Günter Schmitz und Gerhard Schiffel – Eine Malerfreundschaft

Was von einem Künstler bleibt, ist seine Kunst. Vorausgesetzt, der künstlerische Nachlass wird bewahrt – durch Nachkommen, Freunde, Sammler – und nicht zuletzt getragen durch eine „kulturell gebildete“ Öffentlichkeit. Eingebunden in den Reigen von vier Gedenkausstellungen, die in diesem Jahr aus Anlass des 100. Geburtstages von Günter Schmitz (1909-2002) in Dresden, Groß Zicker und Radebeul zu sehen sind, bietet die Ausstellung in der Radebeuler Stadtgalerie eine Besonderheit, denn in ihren Mittelpunkt wurde nicht Schmitz allein, sondern die Malerfreundschaft zwischen ihm und Gerhard Schiffel (1913-2002) gestellt.
Über 70 Jahre fühlten sich Schmitz und Schiffel sowohl künstlerisch als auch freundschaftlich familiär verbunden. Trotz widriger Umstände, die wechselvolle Zeiten mit sich brachten, verloren sie sich über die Jahrzehnte nicht aus den Augen und bewahrten sich Humor und Lebensfreude. Am künstlerischen Werdegang des anderen blieben sie zeitlebens interessiert. So war es auch selbstverständlich, dass Gerhard Schiffel der großen Personalausstellung zum 90. Geburtstag seines Freundes Günter Schmitz in der Radebeuler Stadtgalerie einen Besuch abstattete – nicht ahnend, dass es zehn Jahre später einmal zu dieser Gemeinschaftsausstellung kommen würde.

Viele wichtige Arbeiten aus der künstlerischen Hinterlassenschaft von Schmitz und Schiffel wurden innerhalb der Familien zusammengehalten. So war es möglich, aus einem reichen Œuvre zu wählen. Für eine Gesamtschau hätte es der mehrfachen Ausstellungsfläche bedurft. So hieß es aber immer wieder reduzieren, reduzieren, reduzieren. Zu sehen sind in der Ausstellung Arbeiten aus acht Jahrzehnten, welche von gemeinsamen künstlerischen Auffassungen zeugen, aber auch recht unterschiedliche Entwicklungen deutlich machen.

Zunächst absolvierten beide in Dresden eine Lehre zum Gebrauchsgrafiker. Während dieser Zeit müssen sie sich erstmals begegnet sein. Dem Katalog von Günter Schmitz ist zu entnehmen, dass er in den dreißiger Jahren mit seinem Freund Gerhard Schiffel „auf der Kaulbach-Ecke Grunaer Strasse …“ in einem Junggesellenquartier mit allen Merkmalen der Bohéme…“ wohnte. Zahlreiche humorvolle Zeichnungen legen davon beredtes Zeugnis ab. Während Günter Schmitz von 1930 bis 1937 an der Dresdener Kunstakademie studierte, arbeitete Gerhard Schiffel nach der Lehre in der AG für Kunstdruck in Dresden-Niedersedlitz. Bereits 1939 wurde er zum Militärdienst eingezogen und von der Front aus lediglich für das Wintersemester 1942/43 zum Studium an die Kunstakademie delegiert. Doch unabhängig von der Studiendauer mussten sich schließlich beide Künstler ihren Lebensunterhalt als Gebrauchsgrafiker verdienen. Zwar nutzten sie jede Gelegenheit zum Malen und Zeichnen, doch die Zeit war rar. Zunehmend wendeten sie sich der Technik des Aquarellierens zu und brachten es darin zu hoher Virtuosität. Die Kunsthistorikerin Dr. Christel Wünsch stellte in ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung fest: „In der Darstellung der Schönheit von Mensch und Natur, von Ausgewogenheit und Harmonie sahen sie das Ziel ihrer Kunst, und sie verfolgten dieses Ziel im Stil einer impressionistisch-realistischen Malerei, die in der Dresdner Kunst so reiche Früchte getragen hat.“

Zu den hervorhebenswerten Arbeiten aus den frühen Jahren zählen bei Günter Schmitz zweifellos die figürlichen Studienblätter, welche ab 1931 im Malsaal der Kunstakademie entstanden sind, darunter die spektakulären Dix-Modelle. Eher ungewöhnlich für Günter Schmitz ist das Ölgemälde „Zwingerserenade“ aus dem Jahr 1937, welches bei Gerhard Schiffel in einem gleichnamigen Aquarell sowie einer Radierung seine Entsprechung fand.

Die Landschaft war beider bevorzugtes Motiv. Finden sich in ihrem Schaffen zunächst zahlreiche Dresdendarstellungen und Reiseeindrücke, sind es später bei Schmitz Motive aus der Lößnitz, der Sächsischen Schweiz, dem Erzgebirge und immer wieder dem alljährlichen Urlaubsort Zicker auf Rügen. Schiffel hingegen blieb vorwiegend seinem ländlichen Umfeld in und um Borthen verbunden. Hinzu kam bei ihm die Neigung zur Fotografie. Einige sehr schöne Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit berührendem Orts- und Zeitbezug aus den Nachkriegsjahren wurden in die Ausstellung eingefügt.

Während es Günter Schmitz bis ins hohe Alter vergönnt war, uneingeschränkt künstlerisch tätig zu sein – selbst als über Neunzigjähriger bewältigte er großformatige Landschaftsaquarelle -, wurde Gerhard Schiffels Aktionsradius aus gesundheitlichen Gründen zunehmend kleiner. Doch getreu dem eigenen Spruch „Ein Maler malt immer, auch wenn er keinen Pinsel in der Hand hat.“ fand er die Motive fortan im häuslichen Umfeld. So malte und zeichnete er seine Katzen in unzähligen Variationen und wendete sich schließlich der Technik des Scherenschnitts zu.

Welche Wertschätzung beide Künstler in ihrem Wirkungsumfeld – Günter Schmitz in der Lößnitzstadt Radebeul und Gerhard Schiffel in Burgstädtel bei Borthen – noch heute genießen, lässt sich am außergewöhnlich großen Besucherzuspruch ermessen, der seit Ausstellungseröffnung nicht abreißt.

Außer den künstlerischen Arbeiten werden Filmsequenzen, Bild- und Textdokumente, gesammelte Überlebenssprüche, gebrauchsgrafische Arbeiten und selbstgefertigte Handpuppen gezeigt. Kleine Freundschaftsbeweise von der gemalten Glückwunschkarte zu Schiffels Hochzeit im Jahr 1938 über die erste Nachricht von Günter Schmitz an den Freund aus russischer Gefangenschaft im Jahr 1945 bis hin zu humorvollen Anspielungen auf Schiffels Refugium, den Pavillon mit Märchenwiese, oder seine besondere Affinität zur „Burgstädtler Linde“ ergänzen die Ausstellung, die noch bis zum 20. Dezember zu sehen ist.
Karin Gerhardt

Unser Nachruf für Dich, lieber Dieter Malschewski

Noch vor unserem 20. Geburtstag gingst Du als unser Redakteur von uns.
Als einer der ersten Initiatoren 1990, von einer wieder auferstehenden „Vorschau und Rückblick“ träumend, wurde dieser Traum auch Dank Deines Einsatzes schnell zur Realität.
Schon in den 50er Jahren mit dabei, war es Dir ein Bedürfnis, als Redakteur über fast 20 Jahre die neue„Vorschau“ Monat für Monat zur Auslieferung zu bringen. Auch wenn zeitweise unser Konto rote Zahlen zeigte: für das Kind „Vorschau“ wurde zeitweise auch persönlich verzichtet oder gar zugeschossen.
Dafür unser Dank, auch an Deine Frau. Ohne sie wäre das alles auch nicht möglich gewesen.
Das Leben ist endlich, wir wissen es!
Und trotzdem, Dein Tod , zwar einige Zeit schon von uns geahnt und von Dir ignoriert, macht uns alle sehr traurig. Bis zuletzt gelang es Dir mit aller Kraft, die Du noch hattest, die “Vorschau” pünktlich zum Druck zu geben. Sie war unglaublich, diese Beharrlichkeit, trotz Deiner schweren Krankheit.
Wir werden uns das zur Vorgabe machen müssen.
Und so werden wir keine Anstrengung scheuen, um die „Vorschau“ weiterhin pünktlich jeden 1. des Monats unserer treuen Leserschaft vorzulegen. Versprochen!

Versprochen im Namen aller Redaktionsmitglieder
 Ilona Rau

Aufmerksame Schilderungen in der Stadtgalerie

Die Radebeulerin Susan Wittwer absolvierte an der Dresdner Kunsthochschule ein Studium der Malerei und Grafik, an das sich zwei Meisterschüler-Jahre anschlossen. Seit fünf Jahren ist sie in ihrer Geburtsstadt freiberuflich tätig.

Man mag ihre Menschenbilder ungern als Porträts bezeichnen, wobei einem Passbilder und Fotoalben in den Sinn kommen. „Bildnis“ wäre zutreffender und verbindet das Menschenbild der Malerin mit dem der alten Meister. Mehr »

Im Archiv gestöbert: Das Radebeuler Hertwig-Bünger-Heim

Die über 160 Jahre zurückreichende Geschichte des Wirkens von Frauenvereinen in der Lößnitz ist ein bisher noch kaum beackertes Feld der Heimatforschung, das ich aber gern interessierten Kolleginnen überlassen möchte. Da der internationale Kampftag des starken Geschlechts in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt und trotzdem – wie immer – kein echter Feiertag sein wird, soll diesmal jedoch zumindest ein mittlerweile halb so altes Kapitel aus dieser Geschichte Thema sein: Das Radebeuler Hertwig-Bünger-Heim. Mehr »

Aus dem Coswiger Stadtarchiv 2009-01

(K)ein Schloss in Coswig

Eine 220-jährige wechselvolle Geschichte

Fortsetzung aus „Vorschau & Rückblick“, Heft 11/2008
1926 gehörte das Schloss Coswig schon der Landesversicherungsanstalt Sachsen. Sie teilte der Amtshauptmannschaft Meißen im August 1926 mit, dass das Schloß Coswig als Lungenheilstätte Verwendung finden soll… Die Landesversicherungsanstalt betrieb zu dieser Zeit schon den „Lindenhof“ in Neucoswig als Heilstätte für Lungenkranke. Ihren Zwecken entsprechend, erbaute sie zunächst eine zweigeschossige offene Liegehalle im Park. 1930 folgten zwei Liegehallen, die am Waldesrand aufgestellt wurden. Als weitere Baumaßnahme ließ sie das von Boehringer umgebaute Wohnhaus aus statischen Gründen wieder abreißen und als Zweifamilienhaus für ihre Beamten neu erbauen. Die Genehmigung zur Ingebrauchnahme des Neubaues wurde im Januar 1931 erteilt. Zu dieser Zelt war die Heilstätte mit 59 Kranken belegt, die von sieben Angestellten betreut wurden. Aber selbst der Landesversicherungsanstalt entstanden Probleme mit ihrem neuen Grundstück im Spitzgrund. Da die geforderte Beschleusung mit Kläranlage, die den veränderten

Liegehalle um 1935

Nutzungsbedingungen entsprach, nicht fristgernäß gebaut wurde, musste der Heilstättenbetrieb 1932 Wieder eingestellt werden. Noch im Laufe des Jahres 1935 konnte das Schloss jedoch einer neuen Bestimmung übergeben werden. Es wurde Müttererholungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Zu dieser Zeit wurden in ganz Deutschland derartige Heime für Mütter eingerichtet. Leider geben die Akten keine Auskunft darüber, wie lange sich Mütter dort erholen konnten. Der Zweite Weltkrieg setzte schnell andere

um 1935

Prioritäten. 1941 wurde ein Antrag gestellt, die zweigeschossige Liegehalle in eine einfache Liegehalle umbauen und näher am Schloss wieder aufstellen zu dürfen. Sie wurde dringend für frisch operierte Lungenkranke benötigt. tKurz vor dem Einmarsch der Roten Armee wurden die Kranken in den Lindenhof verlegt. Auch die Bewohner des so genannten Ärztehauses suchten dort Zuflucht. Das Schloss wurde von der Roten Armee beschlagnahmt. Sie richtete dann ein Seuchenlazarett für Rotarmisten ein. Nach ihrem Abzug blieb das Schloss eine Außenstation der Heilstätte Lindenhof, nur hieß der Eigentümer nun Sozialversicherungsanstalt Sachsen. Einem Schreiben vom Juni 1946 ist zu entnehmen, dass die Sozialversicherungsanstalt plante, das Schloss in nächster Zeit wieder zu belegen. Es wurde zunächst als Sanatorium für verdienstvolle Kämpfer gegen den Krieg genutzt und erhielt den Namen „Albert Kuntz“. Erst zwanzig Jahre später wurde das Schloss wieder Gegenstand einer Akte. Der Bürgermeister der Stadt Coswig hielt die Eröffnungsrede zur Übergabe einer Wochenkrippe, die im Schloss eingerichtet worden war. Sie fand am 7. April 1967 statt. Auch zur Vorgeschichte erfahren wir etwas in dieser Rede und wem die Arbeitskräfte- und Materialsituation im Bauhandwerk zu jener Zeit noch vertraut ist, ahnt die Probleme zwischen den Zeilen: Obwohl diese Kinderkrippe „Albert Kuntz” im Planvorhaben 1966 nicht vorgesehen war und das Gebäude dem Rat der Stadt Coswig am 1.9.66 von der Klinik für Tuberkulose- und Lungenkrankheiten übergeben wurde, galt es, innerhalb kurzer Zeit diese Einrichtung so fertigzustellen, wie wir sie heute vorfinden. Die Kindereinrichtung, die den Namen des ehemaligen Sanatoriums gleich mit übernahm, wurde in der Folgezeit als gemischte Dauer-, Wochen- und Tageskrippe genutzt. 60 Kinder konnten aufgenommen werden. Für Kinder bis 3 Jahre war es das einzige Dauerheim im Kreis Meißen. 20 Jahre sorgten sich die „Krippentanten“ nicht nur um ihre Schützlinge, sondern versuchten auch, das alte Gemäuer funktionstüchtig zu erhalten. Bis das undichte Dach einen Verbleib der Kindereinrichtung im Schloss nicht mehr länger zuließ. Am 13. Januar 1988 konnte das Kinderheim in der ehemaligen Kinderkrippe Südstraße wieder eröffnet werden. Für unser Schloss sah es nun nicht gut aus. Ein Jahr stand es leer, ehe eine erneute Nutzung erfolgte, die wohl eher als Notlösung anzusehen war. Der Rat der Stadt Coswig schloss mit dem VEB Walzengießerei Coswig einen Vertrag zur Nutzung für die Unterbringung von Arbeitskräften. Er sollte vom 1.1.1989 bis 31.12.1994 gelten. Es waren polnische Vertragsarbeiter, die dort untergebracht wurden. Die politische Wende beendete den Vortrag vorzeitig. 1993 wurde der erneut gegründeten Landesversicherungsanstalt Sachsen das Schloss als Eigentum wieder zugeordnet Sie wollte es jedoch nicht mehr selbst nutzen und auch die Stadt Coswig hatte kein Interesse mehr daran, das Objekt zu kaufen. Die Landesversicherungsanstalt veräußerte das Grundstück und so kam das Schloss nach fast 70 Jahren wieder in private Hände Es sei dahingestellt. wie ernsthaft die Bemühungen der wechselnden privaten Besitzer des Anwesens im Spitzgrund und wie ausgereift die Konzepte zur Wiederbelebung des Schlosses seit 1993 gewesen sein mögen, das Ergebnis ist ein Anblick fortschreitenden Verfalls. Die unübersehbaren Löcher im Dach lassen nichts Gutes für die Zukunft erahnen.

Dabei gibt es wenige hundert Meter Luftlinie in Weinböhla mit Schloss Lauben ein anschauliches Beispiel für eine gelungene nachwendische Schlossrettung. Vielleicht geschieht doch noch ein Wunder im Spitzgrund und der Wanderer kann bald wieder, wie am 29.11.1942 das Radebeuler Tageblatt schwärmen: Ein selten farbenprächtiges Bild bietet sich an sonnigen Herbsttagen dem Wanderer am Coswiger Spitzberg. Aus dem vielfarbigen Grün der Bäume des Schlossparks hebt sich stolz der vornehme Bau dieses Herrschaftssitzes. Sein hochstrebendes Ziegeldach leuchtet im Herbstsonnenglanz und gibt mit dem blendenden Weiß der Fenster und dem hellgrauen Ton seines Putzes eine Farbenharmonie, die das Bild unvergesslich werden lässt. Wie ruhig wirkt zu der vom sommerlich sattesten Grün bis hin zu dem herbstlichsten Hellgold vertretenen Farbreihe das Blau der Edeltannen, die auf saftiger Wiese ihr stolzes Haupt erheben! Diese ganze Farbensinfonie aber umrahmt dunkler Kiefernwald, schwingt sich leicht aus der Grünen Telle zur Höhe des Spitzberges empor, um dann stell zum romantischen Lockwitztal abzufallen.
Petra Hamann. Stadtarchiv

Ansicht heute

Quellen:
Unterlagen des Stadt- und Bauarchivs Coswig und des Coswiger Museums
Abbildungen: Postkarten Karrasburg Museum Coswig

Im Archiv gestöbert: Neuerscheinungen zum Wirken der Architekten Schilling & Graebner

Mit Julius Wilhelm Graebner, dessen Geburtstag sich am 11. Januar zum 150. Male jährte, und Georg Rudolf Schilling, der am 19. Dezember vor 75 Jahren starb, haben heuer zwei Baukünstler gedenkwürdige Jubiläen, die um 1900 zu den bedeutendsten Dresdner Architekten gehörten. Gemeinsam haben sie auch in der Lößnitz einige eindrucksvolle Bauten geschaffen. Entsprechend dürfte es für die Leser der Vorschau nicht ohne Interesse sein, aus gegebenem Anlass mit mir einen Blick zu tun auf zwei

Neuerscheinungen zum Wirken der Architekten Schilling & Graebner

Der aus Durlach in Baden gebürtige Julius Graebner (1858-1917) und Rudolf Schilling (1859-1933), Sohn des berühmten Dresdner Bildhauers Johannes Schilling, lernten sich Anfang der 1880er Jahre während des Studiums an der Hochbauabteilung des Dresdner Polytechnikums kennen. Nach ersten praktischen Erfahrungen in renommierten Büros der damaligen deutschen Architekturhauptstadt Berlin gründeten die beiden 1889 in Dresden die Firma Schilling & Graebner, die in dieser Konstellation bis 1917 bestand. Graebner gilt als der künstlerische Kopf der Firma, während sich Schilling, der auch Maurermeister war und als Startkapital seine guten Kontakte zur Dresdner Gesellschaft und Kunstwelt einbrachte, mehr um die technische und wirtschaftliche Seite des Unternehmens kümmerte.
Gleich einer ihrer ersten Aufträge führte die jungen Architekten nach Radebeul, wo sie 1890 den Wettbewerb für den Neubau der heutigen Lutherkirche samt Pfarrhaus und Friedhofskapelle gewannen. Anders als ihr akademischer Lehrer Karl Weißbach, der als verantwortlicher Architekt des 1884/85 erfolgten grundlegenden Umbaus der alten Kötzschenbrodaer Kirche auf Stilelemente der durch das Eisenacher Regulativ von 1861 für protestantische Kirchenbauten generell empfohlenen und deshalb allgemein gebräuchlichen Neogotik zurückgegriffen hatte, entwarfen Schilling & Graebner die Radebeuler Kirche im Stil der deutschen Neorenaissance, den sie selbst kurz vorher, beim Neubau des Rathauses von Pieschen (1890/91), im Dresdner Raum überhaupt erst eingeführt hatten und der bis dahin bei Sakralbauten noch nie zur Anwendung gekommen war. Schon vor Vollendung des Baues 1892 wurde das Projekt, das die Firma u.a. auch auf der Berliner Kunstausstellung von 1891 präsentierte, in der Fachöffentlichkeit aufmerksam verfolgt. Die gelungene Realisierung bedeutete dann einen denkbar guten Einstieg von Schilling & Graebner in eine Karriere als viel beschäftigte Kirchenbaumeister. In den folgenden 25 Jahren erhielt die Firma fast ebenso viele Aufträge für Neu- bzw. Umbauten protestantischer Gotteshäuser vor allem in Sachsen, aber auch in Nordböhmen und Westfalen. Mit diesem zentralen Aspekt des in seiner ganzen Breite kaum zu überblickenden Schaffens von Schilling & Graebner und vor allem mit ihrem kunstgeschichtlich wohl wichtigstem Kirchenbau beschäftigt sich das 2007 im Verlag der Kunst Dresden erschienene Buch von Cornelia Reimann „Die Christuskirche in Dresden Strehlen“ (173 S., 15,90 ¤).
Nach erhellenden Ausführungen über die Dresdner Architektur der Kaiserzeit und generelle Tendenzen im Kirchenbau des 19. Jahrhundert stellt die Autorin die Entwicklung der Firma Schilling & Graebner anhand ihrer wichtigsten Bauprojekte vor. Dazu gehörten im profanen Bereich neben einer Reihe bemerkenswerter Villen (so für Gerhart Hauptmann) in Dresden der für den ehemaligen Kötzschenbrodaer Apotheker Hermann Ilgen errichtete „Kaiserpalast“ (1896), die Sächsische Handelsbank (1900), das Verwaltungsgebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse (1912/14) und diverse genossenschaftliche Wohnanlagen sowie die aus über 30 Gebäuden bestehende Heilstätte der Sächsischen Landesversicherungsanstalt in Bad Gottleuba (1908/13), die zu den reifsten Leistungen der Firma gerechnet wird. Im sakralen Bereich sind aus der Zeit vor 1905 neben diversen Landkirchen vor allem die vom Jugendstil beeinflussten Gestaltungen des Innenraums der Dresdner Kreuzkirche (1897-1900), des Schutzvorbaus für die Goldene Pforte am Freiberger Dom (1902/03) und der Trinitatiskirche in Wiesa bei Annaberg (1903/04) hervorzuheben. Als eine Art Richtschnur ihres stilistisch denkbar vielfältigen Oevres arbeitet Reimann das Bemühen von Schillig & Graebner heraus, zwar „in Anlehnung an die alten Kunststile, aber im Sinne gegenwärtiger Zeit zu gestalten, besonders was Funktion und Konstruktion anlangte“. Spätestens mit der monumentalen Strehlener Christuskirche (1902/05), deren Baugeschichte und innovativer Gestaltung der quellensatt recherchierte Hauptteil des opulent illustrierten Bu­ches gewidmet ist, lösten sich Schilling & Graebner ganz vom Historismus und schufen ein bis ins Detail stimmiges Gesamtkunstwerk, das von der zeitgenössischen Architekturkritik fast uni sono als „Wahrzeichen neuen Lebens“ gefeiert wurde und als erster großer moderner Kirchenbau Deutschlands in die Kunstgeschichte einging. Ein ähnlich großer Wurf gelang ihnen später noch einmal mit der 1945 zerstörten Dresdner Zionskirche (1908/12).
Dass Schilling & Graebner nicht nur als Architekten, sondern auch als Bauunternehmer in Erscheinung traten, zeigt Tobias Michael Wolf in seiner Monographie über „Die Villenkolonie Altfriedstein in Niederlößnitz/Radebeul“ (VDM Verlag Saarbrücken 2008, 168 S., 68 ¤). 1899 hatten sie das ca. 12 ha große Weinberggrundstück Altfriedstein erworben, um darauf in eigener Regie eine Landhaus- und Villensiedlung für gut- bis großbürgerliche Ansprüche zu entwickeln. Schon bei der Planung der das Gelände erschließenden neuen Straßen – Altfriedstein, Prof.-Wilhelm-Ring, obere Ludwig-Richter-Allee, Lindenau- und Mohrenstraße – machte die Firma, die hier auch als Terraingesellschaft fungierte, deutlich, dass sie sich an zeitgenössischen Vorstellungen der künstlerischen Stadtplanung orientierte. So entstand ein an die naturräumlichen Gegebenheiten angepasstes, organisch geschwungenes Wegenetz, das durch an Weinbergsterrassen erinnernde Futtermauern, Treppenanlagen und Alleebäume ein malerisches Gepräge erhielt. Der 1902 erfolgte Rückbau des barocken Herrenhauses Altfriedstein, das aus straßenbaulichen Gründen seinen Westflügel einbüßte, wurde Schilling & Graebner gelegentlich als Frevel angelastet. Aus den langwierigen Verhandlungen über den Bebauungsplan, die der Autor akribisch dokumentiert, geht allerdings hervor, dass es ihrem denkmalbewussten Beharrungsvermögen zu verdanken ist, dass von der historischen Substanz überhaupt etwas erhalten blieb.
In den folgenden anderthalb Jahrzehnten entstanden auf dem Areal 23 Wohnbauten, 15 davon nach Entwürfen von Schilling & Graebner. Damit bildet die Villenkolonie, die in der einschlägigen Forschungsliteratur bisher keine adäquate Berücksichtigung fand, den größten Komplex freistehender Häuser dieses Büros. Der Hauptteil des Buches ist der ausführlichen Beschreibung und stilistischen Analyse der einzelnen Bauten gewidmet, unter denen die als „Meyerburg“ bekannte Fabrikantenvilla Mohrenstraße 5, ihrer Lage und Größe wegen, eine Sonderstellung einnimmt. Während den Landhäusern, was die Grundrisse anlangt, eine mo­dernen Ansprüchen gerecht werdende schlichte und funktionale Raumaufteilung gemein ist, zeigt ihre äußere Gestaltung bei durchweg hohem künstlerischem Anspruch einen erstaunlichen Variantenreichtum. Dies führt Wolf auf das Bemühen der Planer zurück, „eine über Jahre gewachsen wirkende Siedlungsanlage zu schaffen.“ Die städtebauliche Qualität, die so erreicht wurde, geht mancher Radebeuler Einheitssiedlung von heute leider ab. Kommerziell scheint das von der Gemeinde Niederlößnitz ausdrücklich begrüßte und durch eine großzügige Auslegung der geltenden Bauvorschriften geförderte Projekt „Villenkolonie Altfriedstein“ kein besonderer Erfolg gewesen zu sein. Einige der in den vom Autor ausgewerteten Werbeschriften vorgestellten Entwürfe konnten mangels Nachfrage nicht verwirklicht werden; ab 1905 wurden Teilgrundstücke dann auch ohne Architektenbindung verkauft. Die von Wolf ebenfalls vorgestellten Bauten anderer Baumeister fielen qualitativ aber zumeist deutlich hinter die von Schilling & Graebner gesetzten Maßstäbe zurück.
Das leider recht dürftig bebilderte Buch, das auch interessante Ausführungen zur Sozialstruktur der ersten Kolonistengeneration enthält, fußt, wie das über die Christuskirche, auf einer an der TU Dresden entstandenen kunstgeschichtlichen Magisterarbeit, was den mitunter recht papiernen Stil beider Arbeiten erklärt. Eine Zusammenfassung hatte Tobias Michael Wolf schon 2006 in den vom Verein für Denkmalpflege und Neues Bauen Radebeul herausgegebenen „Beiträgen zur Stadtkultur“ veröffentlicht. Diese gehaltvolle Sammlung ist ihre 19 Euro auf jeden Fall wert.
Frank Andert

Im Archiv gestöbert: Die sächsische Landgemeindeordnung von 1838

Die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts waren für das Königreich Sachsen eine Zeit tief greifender Veränderungen. Durch die Verfassung vom 4. September 1831 wurde Sachsen zur konstitutionellen Monarchie. Reformen von Staatsapparat und Verwaltung, Agrarverfassung, Militär-, Justiz- und Schulwesen kamen in Gang, und die durch den Eisenbahnbau ermöglichte Ausbreitung der Dampfmaschine als Antriebskraft läutete den Durchbruch der Industrialisierung ein. Für den ländlichen Raum und damit auch für die Lößnitz waren zwei Reformgesetze von besonderer Bedeutung. Das eine, „über Ablösungen und Gemeinheitsteilungen“ vom 17. März 1832, regelte die Überwindung feudaler Strukturen in der Landwirtschaft. Das andere, vor ziemlich genau 170 Jahren verabschiedete Gesetz trug dazu bei, dass sich auch auf dem Dorfe so etwas wie Bürgergeist entwickeln konnte:

Die sächsische Landgemeindeordnung von 1838

Was die Verwaltung der im engeren Sinne gemeindlichen Angelegenheiten angeht, herrschten in den Lößnitzdörfern noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts recht altertümliche Verhältnisse. Tonangebend waren allein die begüterten Bauern und Gartennahrungsbesitzer, die in ihrer Gesamtheit die so genannte „Altgemeinde“ bildeten. Der Altgemeinde stand eine „Localgerichtsperson“ gegenüber, die zwar aus ihrer Mitte stammte, aber nicht von der Gemeinde, sondern vom jeweiligen Grundherrn eingesetzt wurde. Dieser Dorfrichter sorgte für die Aufbringung der zu zahlenden Abgaben, regelte die Ableistung der Frondienste und besaß eine gewisse Sanktionsgewalt, um die dörfliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Einmal im Jahr kam die Altgemeinde zum Gerichtstag zusammen, auf dem die althergebrachten Dorfrügen verlesen, im Beisein von Vertretern der Grundherrschaft Streitigkeiten entschieden und Beschlüsse zu wichtigen Gemeindeangelegenheiten gefasst wurden. Landlose Häusler und besitzlose Hausgenossen, deren Anteil an der Dorfbevölkerung seit dem 18. Jahrhundert stark zugenommen hatte, waren im Rat der Altgemeinde ebenso wenig stimmberechtigt wie die Besitzer der zur Gemeindeflur gehörigen, aber außerhalb des eigentlichen Dorfes gelegenen Weingüter, obwohl auch diese Gruppen ihren Beitrag zu den Gemeindelasten zu leisten hatten. Gehörten die Güter des Dorfes anteilig unter verschiedene Grundherrschaften, wie es zum Beispiel in Zitzschewig der Fall war, bestanden entsprechend auch mehrere Gemeinden mit je eigenen Richtern, was das ganze Dorf betreffende Entscheidungen zusätzlich verkomplizierte.
Die im Rahmen der sächsischen Verwaltungsreform am 11. November 1838 publizierte Landgemeindeordnung für das Königreich Sachsen, die am 1. Mai 1839 in Kraft trat, regelte die Verhältnisse innerhalb der Dorfgemeinden und zwischen Dorfgemeinde und Staat neu und für damalige Verhältnisse deutschlandweit vorbildlich. Wichtigste Neuerung war die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung der inneren Gemeindeangelegenheiten durch gewählte Vertreter der Einwohnerschaft. Im Unterschied zur Altgemeinde, die nur die alteingesessenen Besitzer landwirtschaftlicher Betriebe umfasste, gehörten der nun eingeführten „politischen Ortsgemeinde“ alle selbständigen Einwohner des jeweiligen Dorfes an. Ansässige Gemeindemitglieder, sprich Hausbesitzer, erhielten das aktive, unansässige lediglich ein passives Wahlrecht für den Gemeinderat, der fortan „die beratende und beschlussfassende Behörde in allen Gemeindeangelegenheiten“ bildete. Dieser wählte einen Gemeindevorstand, der seine Verhandlungen zu leiten und seine Beschlüsse umzusetzen hatte, die Gemeinde nach außen repräsentierte, das Siegel und die Akten verwahrte und das Kassen- und Rechnungswesen der Gemeinde besorgte. Ihm standen ein oder mehrere gewählte Gemeindeälteste zur Seite.
Gewählt wurde der Gemeinderat nach einem Klassensystem, das sich an der Sozialstruktur des jeweiligen Dorfes orientierte. In den Gemeinderäten der Lößnitzortschaften waren in je unterschiedlicher Gewichtung die Klassen der Bauern, Gärtner, Weinbergsbesitzer, Häusler und Unangesessenen vertreten. Größe und Gewichtung des Gremiums richteten sich nach den örtlichen Verhältnissen. Während die Vertreter der Altgemeinde in Kötzschenbroda zum Beispiel mit sechs von insgesamt acht Sitzen im ersten Gemeinderat die Oberhand behielten, hatten sie in Naundorf nur fünf von zehn und in Zitzschewig gar nur drei von neun Sitzen inne und waren damit nicht mehr, wie früher, allein tonangebend. Der bisher gemeinsame Grundbesitz der Altgemeinden – in Naundorf etwa betraf das den Himmelsbusch – wurde durch die Landgemeindeordnung allerdings nicht angetastet, sondern, in diesem Fall 1847 nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen der politischen und der Altgemeinde, an die Mitglieder der letzteren aufgeteilt.
Beaufsichtigt wurde die Amtsführung der neuen Selbstverwaltungsgremien durch die jeweilige Ortsobrigkeit. Eine anteilige Unterstellung eines Dorfes unter verschiedene Behörden, wie vorher in Zitzschewig, das teils dem Dresdner Rat, teils dem Prokuraturamt Meißen unterstanden hatte, schloss die Landgemeindeordnung jedoch aus. Zitzschewig wurde im Ganzen der Obrigkeit und damit – Verwaltung und Justiz waren noch eng verflochten – auch der niederen Gerichtsbarkeit des Dresdner Rates unterstellt. Die Kompetenzverteilung zwischen den Selbstverwaltungsorganen und der aufsichtführenden Behörde waren in dem umfangreichen Gesetz detailliert geregelt, ebenso der Instanzenweg bei auftretenden Konflikten. Die polizeiliche Lokalaufsicht blieb Sache der Ortsobrigkeit, und auch die Institution des von dieser eingesetzten Ortsrichters blieb zunächst bestehen.
Auch die Abgrenzung der Gemeindebezirke wurde in der Landgemeindeordnung neu geregelt. Grundstücke, die bisher außerhalb eines Gemeindeverbandes gelegen hatten, mussten sich nun entweder einer bestehenden Gemeinde anschließen oder, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorlagen, zu mehreren eine neue Landgemeinde bilden. Für die Lößnitz hatte das weit reichende Folgen, denn hier waren die außerhalb der eigentlichen Dörfer gelegenen Weingüter von dieser Regelung betroffen. In Zitzschewig und Naundorf wurden sie ganz oder teilweise in die Gemeinde integriert. Die Mitglieder der 1822 bzw. 1832 gebildeten Kommunalverbände von Ober- und Niederlößnitz dagegen mussten diese nun in „politische Gemeinden“ überführen, was mit der Übernahme zusätzlicher gemeindlicher Verantwortlichkeiten, etwa auf dem Gebiet der Armenversorgung, verbunden war. Rechnerisch waren so bis August 1839 aus den ehemals acht Lößnitzdörfern zehn Lößnitzgemeinden geworden. Tatsächlich waren es aber nur neuneinhalb, denn das Häuslerdörfchen Fürstenhain, das nicht einmal die für die Bildung eines eigenen Gemeinderates erforderlichen 25 selbständigen Hausbesitzer aufweisen konnte, schloss noch im November desselben Jahres einen Vertrag mit Kötzschenbroda, der die gemeinsame Wahrnehmung einiger wesentlicher kommunaler Obliegenheiten vorsah. Im Gegenzug erhielt Fürstenhain einen Sitz im Kötzschenbrodaer Gemeinderat.
So wie die Verfassung von 1831, in einem freilich noch ziemlich abstrakten Sinne, aus Untertanen Staatsbürger gemacht hatte, trug die Landgemeindeordnung von 1838, die von einem namhaften sächsischen Juristen noch Jahrzehnte später als „ein wahres Meisterwerk organisatorischer Gesetzgebungskunst“ gepriesen wurde, zur politischen und sozialen Emanziaption der Landbevölkerung bei. Das blieb nicht ohne Wirkung. Der bedeutende Sozialökonom und Statistiker Ernst Engel (1821-1896) stellte schon 1853 einen gründlichen und positiven Wandel der dörflichen Zustände in Sachsen fest. Die Landgemeindeordnung von 1838, deren Tragweite im gewöhnlichen Leben viel zu sehr unterschätzt werde, nennt er in diesem Zusammenhang „ein bedeutendes Monument in der Entwickelungsgeschichte der Landgemeinden. Indem sie jede solche ermächtigt, ihre Angelegenheiten selbst, durch die aus ihrer Mitte dazu erwählten Personen zu verwalten; indem sie ferner die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten nicht in die Hände einer von Alters her bevorrechteten Klasse legte; indem sie die Kompetenz der Gemeindeobrigkeit fest normierte, hat sie den Bewohnern der Dörfer einen hohen Grad Selbständigkeit gegeben und denselben einen öffentlichen Geist eingehaucht, der den politischen Unterschied zwischen den Bewohnern der Städte und Dörfer nach und nach nur zu einem historischen machen muss.“
Frank Andert

Aus dem Coswiger Stadtarchiv 2008-11

(K)ein Schloss in Coswig

Eine 220-jährige wechselvolle Geschichte

Nein, um es gleich vorwegzunehmen, eine blaublütige Vergangenheit hat unser Schloss im Spitzgrund nicht. Das herrschaftlich anmutende Gebäude wurde lediglich durch den Volksmund geadelt. Seine Wurzeln sind sehr irdisch, denn sie liegen im Kalkvorkommen, das um 1788 dort entdeckt wurde. Die wuchtigen Grundmauern sind die eines ehemaligen Kalkofens, immerhin eines königlichen. Fast 90 Jahre tat er seinen Dienst und die dunklen Rauchwolken, die von seiner Arbeit kündeten, gaben oft Anlass zur Klage bei Anwohnern und Naturfreunden. Dieses Königliche Kalkwerk hauchte 1875 sein Leben aus, will man einer Anzeige im Meißner Tageblatt 1) vom 2. November aus jenem Jahr glauben, in dem letzte Gerätschaften des Kalkofens offeriert wurden. Von da an war es noch ein weiter Weg bis zum „Schloss“. Wieder ist es ein Zeitungsartikel, aus dem wir etwas über das weitere Geschehen im Spitzgrund erfahren. 1877 berichtete die Kötzschenbrodaer Zeitung 2) dass sich am 29. Mai in der chemischen Fabrik im Spitzgrunde eine Explosion, durch welche das Dach des im vorigen Jahr erbauten Fabrikgebäudes zertrümmert wurde ereignete. Der Besitzer Herr Schober und sein Compagnon Herr Lauenstein haben dabei so schwere Brandwunden erhalten, dass insbesondere das Aufkommen des Ersteren sehr in Frage steht. Leider bewahrheitete sich die Prognose der Zeitung. Der Chemiker und Fabrikbesitzer Johann Georg Schobert, wie er richtig hieß, erlag am 9. Juni 1877, mit nur 37 Jahren, seinen schweren Brandverletzungen. Besonders tragisch machte das Geschehene, dass zwei Monate danach auch noch sein knapp einjähriger Sohn starb. Doch bereits im Januar 1878 wurde erneut ein Gewerbe, diesmal für die Fabrikation mit Lack und Firnis, angemeldet. Seit 1890 hieß die Gewerbebezeichnung: Herstellung chemisch-technischer Produkte. Mit wechselnden Besitzern blieb der ehemalige Kalkofen bis ca. 1900 eine Fabrik. Danach wurde laut Gewerbeverzeichnis der Gemeinde Coswig in diesem Grundstück jedoch vorwiegend mit Geflügel und Eiern gehandelt. Das ist zwar weniger explosiv, aber auch nicht ganz sicher, wie sich zeigen wird.

Die früheste überlieferte Akte beginnt im Jahr 1903. Daraus ist zu ersehen, dass inzwischen auf den Kalkofengrundmauern ein eingeschossiges Wohnhaus erbaut wurde. Besitzer war zu dieser Zeit eine GmbH „Vereinigte Spareinleger“ aus Dresden. Zwei Jahre später gehörte es einem Friedrich Wilhelm Quick. So rechtes Glück war dem Anwesen jedoch nicht beschieden. Erneut musste die „Kötzschenbrodaer Zeitung“ 3) über einen Brand im Spitzgrund berichten. Am 18. Dezember 1906 war zu lesen: In dem in der Nähe der Spitzgrundmühle bei Coswig gelegenen Schmeckschen Wohngebäude brach am Freitag nachts 7/2 2 Uhr Feuer aus, durch welches der Dachstuhl und der erste Stock zerstört wurden. Das Gebäude, das früher ein Kalkofen War, aber zu einem Wohnhaus ausgebaut worden ist, wurde von mehreren Familien bewohnt, die den größten Teil ihrer Habe retteten. Einige Mobilien und Gerätschaften, darunter eine Brutmaschine, sind jedoch verbrannt. …Noch einmal ging man an den Wiederaufbau des Dachgeschosses. Im Februar 1907 erhielt Quick dazu die Genehmigung des Gemeinderates Coswig. Auch der Geflügelhandel wurde weiter betrieben.
Bis 1912 mit einem neuen Besitzer die Metamorphose des bisher arg gebeutelten Grundstückes begann. Hermann Boehringer, Zahnarzt mit Praxis in Kötzschenbroda, erkannte wohl als erster den Reiz dieses Fleckchen Erde zu Füßen des Spitzberges, mit einem weiten Blick ins Elbtal, unweit der beliebten Ausflugsziele Spitzgrundmühle und Spitzgrundteich. Er hatte offenbar neben einem ausreichenden Vermögen genügend Phantasie, um sich auf den historischen Kalkofenmauern ein schlossartiges Anwesen am Rande des Friedewaldes vorzustellen. Diese Vorstellungen ließ er noch im gleichen Jahr vom Coswiger Baumeister Rudolf Pötzsch umsetzen. Es entstand ein prächtiges Herrenhaus mit Wintergarten, Musiksaal, Esszimmer, Herren- und Damenzimmer, Balkonen und Terrasse. Seine äußere Gestalt ist bis auf wenige Abweichungen noch heute so erhalten. Gleichzeitig wurde von Boehringer das auf demselben Flurstück stehende Gebäude, bezeichnet als Vorwerk, zu einem Wohnhaus um- und ausgebaut. Nach Abriss eines Hintergebäudes ließ Boehringer seinen Prachtbau mit einem großzügigen Park komplettieren. Ein Architekt und ein Konzertsänger-Ehepaar mieteten sich ein und ein Gärtner bewohnte das ehemalige Vorwerk. Viel mehr erfahren wir leider nicht über Herrn Boehringer und sein Schloss aus dieser Akte.

um 2013

Erst der Verkauf des Anwesens im Spitzgrund 1921 war dem „Coswiger Tageblatt“ 4) wieder eine Meldung wert. So berichtete es am 7. Oktober: Das anmutig auf der Höhe des Spitzgrundes gelegene Schloß Coswig hat seinen Besitzer gewechselt, indem es durch Kauf vom Zahnarzt Böhringer auf den Kaufmann Hans Berge in Coswig überging… Großkaufmann Berge gehörten noch andere Grundstücke in Coswig. Er wählte das Schloss zu seinem Wohnsitz. Anscheinend war es ihm noch nicht repräsentativ genug, denn er veranlasste einen aufwändigen Umbau der Rückfront. Ein Treppenhausanbau über alle Etagen mit großen Fenstern und großzügiger Freitreppe entstand 1922. Damit hatte das Gebäude nun endgültig einen schlossartigen Charakter bekommen. Doch lange erfreute sich auch Herr Berge nicht an seinem Besitz.
-Fortsetzung folgt-
Petra Hamann, Stadtarchiv

Rückfront nach dem Umbau 1922

Quellen:
1) ‚Stadtarchiv Meißen: Meißner Tageblatt (1875) Nr. 255 vom 2. November, S. 1 (Film-Nr. 45)
2) Stadtarchiv Radebeul: Kötzschenbrodaer Zeitung und Anzeiger Amtsblatt für Kötzschenbroda und Niederlößnltz (1877) Nr. 43 vom 2. Juni, S. 268 (lFilm-Nr 5)
3) Stadtarchiv Radebeul: Kötzschenbrodaer Zeitung (1906) NL 145 vom 18. Dezember, S. 2 (Film-Nr 25)
4) Coswiger Tageblatt (1921) Nr. 235 vom 7. Oktober, S. 4 Akten des Bauarchivs Coswig, Am Spitzberg 18/20 Akten und Unterlagen des Stadtarchivs Coswig
Abbildungen: Postkarten Karrasburg Museum Coswig

Im Archiv gestöbert: Das erste Sanatorium der Lößnitz?

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert etablierten sich im heutigen Stadtgebiet von Radebeul zahlreiche private und öffentliche Heilanstalten, einige davon mit dezidiert naturheilkundlicher Ausrichtung. Dass Friedrich Eduard Bilz keineswegs der erste war, der auf den Gedanken kam, die klimatischen Vorzüge und landschaftlichen Reize unserer Gegend in den Dienst der Therapie zu stellen, ist bekannt. Doch wer war denn nun der erste und wo befand sich

Das erste Sanatorium der Lößnitz?

Was die Behandlung seelischer Leiden angeht, gebührt der Pionierrang wohl Dr. Friedrich Gustav Bräunlich (1800-1875), der um 1835 in Wackerbarths Ruhe eine „Privat-Irrenanstalt“ einrichtete. Bräunlich, aus Raußlitz bei Nossen gebürtig, war Absolvent der Landesschule St. Afra in Meißen, hatte in Leipzig Medizin studiert, 1825 dort über die Behandlung der Hysterie promoviert und war anschließend praktischer Arzt in Freiberg gewesen. Seit Verleihung des Kgl. Dänischen Danebrog-Ordens 1843 durfte er sich Ritter nennen, was für seinen, auf zahlreiche Veröffentlichungen gegründeten guten Ruf wie für den seiner Niederlößnitzer Privatklinik spricht. 1845 wurde diese in den Lindenhof nach Neucoswig verlegt, Dr. Bräunlich selbst wanderte 1851 nach Amerika aus. Die weitere Geschichte dieser Heilanstalt hat Petra Hamann in der Vorschau bereits ausführlich gewürdigt (V&R 9-11/2006).
Als erste Radebeuler Anstalt zur Behandlung körperlicher Leiden wird gemeinhin das auf dem Gelände der heutigen Elblandklinik, Heinrich-Zille-Str. 13, gelegene „Steinerne Haus“ (bis vor kurzem Sitz der Bethesda-Apotheke) genannt, wo der 1847 gegründete „Verein für Heilwesen und Naturkunde“ 1850 – allen polizeilichen und nachbarlichen Widerständen zum Trotz – „ein kleines Krankenhaus, besonders für Dienstboten und Unbemittelte“ eröffnete. Dabei handelte es sich um eine gemeinnützige Einrichtung, die ausschließlich durch freiwillige Beiträge und den Ertrag von Abendunterhaltungen und Konzerten finanziert wurde und auch zur Ausbildung von Krankenwärterinnen diente. In der Literatur wird als Gründungsjahr gelegentlich schon 1848 angegeben. Dagegen spricht, dass der Verein das Gebäude erst 1850 erwarb. Auch in der medizinischen Berichtszeitschrift „Notizen für praktische Ärzte“ (Berlin) wird „das ländliche Krankenhaus“ erst im Berichtsjahr 1850 als „neuerdings begründet“ erwähnt. Das Blatt stützt sich dabei auf einen der acht dem Verein angehörenden Ärzte, Dr. Otto Kohlschütter (1807-1853), der berichtet, dass „schon das erst halbjährige Bestehen dieses Krankenhauses den Beweis geliefert [habe], wie nützlich solche Krankenhäuser auch für das platte Land sind.“
Dass die erste Heilanstalt der Lößnitz ein Armenspital gewesen sein soll, ist zwar denkbar, wäre aber doch erstaunlich. Und tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass hier bereits vorher ein Sanatorium für Besserbetuchte existiert haben muss. In der Allgemeinen Medicinische Central-Zeitung (Berlin) vom 24. Februar 1847 heißt es:
„Dresden. Das Bedürfnis von Privatanstalten für bemitteltere Kranke, die ausser ihrer Behausung ärztliche Wartung und Pflege suchen, ist ein so allgemein fühlbares, dass man sich in der That über den fast noch gänzlichen Mangel derartiger Unternehmungen wundern muss. Gewiss würden viele Leidende eher und sicherer von ihren tiefer eingewurzelten Uebeln befreit werden, wenn sie Gelegenheit hätten, sich, anstatt ihre Zuflucht zu Mineralbadeorten und Kaltwasserheilanstalten zu nehmen, wohleingerichteten Instituten, in welchen sie eine ihren besondern Krankheitsumständen angepasste, möglichst allseitige ärztliche Behandlung fänden, auf kürzere oder längere Zeit anzuvertrauen. Der hiesige Arzt Dr. Paul Kadner wird nun in der nächsten Zeit eine ‚Privat-Genes-Anstalt für an langwierigen Krankheiten Leidende’ eröffnen. Da dieser äußerst gebildete Arzt schon seit Jahren dem Studium der genannten Gattung von Krankheiten mit Vorliebe obgelegen und besonders auch seine wissenschaftlichen Reisen, die sich selbst bis in den Orient erstreckten, zur Vermehrung seiner Erfahrungen benutzt hat, so ist in diesem Gebiete der practischen Heilkunde nur Vorzügliches von ihm zu erwarten. Die Aussenverhältnisse der neuen Anstalt sind von der Art, dass sie dem Zwecke auf das Vollkommenste entsprechen. Hr. Dr. Kadner hat nämlich eine Besitzung nahe bei Dresden, die zu dem in einer eben so reizend schönen als gesunden Gegend gelegenen Orte Oberlössnitz gehört, dazu erwählt und auf diese Weise dafür gesorgt, dass die Kranken die in den meisten Fällen so wesentlichen Vortheile des Landlebens neben einer rationellen ärztlichen und diätetischen Behandlung geniessen. Sie ist aber für Individuen beiderlei Geschlechts und jeden Alters, mit Ausnahme Seelengestörter, bestimmt.“
Fest steht zumindest, dass Dr. Kadner seine Ankündigung auch in die Tat umgesetzt hat. Paul Theodor Noah Kadner, geboren 1813 in Dresden, hatte in Breslau Medizin studiert und war dort 1842 mit einer Arbeit über das preußische Apothekenwesen zum Doktor der Medizin promoviert worden. In den folgenden Jahren arbeitete er als Quarantänearzt in Smyrna (heute Izmir) und in Sofia, das damals noch zum Osmanischen Reich gehörte. Seine Erfahrungen mit dem türkischen Medizinalwesen teilte er der Fachöffentlichkeit in mehreren Aufsätzen mit. In einem davon, der Anfang 1848 in der Zeitschrift für Staatsarzneikunde (Freiburg i. Br.) erschien, wird er als „Director einer Privat-Genesanstalt zu Friedrichshöhe in der Oberlössnitz bei Dresden“ vorgestellt.
Wo mag sich diese „Genesanstalt“ befunden haben? Der Name „Friedrichshöhe“ ist selbst eingefleischten Radebeulern kein Begriff, und auch die Suche in alten Adressbüchern hilft nicht weiter. Schließlich wurde ich im Weingutmuseum Hoflößnitz fündig, das einen undatierten Kupferstich mit der Bezeichnung „Friedrichshöhe in Oberlößnitz“ besitzt (siehe Abb.).
Ausgehend vom markanten „Haus in der Sonne“, auf halber Höhe links im Bild, lässt sich das Ensemble im Vordergrund als Weingut Bennostraße 41 identifizieren, heute bekannt als Haus bzw. „Villa Steinbach“. Der 2003 vom Verein für Denkmalpflege und Neues Bauen herausgegebenen Publikation über die historischen Winzerhäuser in Radebeul ist zu entnehmen, dass die rechts im Vordergrund abgebildete Villa in den 1830er Jahren für einen Kaufmann Friedrich Zembsch erbaut worden ist. Das würde die Bezeichnung „Friedrichshöhe“ erklären. Die „Denkmaltopographie Stadt Radebeul“ (2007) weiß über die Geschichte des Hauses leider herzlich wenig: „Errichtet wohl 1835 durch die Gebr. Ziller“. (Die „Gebrüder“ Moritz und Gustav Ziller waren damals noch gar nicht auf der Welt…)
Ein Grund dafür, dass Paul Kadner sein Sanatorium ausgerechnet in der Oberlößnitz eröffnete, könnten familiäre Bindungen hierher gewesen sein. In der Hoflößnitz arbeitete im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Magister Johann Gottlob Kadner (1754-1832) als königlicher Bergverwalter, vielleicht ja ein Verwandter.
Die „Privat-Genesanstalt zu Friedrichshöhe“, nur einen Steinwurf vom späteren Bilz-Sanatorium entfernt, hat in dieser Form offenbar nicht sehr lange bestanden. Ihr Gründer, der zumindest 1848 auch den Vorsitz im „Verein für Heilwesen und Naturkunde in der Lößnitz“ inne hatte, verlagerte seine Aktivitäten in den 1850er Jahren wieder nach Dresden, wo er sich ganz auf die diätetische Heilkunst verlegte, 1858 einen neuen Verein für deren Freunde gründete und neben diversen Ratgebern eine populärwissenschaftliche Zeitschrift unter dem Titel „Rückkehr zur Natur“ herausgab. 1861 eröffnete er dort eine „Diätetische Heilanstalt für Bemittelte“ und ein Jahr später eine „Diätetische Klinik für Unbemittelte“.
Aus seinen Schriften ist zu entnehmen, dass Kadner ein leidenschaftlicher Verfechter der sog. „Schrothkur“ war, eines mittlerweile sehr umstrittenen Naturheilverfahrens, das auf einer radikalen Trockendiät beruht. Von der Schulmedizin wurden Kadners Lehren und Vereinsaktivitäten als „parasitische Auswüchse der modernen Heilkunst“ verspottet, und auch im naturheilkundlichen Lager stand er ziemlich verloren da. Am 7. Juli 1868 – seinem 55. Geburtstag – starb Dr. Paul Kadner in Dresden. Sein gleichnamiger Sohn (1850-1922), ebenfalls Dr. med., eröffnete übrigens vor ziemlich genau 125 Jahren in Niederlößnitz, Borstraße 9, eine private „Kuranstalt für Kranke aller Art“, die als „Dr. Kadner’s Sanatorium“ bzw. ab 1899 als „Dr. Oeders Diätkuranstalt“ bis Mitte der 1920er Jahre existierte.

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Frank Andert

Aus dem Leben eines Hauses

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Ich wurde 1896 vom Baumeister Moritz Hugo Grosse erbaut, meine Adresse damals lautete: Kaiserstraße 6, Niederlössnitz. Ich blieb nicht lange im Besitz von Herrn Grosse. Im Jahre 1898 kaufte mich ein Herr von Kauffberg, neun Jahre später ein Herr von Feilitsch und schließlich wurde ich im Jahre 1913 von General Charles Garke erworben. Damit hatte der dauernde Wechsel von Besitzern endlich ein Ende und die Familie Garke und ich sollten für lange Zeit durch schöne und schwere Zeiten miteinander gehen.5-2008_ch-garke
Der General – jedermann nannte ihn Excellenz – war als Sohn eines Zahnarztes und Hotelbesitzers 1860 in Amerika geboren. Ob diese merkwürdige Berufskombination typisch für das damalige Amerika war? Rückenprobleme sollen den Zahnarzt zur Aufgabe seiner Praxistätigkeit gezwungen haben. Ein günstiger Kauf eines Hotels mit Restaurant an einem Eisenbahnknotenpunkt schien eine lukrative  Alternative zu sein. Die Mutter kochte, der Vater kassierte nach dem Motto: All you can eat for one dollar! – Die Züge hielten immer nur für kurze Zeit! Wirtschaftlich ging es bergauf, aber der amerikanische Bürgerkrieg bewegte die Familie doch zur Rückkehr nach Deutschland. So wuchs Charles Garke in Blankenburg auf. Wie er zur sächsischen Armee kam, weiß ich nicht genau. Jedenfalls fand er sich als junger Mann in Dresden wieder, machte einer Tochter vom Rittergut Zuschendorf den Hof und führte sie schließlich als seine Frau heim.
Glückliche Zeiten begannen. Erst wurde eine Tochter geboren, dann ein Sohn. Der General war stolz auf seine Familie, erfolgreich in seinem Beruf und auch sein liebstes Hobby, das Klavierspielen, Singen und Komponieren, konnte er ausgiebig ausüben. 1913 kaufte er für sich und seine Familie als Familiensitz und Altersdomizil eine Villa vor den Toren Dresdens. Ja, so kamen wir zusammen. Else, die Ehefrau des Generals, war von Anfang an von mir begeistert: „Was für ein Treppenhaus!“ Es gab 6 großzügige Zimmer für die Familie, die Dienstboten hatten ihre Kammern im Dachgeschoss, die Küche war im Keller. Umgeben war die Villa von einem schönen Grundstück, auf dem man Gemüse anbauen konnte und Hühner hielt. Die noch unbebauten Nachbargrundstücke wurden dazugepachtet und ebenfalls bewirtschaftet.
Aber 1914 begann der erste Weltkrieg und der General musste an die Westfront, ebenso sein Sohn Kurt, damals gerade 22 Jahre alt. Schon in den ersten Kriegswochen fiel der Sohn in Frankreich und eine traurige Zeit begann. Else sorgte sich um ihren Mann, aber er kam heil zurück – quittierte den Dienst und lebte fortan als „Privatier“.
Seine große Leidenschaft gehörte der Musik, er bezeichnete sich selbst als Wagnerianer. Er spielte hervorragend Klavier, in meinem Salon im Erdgeschoss standen zwei Flügel: ein Blüthner und ein Bechstein. Ach, das war eine schöne Zeit. Hauskonzerte fanden statt und Proben für so genannte Kleinrentner-Konzerte, die der General an unterschiedlichen Orten aufführen ließ. Man konzertierte unter anderem in der Friedensburg, in  der Turnhalle der Niederlössnitzer Schule  und im Luthersaal der Kötzschenbrodaer  Kirche. Zehn Jahre lang währte diese  Konzerttätigkeit, von 1923 bis 1933, die  vielen Menschen in dieser Zeit große Freude bereitete, denn die Eintrittspreise waren niedrig und die Qualität der Musiker hoch. Als Sängerin wirkte häufig Frau Trude Gabriel mit, ebenso der Tenor  Dr. Otto Wolf und am Cello Konzertmeister Gmeindl.
1936 starb der General, seine Witwe war allein in dem großen Haus. Die Tochter Eva war inzwischen auch mit einem Offizier verheiratet und hatte fünf Kinder, die in den Jahren 1911 bis 1925 geboren wurden. Familienmitglieder gab es reichlich, das Geld war knapp, und so schien es sinnvoll, zusammenzurücken. Ein Anbau an meiner Nordseite wurde ge­plant und durchgeführt. Die Küche sollte nun nicht mehr im Keller sein, jede Etage bekam eine eigene Küche; von nun an lebte die Großfamilie mit wechselnder Besetzung in meinen Mauern. Da war immer viel Trubel, Enkelkinder wurden geboren. Und als die Frau General einmal mit  fünf Enkelkindern – fast alle gleich alt –  spazieren ging wurde sie gefragt, ob sie einen Kindergarten aufgemacht habe: „Ach nein, das sind alles meine Enkel!“
Und wieder kam ein Krieg, vernichtender und schrecklicher. Ich blieb verschont, die Stadt Dresden, die man von meinen Dachfenstern aus sehen kann, fiel in Schutt und Asche. Und dann kamen die Russen. Auch durch meine Straße zogen sie. Die Frau General aber stellte sich auf den Treppenabsatz und scheuchte sie mit deutlicher Geste davon. Komischerweise funktionierte das. Vielleicht, weil die Frau General Russisch sprach? Sie hatte nämlich in ihrer Jugend mit einer Tante eine längere Russlandreise unternommen. Die Familie war zum großen Teil nach Westen geflohen, und so entschied sich die Frau General Garke ebenfalls, das Land zu verlassen. Ihr Hab und Gut, die Möbel, die beiden Konzertflügel ihres Mannes hatte sie Stück für Stück als Beiladung zu ihren Kindern schicken lassen. So reiste sie mit relativ kleinem Gepäck, als sie 1947 das Haus abschloss und den Schlüssel einsteckte. Für sie wurde es eine Trennung für immer.
Einquartierungen füllten meine Räume von oben bis unten. Bis zu zehn verschiedene Familien wohnten unter meinem Dach. Die Wohnungsnot war groß. Die Bewohner wechselten, die Zahl wurde kleiner und mein Zustand verschlechterte sich – ich war ja nun auch in die Jahre gekommen. Meine Außenhaut wurde rissig, der Putz platzte ab, aber nur die notwendigsten Reparaturen wurden ausgeführt. Zwischenwände wurden eingezogen und schnitten mir mitten durchs Treppenhaus. Meinen schönen Holztüren wurden die Kassetten ausgesägt und durch gelbes Butzenscheibenglas ersetzt. Aber man ließ mir den Stuck, die schönen Holzfußböden, den Turm. Die Innentür meines Windfangs wurde entfernt und ich konnte hören, wie man darüber sprach, diese zu Brennholz zu zersägen. Dabei gehörte diese Tür zu meinen besonderen Schönheiten, auf die ich immer so stolz gewesen bin: Zweiflügelig, mit Glaseinsätzen und Schnitzereien. Glücklicherweise konnte ich mit ansehen, wie ein Nachbar sich dieser Tür erbarmte und sie in sein Haus holte. So schien sie jedenfalls ge­rettet.
Eigentümer waren immer noch die Nachkommen der Familie Garke. Enteignungsbestrebungen widersetzte sich besonders die eine Enkelin. Sie stellte Geld zur Verfügung, um eine drohende Überschuldung und damit Enteignung zu verhindern. Aber den allmählichen Verfall konnte sie so nicht aufhalten.
Und dann kam die Wende. Noch vier Mietparteien lebten unter meinem Dach. Im Dachgeschoss wohnte eine junge Frau mit zwei Kindern, die konnte nichts wegwerfen. Der Müll türmte sich in den Zimmern. Zwei Familien lebten jeweils im Erdgeschoss und im ersten Stock. Und eine ältere Dame hatte auch noch ein Zimmer zur Untermiete. Mein Zustand war modernen Wohnvorstellungen nicht mehr angemessen: Ofenheizung, Fäkaliengrube hinterm Haus, die Elektrik war unzulänglich. Im Jahr 1995 erwarb mich der Urenkel von Charles Garke aus der Gruppe seiner Miterben. Und  man mag es nicht glauben, der alte Schlüssel, den die Frau General 1947 mitgenommen hatte, der passte noch! Nun begann eine umfassende Renovierung. Monatelang wurde an mir gebohrt, gehämmert und die später eingezogenen Wände wurden wieder abgebrochen. Ich wurde eingerüstet, neu verputzt und gestrichen. Und dann wurde ich vermietet! Na ja, immerhin war ich jetzt wieder gut in Schuss.
2007 entschloss sich der Eigentümer, nun doch noch bei mir einzuziehen. So hat sich der Kreis geschlossen. Der Blüthner-Flügel steht wieder im Salon, die Tür des Windfangs ist von Nachbars Bodenkammer wieder an ihren angestammten Platz gekommen. Sogar einige Möbelstücke kommen mir bekannt vor!
Ach, und ich vergaß zu erwähnen: die Kaiserstrasse 6 gibt es schon lange nicht mehr. Namen vergehen – ich als Haus bleib bestehen.
Silke Engelke
Thomas-Mann-Str. 6

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