Im Archiv gestöbert: Die alte Naundorfer Schule

Im Aprilheft hat Frank Thomas eine kleine Serie zur Geschichte des Radebeuler Gymnasiums Luisenstift eröffnet, die mit der Grundsteinlegung vor bald 140 Jahren begann. Das Gebäude der einstigen Höheren Töchterschule ist aber nicht das einzige hiesige Schulhaus, das 2008 runden Geburtstag hat. Vor 130 Jahren, am 1. Mai 1878, wurde das erste Volksschulgebäude des Dörfchens Radebeul, die heutige Schillerschule, geweiht; die Weihe des ersten Wahnsdorfer Schulhauses jährt sich am 18. Juni zum 150. Male, und mittlerweile stolze 225 Jahre hat das überhaupt älteste noch erhaltene Schulhaus im Stadtgebiet auf den Mauern:

Die alte Naundorfer Schule

„In Sachsen kann jedermann lesen“, schreibt der bayerische Volksaufklärer Lorenz Westenrieder 1780 neidvoll. Und nicht nur das: „Der Bauer weiß Gellerts Fabeln auswendig, hat gewöhnlich seine kleine Bibliothek und […] ist dort im Stand, die Landesverordnung, deren Kanzleysprache der unsrige unmöglich begreifen kann, sich zu erklären.“ Äußerungen wie diese, die den vergleichsweise hohen Bildungsstand selbst der Landbevölkerung im Kurfürstentum Sachsen hervorheben, sind in der Publizistik des 18. Jahrhunderts zahlreich zu finden. Dass die Alphabetisierung hier so weit vorangeschritten war, lag am flächendeckenden Ausbau des Elementarschulwesens seit der Reformation. Getreu der Forderung Luthers, dass jedermann die Bibel lesen können sollte, waren schon im 16. Jahrhundert in allen sächsischen Pfarrdörfern Schulen eingerichtet worden, so auch in Kötzschenbroda. Die Kirchenordnung von 1580 legte fest, dass „alle Custodes und Dorfküster Schule halten“ sollen, „darinnen die Knaben[!] lernen lesen, schreiben und christliche Gesänge […] darauf der Pfarrer sein fleissiges Aufsehen haben und das Volk mit Ernst dazu vermahnen soll.“ Knapp hundert Jahre später gab es in der Ephorie Dresden, zu der auch Kötzschenbroda gehörte, Ansätze zur Einführung einer Schulpflicht. Ein Dekret des Oberkonsistoriums schrieb 1674 vor, dass die Eltern durch die Pfarrer aufgefordert werden sollten, ihre Kinder bis zum 12. Lebensjahr in die Schule zu geben, was gegebenenfalls auch durch obrigkeitliche Zwangsmaßnahmen durchzusetzen war.
Ob sich alle Eltern daran gehalten haben, ist angesichts der weit verbreiteten Armut der Zeit zu bezweifeln. Fest steht jedoch, dass damals auch schon in vielen sächsischen Dörfern ohne eigene Kirch(schul)e Schulmeister tätig waren. Aus den ur­sprünglich verpönten Winkelschulen entwickelten sich reguläre Nebenschulen, so auch in Zitzschewig, Lindenau und in Naundorf, wo im Februar 1661 mit Jacob Grahl ein erster Kinderlehrer eingesetzt wurde. Da das Dorf kein Schulhaus hatte, musste Grahl, wie er selbst 1667 schreibt, „die Kinder bey den Nachbarn die reihe herum informiren“. Die Praxis der so genannten Reiheschule blieb für reichlich hundert Jahre bestehen. Von Woche zu Woche versammelten sich die Kinder des Dorfes in einer anderen Bauernstube, um für wöchentlich drei Pfennige Lesen oder für das doppelte Lesen und Schreiben zu lernen. Erst zur Zeit des sechsten Naundorfer Lehrers, des Katecheten Johann Gottlieb Kerndt (1760-1813) aus Grillenburg, der sein Amt um 1780 antrat, änderte sich dieser Zustand. 1783 ließ die Gemeinde mitten auf dem Dorfanger ein eigenes Schulhaus errichten – das überhaupt erste der Lößnitz außerhalb Kötzschenbrodas. Wie Adolf Schruth schreibt, soll es bereits zu Ostern desselben Jahres (Ostersonntag fiel 1783 auf den 20. April) bezugsfertig gewesen sein. In der Schubertschen Chronik ist das einstöckige Gebäude wie folgt beschrieben: „im Parterre eine Schulstube zu 50 Kindern, Holzschuppen (und Retirade); in der Etage 2 Stuben und 2 Kammern, (keine Küche), sowie ein Boden; im Souterrain endlich ein Kellerchen. An das Schulhaus an schließt sich ein sogen. Krätzegärtchen.“ Die Wohnung wurde 1783 für drei Taler jährlich an den jungen Lehrer vermietet; als Gegenleistung für den geringen Mietzins musste er selbst für die Heizung der Schulstube sorgen. Zehn Jahre später kam es zum Rechtsstreit, weil Kerndt, obwohl seit 1784 Schwiegersohn des Dorfrichters, bisher keinen Pfennig Miete gezahlt hatte. Vielleicht lag das ja an seinem dürftigen Einkommen, denn außer wenigen Groschen aus dem Gemeindesäckel für die Abhaltung von Betstunden war er ganz auf das Schulgeld angewiesen, das gerade im Sommer und zur Zeit der Ernte, wenn viele Kinder, statt zur Schule zu gehen, in der Wirtschaft helfen mussten, kärglich ausfiel.
Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Sachsen 1805 verstetigten sich diese Einnahmen, und in Folge des Volksschulgesetzes von 1835, das eine achtjährige Schulpflicht vorschrieb, und der Landgemeindeordnung von 1838, die den Gemeinden auch die Sorge für die Schulen auferlegte, wurde der Lehrerberuf aufgewertet und besser entlohnt. An der räumlichen und personellen Ausstattung der Schule, die den großen Dorfbrand von 1822 als eines von wenigen Gebäuden unbeschadet überstanden hatte, änderte sich aber bis auf weiteres nichts. Alle Klassenstufen wurden in einem Raum von einem Lehrer unterrichtet. Immerhin hatte der in der Reihenfolge neunte Naundorfer Lehrer, August Bernhard Nözel, der von 1841 bis 1861 amtierte, als erster eine reguläre pädagogische Ausbildung am Fletcherschen Lehrerseminar in Dresden vorzuweisen.
1877 entschloss sich die Gemeinde endlich, ein neues Schulhaus an der heutigen Bertheltstraße zu bauen, das am 11. Juni 1878, vor ziemlich genau 130 Jahren feierlich eingeweiht wurde. Hatte das erste Schulhaus seinen Zweck fast ein Jahrhundert lang erfüllt, musste das zweite schon nach 27 Jahren durch den Neubau der heutigen Grundschule Naundorf ersetzt werden. Das alte Schulhaus am Dorfanger, heute Altnaundorf 40, dessen Fachwerkkonstruktion irgendwann hinter Blendmauern verschwand, war damals längst Wohnhaus, erfüllte aber weiter einen gemeindlichen Zweck. Im Erdgeschoss befand sich nämlich traditionell die Wohnung des Dorfsgendarmen und zumindest bis zur Eingemeindung nach Kötzschenbroda 1923 auch die Arrestzelle der Gemeinde. Deren eiserne Gitterstäbe waren noch vorhanden, als die heutigen Eigentümer das Haus 1999 aus städtischem Besitz erwarben. 1922 wurde das Gebäude, das laut Bauakte damals offiziell als „Armen- und Arresthaus“ fungierte, abgeputzt; vermutlich wurden dabei auch noch mal die dekorativen hölzernen Rankgerüste erneuert, von denen heute leider nur noch die eisernen Befestigungshaken zeugen. Ansonsten hat sich am Gebäude äußerlich seit 80 Jahren wenig getan. Immerhin steht es noch – das benachbarte ehemalige Spritzenhaus der Gemeinde, bei aller Einfachheit auch ein interessanter Bau, wurde Anfang April kurzerhand abgerissen –, und es steht sogar unter Denkmalschutz.
Was man aus solch einem Denkmal der Radebeuler Schulgeschichte machen kann, zeigt die kürzlich erfolgte Sanierung des alten Wahnsdorfer Schulhauses (Altwahnsdorf 65), das von der Lage im Dorf und von der Architektur her deutliche Parallelen zu seinem älteren Naundorfer Pendent aufweist. Erinnerungstafeln an 150 Jahre Wahnsdorfer bzw. 225 Jahre Naundorfer Schulgeschichte fehlen hier wie dort. Neben dem ersten Naundorfer Schulhaus steht dafür der Schaukasten des Dorf- und Schulvereins, der für das diesjährige große Dorf- und Schulfest vom 20. bis 22. Juni wirbt – eine gute Gelegenheit, dem schmucken Anger und im Vorbeigehen auch der alten Schule mal wieder einen Besuch abzustatten.
Frank Andert

2008-05-spritzenhaus

Hist. Foto „Spritzenhaus und alte Schule um 1900“

 

Im Archiv gestöbert: Von Ratibor nach Radebeul – Theodor Lobe

Darstellende Künstler haben, wenn sie nicht zu den absolut herausragenden Interpreten ihrer Epoche gehören, in der Regel keinen sehr ausdauernden Nachruhm zu gewärtigen. Sie leben vom Applaus, und wenn sie die Bühne verlassen, ist der Rest bald Schweigen. Das galt umso mehr vor Erfindung der Ton- und Bildaufzeichnung. In seinen 1942 erstmals erschienenen Jugenderinnerungen erwähnt der berühmte Theater- und Filmschauspieler Eduard v. Winterstein (1871-1961) einen »außerordentlich guten« Kollegen, den er als 18-jähriger Debütant in Gera persönlich erleben durfte und der »zu den unverdient Vergessenen« gehöre: den schlesischen Vollblutschauspieler Theodor Lobe. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Lobe zu den bedeutendsten Charakterdarstellern auf deutschen Bühnen. Da sich sein Geburtstag am 8. März zum 175. Male jährt, wollen wir an ihn erinnern, denn sein Lebensweg führte

Von Ratibor nach Radebeul – Theodor Lobe

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Im Archiv gestöbert: Das Landhaus Kolbe in Radebeul

Mit dem gesundheitlich bedingten Rücktritt von Carl Kolbe (1855-1909) vom Vorsitz der Geschäftsleitung der Chemischen Fabrik von Heyden AG Radebeul ging 1907 eine Ära zu Ende. Kolbes Vater Hermann (1818-1884), Chemieprofessor in Leipzig, hatte 1873 mit der Entwicklung einer neuartigen Methode zur Salizylsäuresynthese die technische Basis für die Gründung der Fabrik ein Jahr später gelegt. 1884 holte Kolbe sen. seinen gerade 29-jährigen ältesten Sohn in die Firma, der, ab 1885 Miteigentümer, ihren Ausbau zum damals größten Chemieunternehmen Sachsens vorantrieb und ihre Geschicke auch nach dem Börsengang 1899 als allein zeichnungsberechtigter Generaldirektor weiter bestimmte. Carl Kolbe, selbst promovierter Chemiker, machte sich auch um die Entwicklung des Industriedorfes Radebeul verdient, dessen Gemeinderat er von 1891 bis 1902 angehörte. 1935 wurde sein Andenken deshalb mit der Umbenennung der Radebeuler Fabrikstraße in Kolbestraße gewürdigt. Heute soll es aber weniger um das Wirken dieses Industriekapitäns gehen als um sein Wohnen.

Kolbevilla von Norden

Betrachtet man die Backsteinvilla Zinzendorfstraße 16, die Familie Kolbe 1892 bezog und die in Radebeul damals ihresgleichen suchte, dann erscheint der zeittypische Begriff Landhaus fast untertrieben. Geld spielte beim Bau der repräsentativen Generaldirektorenresidenz offenbar keine Rolle, für deren Entwurf Kolbe einen der aufstrebenden Stararchitekten seiner Zeit verpflichtet hatte, den Berliner Regierungsbaumeister und Königlichen Baurat Otto March (1845-1913).1 March, wie der vor kurzem an dieser Stelle behandelte Richard Steche ein Schüler von Johann Heinrich Strack und damit in besonderer Weise der Backsteinarchitektur verbunden, gehörte zu den Söhnen der Charlottenburger Firma »Ernst March & Söhne«, einer renommierten Tonwarenfabrik, aus deren Produktion sich gerade in Radebeul zahlreiche Terrakotta-Plastiken erhalten haben, etwa im Park des Hohenhauses, am Rondell in der Dr.-Schmincke-Allee oder an der E.-Bilz-Straße. Prägend für Otto Marchs Wirken als Villenarchitekt waren die Eindrücke, die er während eines längeren Englandaufenthalts 1888 gesammelt hatte.

Halle

Auch bei der inneren Gestaltung des »Landhauses Dr. Kolbe«, dessen Entwurf 1891 auf der Berliner Architekturausstellung präsentiert wurde, orientierte sich March an der vornehmen englischen Landhausarchitektur der Zeit, die in puncto Komfort und Wohnlichkeit als vorbildlich galt. Die mit Vertäfelungen, aufwändig verzierten Decken, Bleiglasfenstern, vielfältigen Einbauten und Ornamenten malerisch ausgestalteten Wohnräume sind zentral um eine im Grundriss fast 60 Quadratmeter große, über beide Hauptgeschosse reichende Halle mit Haupttreppenaufgang gruppiert. Dort sowie im Herrenzimmer und im Salon der Dame sorgen offene Kamine für Behaglichkeit. Ein »Grünhaus« für die Dame durfte ebenso wenig fehlen wie ein großzügiges Billardzimmer mit direktem Zugang zum parkartigen Garten und ein in zwei Ebenen angeordneter Weinkeller mit Probierstube für den Herrn.

Auch die technische Ausstattung befand sich auf internationalem Stand. »Die Erwärmung des Hauses erfolgt durch eine Kellingsche Warmwasserheizung, die Beleuchtung durch elektrisches Licht vermittelst einer Accumulatorenanlage, welche im Keller des in der Nähe befindlichen Stallgebäudes untergebracht ist und durch Kabel von der in der 800 m entfernten Fabrik aufgestellten Dynamomaschine geladen wird.«2 Gut vier Jahre vor Inbetriebnahme des Kummer’schen Elektrizitätswerks im Lößnitzgrund fertig gestellt, war die Kolbevilla damit möglicherweise überhaupt das erste Radebeuler Wohngebäude mit elektrischer Beleuchtung. Und auch die Dienerschaft (die Hausangestellten wohnten im teilweise ausgebauten Dachgeschoss, die Gärtnerfamilie im Souterrain) durfte sich über moderne Arbeitserleichterungen freuen, so war etwa die im Keller befindliche Waschküche über einen Fahrstuhl mit dem Trockenboden verbunden. Was die innere Ausstattung betrifft, war »Wohnlichkeit, physisch und psychisch genommen, das bewegende Grundmotiv« des in enger Abstimmung mit dem Bauherrn arbeitenden Architekten, wie ein Kritiker in der Deutschen Bauzeitung (30. Jg., 1896, Nr. 96, S. 601) anerkennend bemerkte. Und betrachtet man die dort abgedruckten Interieurzeichnungen, könnte man sich das Haus im Originalzustand gut als Kulisse für die Verfilmung eines englischen Krimis vorstellen.

Herrenzimmer

Die moderne Ausstattung steckte March in eine historisierende Hülle, deren Stil, ähnlich wie der der zeitgleich im Bau befindlichen Radebeuler Lutherkirche, der deutschen Neorenaissance verpflichtet ist. Die nach Nordwesten gerichtete, herrschaftlichere Schauseite mit Gartenterrasse und Balkon wird von einem stattlichen Giebel und zwei mit welschen Hauben turmartig abgeschlossenen Frontausbauten dominiert. Die Südostfassade mit dem Haupteingang zeigt dagegen eher ländliches Gepräge. Die Flächen sind mit roten Klinkern verblendet, Gesimse, Pfeiler und Fenstergewände in Cottaer Sandstein ausgeführt. Auch hier wurde mit ornamentalem Schmuck, Steinmetz- und Kunstschmiedearbeiten, nicht gespart. Alles in allem, so Oskar Hofsfeld 1891 im Centralblatt der Bauverwaltung, stellte die Kolbevilla »ein beachtenswertes Beispiel für den Landsitz einer begüterten deutschen Bürgerfamilie dar«, »eine Schöpfung, die das Auge des Beschauers erfreut« und geeignet sei, »dem Besitzer in hohem Maße den Genuss häuslichen Behagens zu gewähren.«

Über das weitere Schicksal der seit 1980 unter Denkmalschutz stehenden Villa, u.a. jahrzehntelang als chirurgische Klinik, hat Dietrich Lohse schon vor mehr als 13 Jahren an dieser Stelle berichtet (V&R 1994/1, S. 2-4). Damals befand sich dort noch eine Behindertenwerkstatt des Vereins »Lebenshilfe«, seit deren Auszug im Februar 1995 das Gebäude trotz verschiedener Sanierungsplanungen nach wie vor leer steht. Dem gegenwärtigen Besitzer ist an »häuslichem Behagen« wohl nicht so sehr gelegen, und statt Freude erregt das Anwesen, das mittlerweile eher als Kulisse für einen Gruselfilm herhalten könnte, beim Betrachter heute nur noch Mitleid. Da aus dem einstmals gepflegten Park mit seiner sehenswerten Einfriedigung ein kaum wirksam zu sichernder, verwilderter Hochwald geworden ist, hat die verlassene Villa inzwischen auch ungebetene Gäste gehabt, Vandalismusschäden sind die Folge. Fragt sich, wie lange dieser unwürdige Zustand noch fortdauern soll. Jede denkbare Nutzung dieser bemerkenswerten gründerzeitlichen Fabrikantenvilla wäre besser als gar keine. Am besten freilich wäre es, wenn sich eine öffentliche Nutzung fände.

Frank Andert

[V&R 7/2007]

  1. Neben zahlreichen Wohn- und Geschäftshäusern schuf der auch als Bauunternehmer tätige Architekt später u.a. eine Reihe von Kirchenbauten in ganz Deutschland. Marchs letztes Großprojekt war 1912/13 das Berliner Kaiser-Wilhelm-Stadion, das 1934/36 durch seinen Sohn Werner zum Berliner Olympiastadion umgebaut wurde.
  2. Hd. (= Oskar Hofsfeld): Landhaus Kolbe in Radebeul. In: Centralblatt der Bauverwaltung 11(1891)49, S.478f., hier S.479.

Im Archiv gestöbert: Der Architekt und Kunsthistoriker Richard Steche

Manfred Altner hat im Dezemberheft der Vorschau als kleinen Nachtrag zum Radebeuler Stadtlexikon Wissenswertes zur Biographie von Generaloberarzt Walter Stechow berichtet, der 1885 das Hohenhaus in Zitzschewig erwarb. Uns geht es aus gegebenem Anlass in diesem und im folgenden Heft um das Leben eines Mannes mit ganz ähnlich lautendem Namen, der sich etwa zur gleichen Zeit, Heilung suchend, in Niederlößnitz niederließ und seinem deutlich bescheideneren Domizil an der Winzerstraße aus Liebe zum vierbeinigen Haustier die Bezeichnung „Mops-Haus“ verpasste. Im Stadtlexikon taucht der Jubilar – im Februar jährt sich sein Geburtstag zum 170sten Male – zwar schon auf, doch die Liste seiner Verdienste ließ sich dort nur in Ansätzen skizzieren. Gemeint ist

 Der Architekt und Kunsthistoriker Richard Steche

vorschau_1-07_richard-stecheDie besondere Wertschätzung, die Richard Steche gegen Ende seines Lebens genoss, lässt sich schon daran ablesen, dass ihm 1893 – lange nach Schließung des Kötzschenbrodaer Kirchhofs für Begräbnisse – die letzte Ehre zuteil wurde, „unter den Klängen der Feiertagsglocken“ direkt neben der heutigen Friedenskirche bestattet zu werden. Das mit einem bronzenen Portraitrelief versehene Grabdenkmal gereicht dem Kirchhof noch heute zur Zierde.
Doch wer war Richard Steche? Die bis heute ausführlichsten Würdigungen seiner Person verdanken wir Hermann Arthur Lier (1857-1914), der jahrzehntelang als Bibliothekar an der königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden wirkte und mit Steche unter anderem das Interesse für historische Bucheinbände teilte. Auch Lier gehört zu den runden Lößnitz-Jubilaren dieses Winters. Er wurde am 1. Februar vor 150 Jahren in Herrnhut geboren und wohnte seit den 1890er Jahren in Niederlößnitz, später bis zu seinem frühen Tod, wie Kürschners Deutscher Literatur-Kalender etwas irreführend vermerkt, in „Dresden-Serkowitz, Mozartstr. 4“. Obwohl Lier nur wenige selbständige Publikationen hinterlassen hat, war er ein überaus produktiver Schriftsteller. Allein zur „Allgemeinen Deutschen Biographie“, dem vielbändigen biographischen Standardwerk der Kaiserzeit, steuerte er mehr als 400 Lebensbeschreibungen bei. Um auch Lier zu seinem Recht kommen zu lassen, lehnen wir uns im Folgenden eng an seine Aufsätze über Richard Steche an.[1]
Franz Richard Steche wurde am 17. Februar 1837 in Leipzig als Sohn ei­nes angesehenen Rechtsanwalts geboren. Er wuchs in einem kunstsinnigen Hause auf, dessen Seele seine Mutter Lidy, geb. Angermann, war. Vor ihrer Heirat Sängerin am Leipziger Gewandhaus, leitete sie spä-
ter einen Gesangverein, der 1853 Ri­chard Wagners „Lohengrin“ zur konzertanten Uraufführung brachte. Zu den Musikern, die in Steches Elternhaus verkehrten, gehörten neben Wagner unter anderem auch Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt und Robert Schumann. Die musischen Interessen des jungen Richard richteten sich allerdings, befördert durch seine Lehrer an der Thomasschule, eher auf die bildenden Künste und die Altertumskunde. Seinen Wunsch, Kunstgeschichte zu studieren, gab er auf Betreiben der Eltern auf und bezog stattdessen 1856 die Dresdner Bauschule, um Architekt zu werden. Von 1859 bis 1861 setzte er seine Studien an der Bauakademie in Berlin fort und arbeitete danach in den Ateliers von Oberhofbaurat Jo­hann Heinrich Strack und Richard Lucae, die die besonderen zeichnerischen Fähigkeiten Steches zu schätzen wussten und ihm erste selbständige Aufträge vermittelten.
1863 fand Steche eine Anstellung als Architekt bei der Mecklenburgischen Friedrich-Franz-Eisenbahn, für die er u. a. die Bahnhöfe von Neubrandenburg und Oertzenhof entwarf. Diese zeigen in ihrer zeittypischen Backsteinarchitektur deutlich den Einfluss seines Lehrers Strack. In seinen Mußestunden widmete sich Steche der Erforschung der mittelalterlichen Kirchen- und Profanbauten Mecklenburgs. Durch Aufträge zur Restaurierung der historischen Dorfkirchen von Lübberstorf und Sadelkow konnte er in dieser Zeit auch erste Erfahrungen in der praktischen Denkmalpflege sammeln.
1867 kehrte Steche nach Sachsen zurück und ließ sich nach Ablegung des Bauhandwerkerexamens in Dresden als Architekt nieder. Trotz einiger Erfolge in diesem Beruf – in Leipzig baute Steche unter anderem den Eilenburger Bahnhof und gewann den Wettbewerb für einen Kirchenneubau – gehörte seine eigentliche Leidenschaft der kunstwissenschaftlichen und archäologischen Forschung. Um den Kreis seiner Anschauungen zu erweitern, unternahm er jährlich größere Reisen, von denen er stets eine Fülle neuer Eindrücke und Beobachtungen mit heimbrachte. Diese verarbeitete er in Aufsätzen für Zeitungen und Zeitschriften, mit denen er sich auch in akademischen Kreisen einen Namen machte. Unter seinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten finden sich auch einige zur Baugeschichte und künstlerischen Entwicklung der Residenzstadt Dresden, etwa über George Bähr, den Baumeister der Frauenkirche, oder seine Leipziger Dissertation (1877) über Hans von Dehn-Rothfelser, den Oberbauleiter des Dresdner Schlosses.
Steches besondere Aufmerksamkeit galt dem Gebiet der angewandten Kunst und dem Kunstgewerbe, etwa der Geschichte der Möbel und Öfen. 1875 initiierte er in Dresden eine viel beachtete Ausstellungen älterer kunstgewerblicher Arbeiten, eine der ersten ihrer Art in Deutschland. Mit einer Arbeit zur Entwicklung der sächsischen Buchbinderkunst habilitierte er sich 1878 an der königlichen technischen Hochschule, wo er 1880 zum außerordentlichen Professor für die Geschichte der technischen Künste berufen wurde. Im gleichen Jahr übernahm Steche die Leitung des Inventarisationswerkes der sächsischen Kunstaltertümer. In dieser Funktion erarbeitete er die ersten Bände der „Beschreibenden Darstellung der Bau- und Kunstdenkmäler Sachsens“ (1882ff.), sein bis heute wichtiges wissenschaftliches Hauptwerk, das uns im nächsten Heft ebenso beschäftigen soll wie Steches letzte Jahre in Niederlößnitz.
Frank Andert

 1 H.A. Lier: Richard Steche. Ein Nekrolog. In: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 14(1893), S.125-137. – H.A. Lier: Steche,
 Franz Richard. In: Allgemeine Deutsche
 Biographie, Bd. 35, S.537-539.

In Erinnerung an den Moritzburger Künstler Hans-Georg Annies

Ein treuer Leser unserer „Vorschau…“

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Hans-Georg Annies übergibt im Frühjahr 2005 eine Holzskulptur an die Moritzburger Schule

Oft genug rief er mich an und hatte an irgendeinem Beitrag in unserem Monatsheft „Vorschau und Rückblick“ etwas zu loben oder auch zu kritisieren. Doch wenn er letzteres tat, dann nie, ohne gleichzeitig zu sagen, was er anders oder besser machen würde. Hans-Georg Annies war unser Leser vom ersten Tage an, seit die „Vorschau…“ ab Mai 1990 wieder erschien. Und aus dieser Affinität rührte auch meine private Bekanntschaft oder besser gesagt Freundschaft zu dem am Moritzburger Ortsrand in einer natürliche Idylle lebenden und arbeitenden Künstler. Was mir von den Atelierbesuchen bei ihm in Erinnerung geblieben ist, das sind vor allem die tiefgründigen Gespräche, die man mit ihm führten konnte. Am 7. Juni 2006 verstarb der Grafiker und Holzbildhauer Hans-Georg Annies wenige Tage nach seinem 76. Geburtstag. Annies entstammt einer ostpreußischen Familie und hatte schon von klein auf den Wunsch, einmal Bildhauer zu werden. Von der Schulbank weg aber wurde er zur Wehrmacht geholt und musste so seinen Berufswunsch erst einmal begraben. Da er sich in der frühen DDR  beharrlich weigerte, FDJ-Mitglied zu werden, wurde ihm ein Kunststudium verweigert. Alternativ absolvierte er eine künstlerische Ausbildung an der Volkshochschule und fand 1963 seine Heimat als freischaffender Künstler in Moritzburg. Annies gilt als der Erfinder der Holztiefdrucktechnik und erhielt für seine Arbeit an der Wei­ter­entwick­lung dieser Technik im Jahr 2000 das Bundesverdienstkreuz I. Klas­se verliehen. Vor einigen Jahren besiegte er eine Krebserkrankung und wertete dies als ein wahres Wunder. Über den Krebs hatte er gesiegt, nun wollte das Herz nicht mehr mitmachen. Werke von Hans-Georg Annies befinden sich in unzähligen Sammlungen in Deutschland, aber auch in Japan, Frankreich und Luxemburg.
Wolfgang Zimmermann     

Der Maler Claus Weidensdorfer wird 75 Jahre alt

Kunst ist auch eine Sucht – 

weidensdorf_9-2006Vor genau vierzig Jahren begann seine Arbeit als Freiberufler in Sachen Bildender Kunst, vor genau dreißig Jahren zog er um in die Lößnitzstadt Radebeul. Das war kein sonderlich gewaltiger Schritt, denn die neue Heimat befand sich nur wenige Kilometer von seiner Geburtsstadt Coswig entfernt. Was aber auch für die sprichwörtliche Bodenständigkeit von Claus Weidensdorfer spricht. Das unstillbare Fernweh – von dem Maler so gern sprechen – war ihm nie sonderlich erstrebenswert. Claus Weidensdorfer fand stets ausreichend Motive für seine Kunst in der heimischen Umgebung, vor allem aber in den Faltenwürfen der gesellschaftlichen Verhältnisse wie auch im menschlichen Miteinander hierzulande – in Coswig, in Radebeul und vor allem in Dresden. „Kunst ist u. a. eine Sucht“ definierte Claus Weidensdorfer vor etwa zehn Jahren einmal seine künstlerische Affinität. Und erklärte diese Sucht so „Nimm einen Stift in die Hand und du kannst nicht mehr aufhören, so wie manche Leute nicht mehr aufhören können zu sprechen, wenn man sie nach dem Weg fragt“  Zwei schwer vergleichbare Süchte, dennoch versucht es der Künstler und zementiert damit zugleich seine Bodenhaftung, seine Normalität. Bodenständig ist Claus Weidensdorfer bis heute geblieben und auf dieser soliden Basis feierte er am 19. August ein dreiviertel Jahrhundert  Leben – seinen 75. Geburtstag.
1931 in Coswig geboren und aufgewachsen, bewarb er sich mit 20 Jahren an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste und studierte dort von 1951 bis 1956 bei Max Schwimmer, Erich Fraaß und Hans-Theo Richter. Danach ging er als Zeichenlehrer für ein Jahr nach Schwarzheide und kehrte dann für die nächsten neun Jahre als Assistent für Grafik und Malerei an den Ort seines Studiums zurück. Von 1966 an arbeitete Claus Weidensdorfer freischaffend. 1992 kehrte er erneut an die Hochschule zurück, trat hier eine Professur an und unterrichtete bis 1997 Kunststudenten. Gemeinsam mit dem Jazztrommler Günter „Baby“ Sommer bekam Claus Weidensdorfer vor wenigen Jahren den Kunstpreis der Großen Kreisstadt Radebeul verliehen. Dieser Zweisamkeit mit einem Musiker liegt eine weitere Besonderheit des Malers zugrunde; seine Affinität zur freien improvisierten Musik nämlich. Diese Beziehung war und ist in seinen Arbeiten oft zu entdecken, und sie  prägte logischerweise auch seinen engeren Künstlerfreundeskreis – zu denen vor allem Jürgen Haufe, Andreas Dress, Wolf-Eike Kuntsche, Gunter Herrmann oder Werner Wittig zählten und zählen.
Ein Laudator sagte mal u.a. über Claus Weidendorfer „….seine Kunst ist tiefgründig und voll augenzwinkerndem Humor“. Wer ihn etwas näher kennt, der weiß, dass diese Eigenschaften auf den gesamten Menschen Claus Weidensdorfer zutreffen.

Architekt Albert Patitz zum Hundertsten

Am 24. Mai 1906 wurde Albert Patitz geboren – am 6. August 1978 starb er in Radebeul. Sein Grabmal befindet sich auf dem Friedhof der Lutherkirchgemeinde in Radebeul-Ost. Wir erinnern an den Architekten, weil auf seine Entwürfe viele Wohnhäuser der 30-er, aber auch der 50-er Jahre in Radebeul, vor allem im Ortsteil Oberlößnitz, zurückgehen. Als Architekt war er ein Vertreter zwischen Tradition und Moderne. Von den etwa zur gleichen Zeit in Radebeul tätigen Architektenkollegen – Max Czopka und Dr. Alfred Tischer – ist Patitz derjenige mit der „ausgeprägtesten Handschrift“. Vor allem sind es die jeweils individuell gestalteten Eingangsbereiche, an denen man seine Häuser erkennt, wie ein Bildbeispiel der Sachsenstraße 7 zeigen soll. Da die Patitz-Wohnhäuser für meist begüterte Radebeuler Bürger über das gesamte Stadtbild verstreut stehen, fügen sich hier, anders als bei Czopka, die Häuser zu keiner eigenen Städteplanung zu­sammen, jedoch kann man immer eine sehr gute Einfügung in das bestehende Stadtbild feststellen. Dazu trägt der entfernt an Radebeuler Winzerhäuser erinnernde, zweigeschossige, verputzte Baukörper mit hohem, ziegelgedecktem Walmdach wesentlich bei.
Albert Patitz hatte sein Entwurfsbüro, zeitweilig mit Karl Lötzsch, in der heutigen Eduard-Bilz-Straße 9 (kein Patitz-Bau). Außer guter Zusammenarbeit mit verschiedenen Handwerkern, wie z. B. Kunstschmieden, fand ich besonders interessant, dass Patitz auch Sgraffito-Arbeiten mit dem Dresdner Künstler Hermann Glöckner, wie die Sonnenuhr am Hause Bodelschwinghstraße 10 beweist, realisierte. Eine ganze andere Bauaufgabe löste Patitz für den Einbau der Stadtbibliothek in das ältere Mehrfamilienhaus Sidonienstraß 5 – hier sind die Spuren seines Wirkens durch Leerstand seit einigen Jahren leider fast verwischt.
Sein Wirkungskreis er­streckte sich auch über Radebeul hinaus. Durchaus größere städteplanerische Ideen verwirklichte Patitz nach dem zweiten Weltkrieg in Dresden (Nürnberger Ei) und in der Stadt Riesa.
Ulrich Patitz, der ältere Sohn von Albert Patitz, schrieb in „Vorschau und Rück­blick“ um 1960 einige Beiträge zum damaligen Radebeuler Kulturleben – gereiftere Vorschau-Leser können sich vielleicht daran erinnern. Ich habe den jüngeren Sohn Lutz Patitz, Architekt in Frankfurt/Oder, gewinnen können, etwas mehr zur Biografie des Vaters und zu seinen Bauaufgaben für uns aufzuschreiben. Diesen vertiefenden Artikel möchte ich für das Juniheft, vielleicht auch das Juliheft von „Vorschau und Rückblick“ ankündigen und unsere Leser schon ein wenig neugierig machen.

Dietrich Lohse

Die stille Malerin – Lieselotte Finke-Poser feiert 80. Geburtstag

finke-poser_12-2005Wie in jedem Jahr – und das nun schon seit 1979 – hatte Lieselotte Finke-Poser ihren Stammplatz beim traditionellen Radebeuler Grafikmarkt am ersten Novemberwochenende bezogen. Um sie herum eine Fülle an Aquarellen und Radierungen – Radebeuler Landschaften, Tierporträts, Stilleben und vieles andere mehr. Gewiss; als sie damals mit einer Reihe von Gleichgesinnten den Grafikmarkt gründete, da war sie noch um ganze 27 Jahre jünger. Nun ist ihr Haar grau geworden und sie kann nicht mehr so sehr lange auf den Beinen stehen. Ihrer Leidenschaft aber geht sie nach wie vor intensiv nach: der Malerei. Derzeit kann man über 50 Porträts und Porträtstudien von Lieselotte Finke-Poser im Autohaus von Rainer Gommlich be­trachten. Aus dem Jahre 1943 datiert das älteste ausgestellte Bild; damals malte Lieselotte Finke-Poser ein Selbstporträt in schwarzer Kreide. Die jüngste Arbeit entstand 2004 und zeigt die Porträtstudie einer alten Frau, die in einem Pflegeheim lebt. Zwischen beiden Bildern liegen mehr als sechzig Jahre.
Seit 1953 schon lebt und arbeitet Lieselotte Finke-Poser in Radebeul. Geboren wurde sie 1925 in der Nähe von Kassel, Kunst studierte sie von 1945 bis 1950 an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Zu ihren Professoren dort zählten u. a. solch bedeutende Künstler wie Elisabeth Voigt und Ernst Hassebrauk. Im Übrigen studierte sie in einer äußerst komplizierten Zeit, die noch weitgehend davon geprägt war, dass die Bildende Kunst als eine Männerdomäne gehandelt wurde. Auch Lieselotte Finke-Poser bekam das zu spüren, indem sie von Professoren der Hochschule geradezu abgelehnt wurde. Und als man ihr künstlerisch nichts tun konnte, versuchte man es mit politischen Repressalien. Nichtsdestotrotz biss sich Lieselotte Finke-Poser durch; 1950 heiratete sie den Flötisten Willi Finke und folgte ihm 1953 nach Radebeul, als er eine Stelle im Orchester der Landesbühnen Sachsen erhielt.
Lieselotte Finke-Poser war lange Jahre auch als Illustratorin tätig und viele der in der DDR aufgewachsenen Kinder verbinden ihren Namen mit nachhaltig wirkenden Kinderbuchillustrationen. Am 29. Dezember feiert die Künstlerin ihren 80. Geburtstag. Die Redaktion von “Vorschau und Rückblick” gratuliert ganz herzlich.
W. Zimmermann

Albert Patitz – ein Radebeuler Architekt (Teil 2)

Zum 100. Geburtstag am 24. Mai 2006 (Fortsetzung aus Heft 6)
Als am Ende des Krieges die sowjetischen Truppen nach Ra­debeul drangen, mussten die Eltern wie die anderen Bewohner das Lämmel’sche Mehrfamilienhaus (Gabelsberger Str. 1, dann Straken 9, heute Eduard-Bilz-Str. 9) verlassen, ur­sprünglich sollte die Einquartierung nur zwei Tage dauern, daraus wurden dann mehr als zwei Monate. Nach der Rückkehr und der Beseitigung des Schmutzes und der Spuren des Vandalismus, versuchte Va­ter, das Architekturbüro wieder in Gang zu bringen und verzeichnete in seinen Rentenantragsunterlagen ei­nen Einsatz bei der neuen Stadtverwaltung. Dabei wurde er auch zu Planungen (Wohnungsneubau) für so­wjetische Dienststellen mehr oder weniger zwangsverpflichtet.
Vom 25. Januar 1946 datiert eine Mitgliedsbescheinigung der Landeskammer der bildenden Künstler Sachsens – Gruppe Dresden – die seine Anerkennung als freischaffender Künstler enthält und den Vermerk „Es stehen ihm deshalb Befreiungskarte, Arbeiterlebensmittelkarte so­wie Arbeitsräume und das dafür erforderliche Heizmaterial zu“. Vom 21. August 1946 gibt es ferner eine Bescheinigung des FDGB über die (wohl seit dem 1. Juli 1946) bestehende Mitgliedschaft in der Gewerkschaft 17, Sparte 7 Bildende Kunst, ebenfalls mit der Anerkenntnis als freischaffender Künstler und der Befürwortung der Berechtigungskarte bis zur Dauer von einem Jahr. Am 6. Juli 1946 wurde auch sein zweiter Sohn, der Verfasser dieses Artikels, geboren, der 1973 Radebeul verließ, um in Frankfurt (Oder) als Stadtplaner zu wirken.
Wohl schon 1946, mit Sicherheit ab 1947 ist Vater mit Planungen für Maßnahmen gemäß dem Neubauernprogramm betraut. In einem Schreiben des Landrates von Pirna vom 7. März 1947 erfolgt eine Bestätigung als „Bezirksarchitekt“ für neun Gemeinden im Raum Pirna / Sächsische Schweiz. hier entstanden zahlreiche Entwürfe für meist kleinere Bauten im ländlichen Raum. Laut einer Bescheinigung vom 4. März 1948 war er deshalb „als Kulturschaffender von anderweitigem Arbeitseinsatz befreit“.
Sein jüngster Bruder Rudolf Patitz, der damals in Pirna wohnte, scheint nicht unwesentlich bei der Vermittlung und Auftragserfüllung mitgeholfen zu haben und bildete mit Vater in dieser und der folgenden Zeit ab 1949 eine Arbeitsgemeinschaft (eine schriftliche Bestätigung datiert vom 10. Januar 1950). So ist Bruder Rudolf, wahrscheinlich auch durch Beziehungen zum Zellstoffwerk Heidenau, die Beschaffung eines größeren Auftrags, die Planung für das Zellstoffwerk Magdeburg-Rothensee (ab 15. Juni 1949), zu danken. Die Arbeitsgemeinschaft arbeite damals als „Sub“ für die Landesprojektierung Sachsen. Erwähnenswert aus dieser Zeit sind Planungen für die Schiffswerft Roßlau, verschiedene Bauten in Bernburg, die Sprungschanze in Altenberg / Geising und das Pionierlager in Papstdorf.
Vom 1. Januar 1951 bis zum 30. Mai 1951, die Selbständigkeit war wohl – auch angesichts der staatlich dekretierten Wertumfangbeschränkungen für Privatarchitekten auf Objekte bis, wenn ich mich recht erinnere, maximal 50 T DM Bauleistung, nicht mehr zu retten, wird Vaters Radebeuler Büro mit inzwischen etwa zwölf Be­schäftigten, eine Art Zweigstelle des VEB Industrieentwurf. Am 1. Juni 1951 erfolgte die endgültige Übernahme durch den VEB (Z) Projektierung – Entwurfsbüro für Hochbau Dresden I. Vater musste dann – mit eigenen Ausrüstungen, die er teilweise später zurückerhielt – mit der gesamten Mannschaft in die Tannenstraße nach Dresden ziehen und erhielt am 1. Oktober 1951 einen Einzelvertrag. In nur sieben Monaten wurde von ihm die Sportschule Neuländer Straße geplant und errichtet. Dafür wurde er am 13. Oktober 1952 zum ersten Mal als „Aktivist“ ausgezeichnet. Am 10. Dezember 1952 erhielt er eine Berufung als Brigadeleiter. Bereits seit dem 30. Juni liefen Planungen für die Wismut, Wohnungs- Kultur- und Sozialbauten in Johanngeorgenstadt und, ab 1. Oktober 1952 die Poliklinik in Aue. Dafür wurde Vater im Oktober 1953 zum zweiten Male Aktivist.
Seit Mitte 1953 entstanden auf den Zeichenbrettern schon die Planungen für die Dresdner Südvorstadt (im Rahmen eines Sonderbauprogramms für Arbeiter des Bergbaus mit etwa 1500 Wohnungen). Aufgrund eines Schreibens des Ministers für Aufbau vom 25.3.1954 erhielt Vater für das Projekt „331 Wohnungen in der Nürnberger Straße“ aus dem Ministerfonds eine persönliche Prämie in der für damalige Verhältnisse nicht geringen Höhe von 1500 DM. Die Südvorstadt muss ihn auch in den Folgejahren beschäftigt haben (u. a. Nebenstraßen der Nürnberger Straße, Würzburger Straße). 1954 tritt er dem, auch in der DDR wieder konstituierten Bund Deutscher Architekten zum zweiten Mal bei und hat die Mitgliedsnummer 275; denn die erste Mitgliedschaft aus dem Jahre 1932 währte nur bis Ende 1933. Am 15. Dezember 1933 wurde er – nach Auflösung des BDA – mehr oder weniger automatisch Mitglied der Reichskulturkammer als Vertretung der Architektenschaft; einen Abstammungsnachweis musste er allerdings erst 1938 erbringen. Vater legte immer sehr viel Wert auf die BDA-Mitgliedschaft und unterschrieb in der Regel mit „Architekt BDA“, auch dann noch, als der Bund am 5. Juli 1972 zum Bund der Architekten in der DDR (mit einer nunmehrigen Mitglieds-Nr. 03039) transformiert wurde.

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Entwurf für das Wohnhaus des Buchbinders K. L., 1936

Aufgrund fachlicher und politischer Differenzen mit einem neuen Betriebsdirektor wurde ihm, wohl Ende 1958, der Einzelvertrag gekündigt; ich kann nicht sagen, ob das auch einer generellen Kündigung gleichkam. Es gab jedenfalls sehr viel Aufregung zu Hause, und ich erinnere nur, dass damals der Direktor des Büros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung aus der Altenzeller Straße in Dresden, der ihm persönlich sehr gewogen war, in unserer Wohnung vorstellig wurde und Vaters „Umsetzung“ zu diesem Büro vorschlug, was dann ab 1. Januar 1959 auch stattfand. Hier wurde er Leiter der Stadtplanungsgruppe II (zuständig für die Kreise Riesa, Meißen und Großenhain), seit dem 1. April 1963 nannte er sich Leiter der Komplexbrigade II (für den gleichen Arbeitsbereich), und es sind wohl besonders seine Bemühungen um die „Generelle Planung der Stadt Riesa“ und der städtebauliche Entwurf für den „Wohnkomplex Riesa-Weida“ (etwa 4000 Wohnungseinheiten) aus dieser Zeit hervorzuheben.
Zum 1. Januar 1965 wurde er in das neugegründete Büro für Territorialplanung beim Rat des Bezirkes Dresden, das sich aus Teilen der Mitarbeiterschaft des Büros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung rekrutierte, übernommen. Es arbeitete auch in der Altenzeller Straße, wohingegen die verbleibenden Stadtplaner nun das neugeschaffene Büro des Be­zirksarchitekten (damals Peter Sniegon) bildeten. Die letzten Monate vor seinem Eintritt in die Altersrente im Mai 1971 wurde Vater zum sogenannten Bezirksenergiestab delegiert, trat aber dann Mitte August endgültig aus dem Beschäftigtenverhältnis. Bis zu seinem Tode am 6. August 1978 – er verstarb im Radebeuler Krankenhaus an den Folgen einer Operation – hatte er dann noch eine Fülle kleinerer Projekte, zumeist Um- und Ausbauten in Radebeul, gefertigt.
In seiner näheren Umgebung, insbesondere für die Belange der Schule Oberlößnitz hat sich Vater immer sehr engagiert eingesetzt. Für die Gestaltung des Festumzugs „600 Jahre Radebeul“ im Jahre 1953 hat er sich ebenso verantwortlich gefühlt wie für den anlässlich der 100-Jahr-Feier der Schule Oberlößnitz im Jahr darauf, für die er auch das langjährige Logo (mit Spitzhaus, Schulgebäude und einer Weintraube) unentgeltlich entwarf. Er war nach dem Kriege „Freund der neuen Schule“, viele Jahre Mitglied des Elternbeirates und oft Vorsitzender des Elternaktivs, da mein Bruder 1953 die Schule verließ und ich im gleichen Jahre eingeschult worden war. Maßgeblich hatte er, nachdem die sowjetischen Truppen Ende der 50er Jahre aus der Oberlößnitz abgezogenen waren, die Um­planung des Grundstücks der Villa Wach im Augustusweg als Schulerweiterung zusätzlich zum Altstandort geleistet und den Umbau mehrerer Gebäude, nebenbei zu seinen Dresdner Aufgaben, bis etwa 1961 geleitet. Sein größtes „Einfamilienhaus mit Privatlabor im Keller“, das er in jener Zeit privat – also neben seinen Dresdner Aufgaben im volkseignen Betrieb – entwarf, ist wohl das Wohngebäude im Augustusweg für den Kaufmann und Chemiker Gerhard Meyer, den Gründer und damaligen Direktor von Myraplast in der Gartenstraße, der dann aber irgendwann den Osten verließ.
1959 war Vater Mitglied der Auftragskommission des Kreises Dresden-Land geworden, 1960/61 Vorsitzender des Bauaktivs, dessen Mitglied er wohl schon seit 1955 war. Seit September 1961 war er (für den Kulturbund, in dem er schon viele Jahre in der Arbeitsgruppe Denkmalpflege und Stadtgeschichte mitgearbeitet hatte) Stadtverordneter, ich denke für eine Legislaturperiode und in diesem Zu­sammenhang Mitglied der Ständigen Kommission Bauwesen. 1962 wurde er zudem ehrenamtlicher „Denkmalpfleger“ für Radebeul. (Schluss)

Lutz Patitz

Zum 75. Geburtstag des Moritzburger Grafikers und Bildhauers Hans Georg Anniès

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Hans Georg Anniès – 2. Internationales Bildhauersymposium in Moritzburg 2004

Die Bäume sind seit meinen Kindertagen meine Gefährten, Freunde und Lehrer – ohne sie ist mein Werk undenkbar“, sagt Hans Georg Anniès. Er müsse nur vor die Tür treten und er habe die einzigartige Moritzburger Wald-, Wiesen- und Teichlandschaft vor sich, in der er nun schon mehr als vier Jahrzehnte lebe.
Gleichnishaft verkörpert der Baum den Kreislauf des Lebens, Geburt, Wachsen, Sein, Altern, Tod. Er verkörpert vor allem den Herbst des Lebens, das Welken und Vergehen – Vergänglichkeit als Martyrium des Menschen, als Schicksal, als Unabänderlichkeit. Mit dem Baum ist also eine Marke von Gut und Böse, von Leben und Tod gegeben, aber auch – wie es Ernst Barlach nannte – ein Mittelstück zwischen Himmel und Erde.
Die Hölzer Hans Georg Anniès’ enthalten diese Sinngrenzen in ihrer Struktur, in ihren Lebenslinien. Sie sind Konstruktion und Destruktion in einem, Zeichen des Lebenswillens und zugleich solche der Vergänglichkeit. Der Bildhauer folgt den Wachstumsformen des Baumes, der Spirale, um sich gleichzeitig gegen das Unabänderliche aufzulehnen. Er arbeitet mit vielschichtigen Eingriffen von verletzender Direktheit den Wesenskern körperlicher und seelischer Erfahrungen aus dem Holz heraus. Eigentlich will er den Baum zum Singen bringen, nicht zum Sterben. Aber nicht immer kann das gelingen. Es lassen sich Grundformen ausmachen, langgestreckt nach oben gerichtet und ovale Grundmuster, die ein weibliches Körperverständnis evozieren können. Freie Visionen des Liegens, des Emporwölbens und des Aufsteigens, des Schwebens und des Versinkens. Raumbildungen, die fließend ineinander übergehen oder sich mit dem Außenraum berühren. Der Innenraum der Hölzer aber ist Symbol der Unzerstörbarkeit des Lebens. Höhlenartige Vertiefungen werden zur lebenserhaltenden, lebensschützenden, lebens“gebärenden“ Form. Dazwischen ist oft ein mathematisch scharfes, jäh schmerzhaftes Einschneiden in diese Zeichen naturhaften Wachsens, Risse öffnen sich beim Abtasten, um die dahinterliegende Wahrheit zu erfahren. Wunden heilen ebenso wenig im Holz wie im Menschen. Beim Umwandern der Skulpturen, so z.B. der überlebensgroßen Skulptur „hegen“ (2004) im Moritzburger Wildgehege, erschließen sie sich in ihrer Allansichtigkeit als Vorgang, nicht als Gegenstand, wie eben auch Anniès’ Holztiefdrucke Vorgänge, Prozesse sind.

Gerade seine Holztiefdrucke stellen eine besondere künstlerische Innovation dar, der wir uns noch gar nicht so recht bewusst geworden sind. Der herkömmlichen Grafik, die eine Vervielfältigung der Zeichnung war, hat er durch mehrfache Druckvorgänge mit ein und demselben Druckstock ein Ende gesetzt. Der Druckstock wird immer wieder anders eingesetzt und bringt deshalb stets ein anderes Bild hervor. Jeder Druck ist also ein Unikat. Der Druckstock, selbst ein Stück Natur, aus einem Baum geschnitten, dessen Gewebe und Strukturen, die Zellenformen, die helleren, äußeren Zonen und der dunkle gefärbte Kern bleiben erhalten und verhalten sich kontrapunktisch zu den Hinzufügungen des Künstlers. In dem Moment, in dem der Künstler ein neues Element hinzufügt (Bildzeichen, Chiffren, elementare Formen der Baumästhetik wie Kreis, Spirale, Samenkorn, Dreieck, Viereck und Kreuz, die sich räumlich aufrichten, zu schweben oder zu rotieren scheinen, auch Hell-Dunkel-Kontraste), fängt die Natur an, sich zu verwandeln. Sie macht eine Permutation durch, wie in der polyphonen Musik kontrapunktische Elemente ausgetauscht und wechselnd kombiniert werden, die in verschiedenen Stimmen zugleich erklingen können. Die Natur erhält die Bedeutung einer Bildmetapher, die in Richtung einer naturphilosophischen, anthropologischen oder auch kosmologischen Dimension weisen kann.

Sein Grafikzyklus „Großer Gesang der Bäume“ (2000) ist nach einem Gedicht Rainer Maria Rilkes benannt worden, in dem es heißt: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, / die sich über die Dinge ziehn. / Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen / aber versuchen will ich ihn.“ Anniès’ Zyklus besteht aus 7 Arbeiten und zeigt jeweils eine negative und positive Kreisform, der jedesmal ein anderes Holz zugrunde liegt. Seine Verbindung von endloser Linie und statischer Ruhe ließen den Kreis zum Sinnbild für den Schöpfergott und den Himmel, seine bruchlose Geschlossenheit zur Schutzzone oder zum Zeichen von Kraft, seine Entsprechung zur immer neuen Wiederkehr der Jahreszeiten, zum Symbol der Zeit und Unendlichkeit, des Lebens werden. Das Ungleichgewicht der Blätter 3 und 4 wird in ein dynamisches Gleichgewicht der vorangehenden wie anschließenden Blätter – der Blätter 1, 2, 5, 6 und 7 – verwandelt und verdeutlicht so das Wachstum der Bäume: Bewegung und Ruhe, Rauschen – Schweben – Balance – schwerelos, labil – verletzlich – unberührbar, Übergang – Verwandlung, Erinnerung, Ahnung – Traum, Dämmerung – Lauschen – Einsamkeit, Schein – Sehnsucht – Sein. Der dunkle (positive) Kreis rückt nach hinten, der helle (negative) Kreis nach vorn. Weiß und Schwarz ergeben ein Grau in verschiedenen Valeurs und Abstufungen, das den Strukturen eine ungeheure Transparenz, Hans Georg Anniès – Arbeiten in der Kreuzkirche Dresden 2003 Fragilität, Flüchtigkeit verleiht. Das Papierweiß wird zum Raum; wenn etwa ein Viertel des Kreises offen bleibt, dann scheint hier ein Moment der Sehnsucht, der Hoffnung auf. Wie würde sich ein Dreieck verhalten? Was würde passieren, wenn man mit demselben Druckstock mehrfach druckt und ihn dabei immer weiter in die Diagonale bringt? Wieder eine ganz andere, neue Seinserfahrung würde freigesetzt. So ergeben sich völlig entgegengesetzte Formbefunde, nur um 180 Grad gedreht und neu zusammengesetzt – und das alles mit ein und demselben Druckstock.

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Hans Georg Anniès – 2. Internationales Bildhauersymposium in Moritzburg 2004

 

Die Arbeiten Hans Georg Anniès, aus Stille und Kontemplation entstanden, erzeugen beim Betrachter einen Zustand des Verharrens, des Sich-Erinnerns, des Erkennens und Ahnens. Sie machen uns – und wenn auch nur für einen Moment – still, bevor uns die Hektik des Alltags wieder einfängt.

Prof. Klaus Hammer

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