man an sich herunterblickt; in China jedenfalls sehen wir heute die vielen Schlafenden klarer als in Deutschland, wohl weil die Gefahren präsenter sind. Der technologische Fortschritt ist schneller, der kapitalistische Druck auf alle Teile der Bevölkerung stärker, die Überwachung digitaler. Viele sind stolz auf chinesische Hochgeschwindigkeitszüge, unkritisch gegenüber mobilen Zahlungssystemen mit Gesichtserkennungstechnik, Dank der Parteidogmatik tief im Selbstbetrug gefangen, kaum um die eigenen Rechte und Meinungsfreiheit wissend. Ich denke, dass wir in Deutschland wie auch China noch einen langen Weg vor uns haben bis zu der Welt, die Lu Xun und Kollwitz erträumt und sich erkämpft haben.

Kunst stammt aus dem Leben. Speziell Sehnsucht und Dinge, die wir in der Realität nicht haben, wandeln wir in Kunst um. Ich bin dankbar, dass auch heute Künstler wie damals Lu Xun und Kollwitz lieben und streiten, und dass uns das Vorbild dieser beiden bleibt. Sie sind wie winzige Flammen im Kunstwerk von Anselm Kiefer, trotz aller menschlichen Schwächen und schrecklichen Traumata, brennen sie in Hoffnung und ermutigen uns, nicht aufzugeben.

Fang Han
Kunstkritikerin

„Tapetenwechsel“ mit neuen Wegen und Ideen

Ein gemeinsames Projekt zwischen den Landesbühnen Sachsen und dem Masterstudiengang „Bühnenbild Szenischer Raum“, der TU Berlin

Ein aufgeregtes hin- und her hinter den Kulissen. Erstmalig sind neun Tänzer zwischen Berlin und Radebeul in einem gemeinsamen Projekt (Tapetenwechsel) zu erleben, betreut von den gestandenen Tänzerinnen und Tanzpädagoginnen Wencke Kriemer de Matos und Kerstin Laube. Als bildnerischer Berater steht dem Team Stefan Wiel von den Landesbühnen Sachsen zur Seite. Das Besondere an dem zum ersten Male durchgeführten Projekt ist, dass die Absolventen sämtliche Möglichkeiten, die ein professionelles Theater zu bieten hat, nutzen können und dass es in den Landesbühnen Sachsen statt findet.

Szene mit Aurora Fradella und Camilla Bizzi (v.l.)


Die erste Szene, von Christian Senatore choreografiert, stellt sich in spielerischer Form die Frage: „Was geschieht, wenn sich von einer Persönlichkeit andere Seiten zeigen?“ Oft gehen gut oder böse ineinander über, was allerdings in dieser Choreografie durch die drei jungen Tänzer/innen Alena Krileva, Aurora Fradella und Gianmarco Martini Zani in bildhaft-sichtbarer Form geleistet wird. Die Folie für diese Choreografie bieten musikalisch Spaniens Elektroniker (elektronische Musik).

Als zweite Choreografie von Brian Scalini, die eine Mann-Frau-Beziehung thematisierte, gefiel der Rezensentin die Bildsprache der beiden Tänzer Carnilla Bizzi und Alfonso Pereira in ihrer dichten Folge gut.

Als dritte Arbeit in Folge choreografierte Ema Jankovic „eine Frau auf der Suche nach ihrer Identität.“ Sie setzte ihre Choreografie in der Rolle als Tänzerin um.

In der vierten Szenenfolge kommt die Sorge um unsere Umwelt, in der Choreografie von Camilla Bizzi und Aurora Friedella, zum Tragen. „Wir sind immer in Bewegung und das Leben ist philosophisch als Fluss zu verstehen.“ Verraten die vier Tänzer: Oleksandr Khudimov, Alfonso Pereira, Brian Scalini, Gianmarco Martini Zani unter der Choreografie von Alena Krivileva. Die eine ansprechende, kraftvolle Choreografie boten.

Interessant ist an dieser Uraufführung von der Sparte Tanz, dass „Tapetenwechsel“ alle Altersstufen anspricht. Im Programm oder im Gespräch mit den Protagonisten ist zu erfahren: Die jungen Tänzer und Tänzerinnen, die aus allen Teilen Europas kommen, haben mehr oder weniger freudvolle Tapetenwechsel erlebt. Insofern ist der choreografierte Abend als Identitätssuche zwischen Gewinn und Verlust erlebbar. Die einzelnen Aufführungen wurden vom Publikum ausgesprochen gut und interessiert aufgenommen.

Angelika Guetter

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