Ein Jahrhundert »Im Zeichen des Traubenadlers«

Wer ein Ideal vor Augen hat, der hält es hoch, auch über alle Kriegswirren und Krisen hinweg. Die Qualität »großer« deutscher Weine ist so ein Ideal, und davon erzählt das neue, aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums der Vorgängerorganisation des Verbandes Deutscher Prädikats- und Qualitätsweingüter e. V. (VDP) entstandene Buch von Dr. Daniel Deckers. Der Weinliebhaber und FAZ-Redakteur beschränkt sich – und das ist schon Stoff genug – auf ein Jahrhundert Weinanbau und Vermarktung, etwa von 1900 bis 2000. Wesentliche Aspekte dabei sind: Der Riesling vom Rhein, die Vermarktung in schwierigen Zeiten, die »Blut und Boden«-Ideologie im Weinbau der NS-Zeit, die Rolle der jüdischen Weinhändler, der Wiederaufbau nach den Kriegen und die deutschen Weingesetze.

Cover (Verlag)

Das symbolträchtige Wappentier, das auf dem Titel des Buches prangt, hat sich auch der VDP zum Logo auserkoren, nicht zufällig, steht der VDP doch in der Tradition des 1910 gegründeten »Verbandes Deutscher Naturweinversteigerer«, und auch der hatte bereits den Adler im Wappen. Der Begriff »Naturwein« (auch »Kreszenz«) weist übrigens auf den Verzicht auf die Zuckerzugabe bei der Weinherstellung hin, ist aber seit der Weingesetz-Novelle von 1971 offiziell nicht mehr zulässig, aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Jedenfalls galt es lange Zeit als nationale Pflicht, deutschen Wein und nicht den der ausländischen Konkurrenz (Frankreich) zu trinken, daher gehören Wein und Wappentier zusammen. Im Vorwort heißt es: »Über Preußen, das Reich und das Rheinland kam der Adler auf den Wein: schwarz und stolz, das Gefieder gespreizt, eine Traube im Schilde…« Inzwischen ist das Zeichen des Trauben haltenden Adlers zwar in seiner Darstellung modern stilisiert, wirkt aber (auf mich zumindest) immer noch staatstragend und wuchtig.

Ausführlich schildert Deckers, wie vor gut hundert Jahren der internationale Aufstieg deutscher Spitzenweine begann: mit Versteigerungen der »naturreinen Edelgewächse«, vornehmlich aus dem Rheingau, der Rheinpfalz und Rheinhessen, aber auch von Mosel, Saar und Ruwer. Der Weinhandel zahlte höchste Preise und auf den handgeschriebenen Weinkarten der renommiertesten Hotels, Clubs und Luxusdampfer waren deutsche Kreszenzen zu finden. Mit dem Ersten Weltkrieg, als die Lebensmittel rationiert wurden und die Menschen Hunger litten, fehlte es auch in den Weinbergen an vielem, berichtet der Autor, doch die Erlöse für die Winzer sollen vergleichsweise gigantisch gewesen sein; deshalb war die Not in den Anbaugebieten des Weines »um einiges geringer als in den großen Städten des Reiches«.

Überhaupt war das Auf und Ab der Weinwirtschaft eng mit der an Brüchen reichen deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert verwoben. Hier nur zwei absurde Ereignisse als Beispiel: Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, Ende August 1939, trafen sich Delegationen aus 24 Ländern in Bad Kreuznach zum 1. Internationalen Weinbaukongress, hielten Vorträge und machten nichts ahnend eine fröhliche Dampferfahrt auf dem Rhein, während Außenminister von Ribbentrop und Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterzeichneten. Oder: Deckers berichtet von dem jüdischen Weinhändler Leo Levitta aus Wiesbaden (genannt »die beste Weinzunge«), der 1918 noch auf Einladung der königlich-preußischen Verwaltung die besten Weine in knappen Worten beschrieben und für die Versteigerung taxiert hatte. Selbst zu Beginn des Zweiten Weltkriegs brauchte man jüdische Weinhändler wie ihn noch, um Devisen zu bringen und sich mit köstlichen Tropfen einzudecken, aber 1943 wurde auch Levitta in Auschwitz ermordet.

Deckers wartet mit einer Fülle von Fakten auf, die sicherlich nicht nur Weinkenner und Historiker interessieren dürften, beispielsweise, seit wann überhaupt Wein in Abgrenzung zu anderen Getränken definiert wurde (1901), oder dass nicht nur die Reblaus, sondern auch die Landflucht (Abwanderung) und die Bevölkerungsentwicklung (Nachwuchsmangel, besonders nach Kriegen) zur Aufgabe vieler Weinanbauflächen führte. Auch das Anekdotische kommt nicht zu kurz.

Für uns Radebeuler ist natürlich wichtig zu wissen, welche Rolle das sächsische Anbaugebiet in der »Geschichte des deutschen Weins« (so der Untertitel des Bandes) spielt. Immerhin feiern wir 2011 ja bereits 850 Jahre Weinbau in Sachsen. Um unsere Region macht das gut recherchierte, unterhaltsam zu lesende und mit zahlreichen Illustrationen edel aufgemachte Buch allerdings leider einen Bogen. Aber schließlich kam – wenn man der Darstellung nolens volens folgt – im vorigen Jahrhundert auch kein internationaler Spitzenwein aus Sachsen. Das könnte sich aber ändern. Inzwischen sind zwei sächsische Weingüter Mitglied im VDP: Schloss Proschwitz mit Georg Prinz zur Lippe und Klaus Zimmerling aus Dresden-Pillnitz. Beide Winzer waren übrigens auch bei der Buchvorstellung Ende November in Dresden anwesend.

Karin Funke

Daniel Deckers: Im Zeichen des Traubenadlers. Eine Geschichte des deutschen Weins. Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 223 S., 29,90 €.

[V&R 1/2011, S. 11f.]

Man müsste wieder einmal… ein Buch zur Hand nehmen!

An einem der langen, dunklen Nachmittage kurz vor Weihnachten tat ich dies. Es war ein Bilderbuch, genauer gesagt ein Text- und Bildband, der u. a. von Pyramiden, Reifentieren, geschnitzten Bergmännern und Lichterengeln handelt, also zu einer weihnachtlichen Stimmung überleiten sollte. Außer einer Reihe von Krimis und ein paar Lesebüchern habe ich fast nur Bildbände, zum Teil mit wissenschaftlichem oder künstlerischem Anspruch. Ein solches war das Buch, das ich in der Hand hielt: »Holz – Form und Gestalt« von Helmut Flade, VEB Verlag der Kunst Dresden 1976. Fast hatte ich vergessen, was es damals auch für tolle Bücher gab, dieses ist ganz sicher so eins!

Cover (Repro)

Ich will jetzt aber keine Werbung dafür betreiben, wenngleich es seine inhaltliche und gestalterische Gültigkeit auch nach über 30 Jahren behalten hat und ich es nach wie vor sehr gut finde. Nein, das Buch hat seine ganz eigene Geschichte, sozusagen die Geschichte hinter dem Buch. An diese wurde ich durch einen unscheinbaren Stempelaufdruck auf der letzten Innenseite erinnert: 10 P / 90 K.

Als ich vom Erscheinen des Buches hörte und auf die Suche ging, konnte ich es weder in Radebeul noch in Dresden in den Regalen der einschlägigen Läden finden. Es hatte eine geringe Auflage und war, wie wir damals sagten, »Bückware«. Das heißt, es stand nicht im Regal, sondern lag für den Kunden unsichtbar unter der Ladentafel, und man musste die Verkäuferin schon sehr gut kennen, damit sie sich für einen danach bückte. In dem Fall hatte ich aber keine Chance!

Nun ergab es sich, dass ich im Jahr 1979 eine Touristenreise nach Leningrad (inzwischen wieder St. Petersburg) unternahm. Zunächst hatte ich Gelegenheit etwas sauer zu sein, weil mir der sowjetische Zoll bei der Einreise ein »Magazin« (war auch »Bückware«) aus der Reisetasche entnahm und wegen Pornografieverdachts beschlagnahmte. Die Genossen wollten sich wohl selbst an den Aktfotos berauschen, wer weiß das schon. Das 7-Tage-Programm in der schönen Stadt konnte mich aber bald erfreuen, so dass der Verlust nicht mehr schmerzte. Ja, ich glaube, der geschichtsträchtige Kreuzer »Aurora« war auch im Programm, wie Winterpalais und Isaakkathedrale. Am vorletzten Tag schaute ich, was ich für das übrige Geld kaufen und mit nach Hause nehmen könnte. So kam ich in einen Laden, der »Internationales Buch« hieß, und sah mich da um. Meine Überraschung war groß, als ich in den Auslagen das erwähnte Holzbuch von Flade sah. Der Preis, 10 Rubel und 90 Kopeken, war sogar etwas günstiger als der umgerechnete deutsche Preis, also griff ich zu. Während der Busfahrt zum Flughafen begannen mich dann Zweifel zu plagen. Durfte ich das Buch überhaupt ausführen und, wenn ja, musste ich dafür Zoll zahlen? In der Reisegruppe wusste es auch keiner, und so ließ ich es darauf ankommen. Ich hatte Glück, der Genosse vom Einreise-Zoll hatte vielleicht eine andere Schicht. Seitdem ziert das schöne Buch mein Regal und wird gelegentlich auch mal in die Hand genommen. Ja, so waren die Zeiten damals!

Und jetzt, wo ich mich beim Betrachten einiger Bilder in eine vorweihnachtliche Stimmung bringen wollte, kommt die alte Geschichte wieder an die Oberfläche. Hinter manch anderem Buch in meinem Bestand steckt sicherlich auch eine Geschichte, man muss es nur erst mal aus dem Regal nehmen.

Dietrich Lohse

[V&R 1/2011, S. 7f.]

Eingesandt: Radebeul 21=?

Nach 1990 haben die Bürger und die Stadtverwaltung von Radebeul in Eigeninitiative, verbunden mit viel Eigenkapital und Fördergeldern, in Altkötzschenbroda ein urbanes Kleinod für die Stadt, die auch oft das Sächsische Nizza genannt wurde und wird, geschaffen. Dieses Kleinod wurde durch die Jahrhundertflut 2002 bedroht, teilweise zerstört und wiederum mit viel Eigeninitiative, Eigenkapital und staatlichen Fördergeldern so aufgebaut, dass es weiterhin eine Perle im städtischen Ensemble von Radebeul und damit ein touristischer Anziehungspunkt weit über die Landeshauptstadt Dresden und den Freistaat Sachsen hinaus ist. Deswegen ist es verständlich, dass der Staat (das sind wir, und nicht nur das Volk, wie vor 1990) dieses Kleinod vor zukünftigen Hochwasserschäden schützen möchte und den Auftrag zum Bau eines Hochwasserschutzes erteilt hat. Vielleicht verständlich ist auch noch, dass im ersten Ansatz eine Lösung gefunden wird, die technisch und ökonomisch optimal, allerdings landschaftsarchitektonisch schlecht ist und keine Bürgernähe, sondern Abschottung ausstrahlt. Der Staat soll und muss verantwortungsbewusst mit den Steuergeldern der Bürger umgehen. Völlig unverständlich ist aber, wie seitens der Verantwortlichen von Stadt und Land die Öffentlichkeit in dieses Bauvorhaben, das das Gesicht von Altkötzschenbroda wesentlich verändern wird, einbezogen bzw. nicht einbezogen wird.

Mit Betroffenheit habe ich in Vorschau & Rückblick, Heft12/2010, in dem Beitrag von Karin Funke gelesen, dass die Pläne bis zum 18. November im technischen Rathaus auslagen und die Widerspruchsfrist der Betroffenen am 2. 12. 2010 abgelaufen ist. Warum, frage ich, hat die Stadtverwaltung nicht die Chance genutzt und die Bürgerschaft breit und intensiv, auch in den Medien, über das geplante Bauvorhaben informiert? Warum ist dazu keine Ausstellung im Foyer des technischen Rathauses als Information und Diskussionsgrundlage für die Bürger initiiert und realisiert worden? Warum hat man die Bürger für so eine Ausstellung nicht zur Mitarbeit aufgerufen, um Zeit- und Kostenaufwand in Grenzen zu halten? Formal gesehen ist natürlich bis jetzt alles dem Verwaltungsrecht entsprechend abgelaufen, Informationspflichten und Fristen sind eingehalten.

In Radebeul werden u. a. Kunstpreise, Bauherrenpreise und sogar ein Couragepreis verliehen. In der Sparkasse und in Autohäusern der Stadt werden Kunstausstellungen durchgeführt. Sollte dort nicht mal eine Ausstellung zu einem aktuellen, die Bürger der Stadt bewegenden Thema möglich sein. Ich kann nur hoffen, dass der Zug noch nicht endgültig abgefahren ist und seitens der Planenden bei der Landestalsperrenverwaltung, der Stadtverwaltung und durch eine Mitsprachemöglichkeit der Betroffenen sowie der Bürger von Radebeul noch eine technisch sinnvolle sowie landschaftsarchitektonisch gute und damit bessere Lösung als die derzeitige gefunden wird. Oder wollen Erstere in Sachsen ein Stuttgart 21 bzw. sollen Letztere nach der kleinen Hufeisennase suchen? – mit Sicherheit ein Vorgehen, das den Staat und damit uns mehr kosten wird als eine von allen Beteiligten gemeinsam getragene Lösung.

Dr. Volker Gerhardt

[V&R 1/2011, S. 22f.]

Was geht ab im »Weißen Haus«?

So schön wie das Spitzhaus oder Schloss Hoflößnitz ist es nicht, das Radebeuler »White House« (dt.: weißes Haus), von der Umgebung mal ganz zu schweigen. Der weiße, flache Bau mit den Betonplatten ringsherum steht abgelegen zwischen Kaufland und »100.000 Deckenplatten«. Dennoch ist der Standort gut gewählt. Mehrmals wöchentlich finden zahlreiche Besucher den Weg dorthin. Dabei sind es vor allem Konzerte an den Wochenenden, die sie locken. Aber auch der neu gebaute Skate-Park und die zahlreichen Proberäume (2 € pro m²) scheinen den vorwiegend jungen Leuten als geeignete Treffpunkte.

Im Barnyard-Club (Foto L. Schicktanz)

In der DDR Kantine der LPG Frühgemüsezentrum, begann 2005 die Nutzung des »White House« als multifunktionaler Raum. Seitdem besteht die Möglichkeit, den Club für Discos, Geburtstagsfeiern oder auch Theatervorstellungen zu mieten. Ein Jahr später eröffnete zusätzlich der »Barnyard Club« (dt.: Scheune, Schuppen, Hof) im hinteren Teil des Gebäudekomplexes. Mit seinem umfangreichen Veranstaltungsprogramm wendet der sich vorrangig an alternative Jugendliche. Vor allem Bands und DJ’s aus den Bereichen Rock, Reggae, Jazz, Ska und Punk kann man dort hören. Aber auch ruhigere Veranstaltungen finden regelmäßig Anklang. So öffnen sich die Türen des »Barnyard Club« jeden Mittwoch von 19 bis 24 Uhr zum Tischtennisspielen, Skateboardfahren oder einfach zum Einstimmen auf das nahende Wochenende.

Kickflip (Foto L. Schicktanz)

Neuerdings befindet sich auch das Domizil des Noteingang e.V. im Ostflügel des »White House«. Bis 2009 war dieser noch im Familienzentrum in Altkötzschenbroda beheimatet. Mit seinem Umzug reiht sich der gemeinnützige Jugend- und Kulturverein gut in das bereits bestehende Jugendangebot im weißen Haus ein. Wie auch der »Barnyard Club« hat sich der Noteingang e.V. zur Aufgabe gemacht, die Freizeit der Radebeuler Jugendlichen mit alternativen und abwechslungsreiche Angeboten zu bereichern. Die traditionelle Weihnachtsfeier an Heiligabend ist dabei ebenso beliebt wie die Versteigerung »sinnloser Weihnachtsgeschenke« am 2. Weihnachtsfeiertag.

Das nächste Konzert im »Barnyard Club« ist übrigens am 14. Januar. Da spielt ab 20 Uhr die Dresdner Band Pierrot, über deren Musik es auf myspace heißt, sie sei »irgendwo zwischen Grunge, Progressive Rock, Pop und Postrock zuhause«. Wer wissen will, was das wohl bedeuten mag, kann ja einfach mal im Club an der Kötzschenbrodaer Str. 60 vorbeischauen.

Leonore Schicktanz

[V&R 1/2011, S. 24]

Glossiert: Auf der Suche nach den Gelben Säcken

Was wertvoll ist, ist rar und teuer. Das stimmt meist, aber nicht immer. Zum Beispiel der grün gepunktete Verpackungsmüll, der sich in atemberaubender Schnelle im Haushalt ansammelt. Für die Recycling-Unternehmen ist er wertvoll, aber rar ist er nicht, und teuer wird er für mich nur, wenn ich ihn, obwohl ich beim Einkauf bereits für seine Entsorgung bezahlt habe, in meine (teure) Restmülltonne schmeiße. Doch dafür gibt’s ja zum Glück die Gelben Säcke. Die Frage ist nur: Wo gibt es die? Stets aufs Neue begebe ich mich auf die Suche nach diesen raren (und ergo wertvollen) Behältnissen, und immer wieder fallen mir dabei die Ritter der Tafelrunde ein und ihre Suche nach dem Heiligen Gral…

Bei Eisenwaren Lindner in der Bahnhofstraße bekomme ich flüsternd einen Geheimtipp: »Die Säcke werden am Montag Nachmittag geliefert, am Mittwoch sind sie immer schon weg. Also am besten dienstags nachfragen!«. Ich denke an Bückware aus seligen DDR-Zeiten, Karl-May und Erotika unterm Ladentisch, und fühle mich fast schon wie das Mitglied in einer Verschwörung. Die nächste Station ist der Vita-Markt gegenüber der Aral-Tankstelle. Mit »leider nein« muss auch dort der Verkäufer absagen, empfiehlt mir aber stattdessen frische gelbe Paprikaschoten. Immerhin, die Farbe ist ähnlich, doch nicht die Funktion. Im Rathaus gibt es auch Gelbe Säcke, zu den behördlichen Öffnungszeiten, versteht sich. Heute ist die Tür leider verschlossen. Auf der (gelben!) Liste, die ich mal im Landratsamt Meißen zu fassen bekam, steht noch eine Adresse in Wahnsdorf. Soll ich durch den Schnee extra nach Wahnsdorf hochfahren, wo ich doch sonst mein Auto stehen lasse? Das wäre dann doch Wahnsinn!

Ich lasse Folien und Milchtüten, Quark- und Joghurtbecher also erst einmal heimlich und mit schlechtem Gewissen im Restmüll verschwinden und verschiebe meine Suche nach den heiligen Säcken auf einen Dienstag, einen langen Dienstag, wie er in der Sprache der Verwaltung heißt – und siehe da, das Glück ist mir hold. Feierlich wird mir im Erdgeschoss des Rathauses eine gelbe Sackrolle überreicht, verziert mit rotem Gummiband. Warum nicht 2, 3 oder 4? Auch daran ist der Wert der Säcke erkennbar, dass man damit haushalten muss, und kürzlich hatte es ja auch in der Zeitung gestanden, dass das vom Dualen System gnädig zugemessene Jahresdeputat im ganzen Kreis praktisch erschöpft sei. Unverfroren bitte ich trotzdem um drei Rollen, denn ich hätte noch meine Nachbarn mit zu versorgen, fällt mir spontan ein. Wieder habe ich Glück.

Mit stolz geschwellter Brust komme ich mit den Säcken nach Hause und lege, aus der Lüge Wahrheit machend, wie ein Nikolaus zwei der wertvollen Rollen heimlich vor den Nachbarstüren ab. Eine bleibt mir – wie lange sie wohl reichen wird? Was danach kommt, ist sicher, dann geht sie wieder los, die Suche…

Karin Funke

[V&R 1/2011, S. 25]

Kalenderweisheiten zur Weihnachtszeit

Haben Sie schon einen Kalender für 2011? Sicher, denn ohne kommt man heutzutage nicht aus. Es gibt sie in allen möglichen Formen, dekorativ für die Wand, übersichtlich für den Schreibtisch, en miniature für die Brieftasche. Wer oft unterwegs ist und viele Termine hat, trägt zwangsläufig auch einen Notizkalender mit sich herum, es sei denn, er verlässt sich auf moderne elektronische Hilfsmittel, die so vieles können, nur herunterfallen oder feucht werden dürfen sie nicht…

Notiz- oder Buchkalender sind heute zumeist schmucklos und ganz auf die praktische Nutzbarkeit zugeschnitten. Man kann sich mit ihrer Hilfe leicht in den Monaten, Wochen und Tagen des Jahrs zurechtfinden. Daneben bieten sie kurze Informationen zu Schulferien und Feiertagen, zu Auf- und Untergang von Sonne und Mond und vielleicht noch zu Postgebühren, Auslandsvorwahlnummern und ähnlichem. Zu lesen findet man darin in der Regel nur das, was man selbst hineingeschrieben hat. So spartanisch ging es nicht immer zu.

Gedruckte Kalender sind so alt wie der Buchdruck. Wandkalender gab es schon in der Inkunabelzeit Ende des 15., Jahreskalender in Heft- und Buchform dann seit dem frühen 16. Jahrhundert. Damit sind sie das älteste periodische Druckmedium überhaupt. Anfangs fast unerschwinglich, wurden sie mit der Ausbreitung des Buchdrucks billiger, und zumindest im protestantischen Deutschland, wo die Alphabetisierung nach der Reformation schnell Fortschritte machte – Sachsen war da ein Musterland –, gab es schon im 17. Jahrhundert kaum einen Bauern, der sich nicht Jahr für Jahr beim Buchbinder, auf dem Markt oder vom Hausierer seinen Kalender erwarb.

Für die einfachen Menschen waren diese Kalender damals freilich rechte Zauberbücher, angefüllt mit einem Wust von astronomischen und astrologischen Symbolen und Informationen und daraus abgeleiteten medizinischen und wirtschaftlichen Ratschlägen, Wettervorhersagen, Horoskopen sowie Prophezeiungen über Krieg und Frieden, Ernteerträge, Glück und Unglück etc. Die gebräuchlichsten Kalender, Hefte im Quartformat, um die vier bis sechs Bogen stark, bestanden immer aus zwei Teilen, dem Kalendarium und der »Practica« bzw. dem »Prognosticon«. Vor allem in diesem zweiten Teil stellten die hoch geachteten Kalendermacher ihre astrologischen Fertigkeiten unter Beweis. Da der Glaube an das gedruckte Wort damals noch stärker war als heute, der breiten Masse der Bevölkerung aber die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit solchen Prognosen abging, vom Verständnis für ihre komplizierte Herleitung aus den himmlischen Aspekten und Konstellationen ganz zu schweigen, leisteten diese astrologischen Kalenderinhalte dem ohnehin tief verwurzelten Volksaberglauben kräftig Vorschub, vor allem dem so genannten Kalenderaberglauben.

Darunter versteht man, kurz gesagt, den Glauben daran, dass man von bestimmten kalendarischen Daten (Lostage) auf zukünftige Ereignisse/Schicksale schließen kann. Eine harmlose Form davon sind die Bauernregeln Witterung und Vegetation betreffend (»zu Georgi blinde Reben später volle Trauben geben«, »schön zu St. Paul füllt Tasche und Maul«, »ist es an Weihnachten kalt, ist kurz der Winter, das Frühjahr kommt bald« etc.). Die treffen ja bekanntlich häufig zu, was daran liegt, dass sie sich auf jahrhundertelange Erfahrung stützen und oft auch Interpretationsspielraum bieten. Versucht man, an einem Ort gemachte Beobachtungen, deren Ursachen man nicht kennt, in ein universal gültiges System zu überführen, wie es etwa der »Hundertjährige Kalender« unternimmt – eine Publikation, die viele Verleger reich, aber wenige Bauern klug gemacht hat –, wird die Sache schon kritisch. Grober Unfug schließlich sind Regeln, die ohne Erfahrungsgrundlage oder etwa nur auf der Basis von Zahlenmystik quasi magische Wirkungen unterstellen. – Wer fest an solche Wirkungen glaubt, wird sich ihr Ausbleiben irgendwie zurechtlegen, aber wer sich darauf verlässt, der ist verlassen.

Im aufgeklärten 18. Jahrhundert wurde die Zurückdrängung des Kalenderaberglaubens ein großes Thema, dazu vielleicht bei Gelegenheit mehr. Diesmal sollen – der Jahreszeit angemessen – lediglich einige Beispiele für abergläubische Regeln rund um den Heiligen Abend vorgestellt werden. Gesammelt hat sie Theodor Grässe, einer der bedeutendsten Dresdner Philologen des 19. Jahrhunderts, der vor gut 125 Jahren, am 27. August 1885, auf seiner kurz zuvor erworbenen Besitzung Wackerbarths Ruhe in Niederlößnitz verstorben ist.

1858 brachte Grässe, damals Direktor der königlichen Münz- und Porzellansammlungen, ein hübsch illustriertes Büchlein unter dem Titel »Des deutschen Landmanns Practica« heraus, mit dem er den Versuch unternahm, die im Volksmund und in der Literatur der frühen Neuzeit überlieferten kalenderabergläubischen Gebräuche in denkbarer Vollständigkeit zu dokumentieren und damit – in Anlehnung an Jacob Grimms (des Märchensammlers) »Deutsche Mythologie« – eine Art »Mythologie des Kalenders mitzutheilen«. Er führt diese Gebräuche nicht, wie vor ihm die (Volks-)Aufklärer, anklagend vor, sondern behandelt sie als kulturhistorisch interessante Denkmäler ihrer Zeit, die – die Aufklärung hatte Wirkung gezeitigt – vor dem drohenden Untergang zu bewahren wären. So »ungereimt und albern« diese Geheimkünste erscheinen müssten, würde »das Lesen derselben dem gebildeten Landwirth unserer Tage eine belustigende Unterhaltung sein, wenn er sieht, was unsere Vorfahren für sonderbare Dinge geglaubt und vorgenommen haben«, schreibt Grässe im Vorwort. Anderthalb Jahrhunderte später, die deutschen Landwirte sind inzwischen alle gebildet und trotzdem fast schon auf der Roten Liste, gilt das sicher umso mehr. Nun also einige Beispiele des Kalenderaberglaubens rund um den Heiligen Abend, wie bei Grässe (S. 181ff.) kommentarlos und gedacht zum Schmunzeln und zur Erbauung:

Am Weihnachtsabend sollen Brautleute Nüsse ins Feuer werfen; verbrennen dieselben ruhig, so bedeutet es eine glückliche Ehe, zerspringen sie aber mit Knistern, so bedeutet es ein vielbewegtes Leben.

Wenn das Licht am Weihnachtsabend auslöscht, so glaubt man, dass einer der Anwesenden dieses Jahr sterben muss.

Man soll am Weihnachtsabend einen großen Klotz Holz in den Ofen werfen und daran mehrere Tage brennen. Stößt man die davon übriggebliebenen Kohlen, so helfen dieselben, als Pulver eingenommen, gegen Zahnschmerzen, legt man sie aber unter das Bett, so wenden sie den Blitz ab.

Was man am Weihnachtsabend gesäet hat, und wäre es auch auf dem Schnee, das verdirbt nicht.

Wenn die Weihnachtsnacht hell ist, so wird die Scheune nach der Ernte des nächsten Jahres finster (d.h. voll) sein, wenn dieselbe aber finster ist, so wird die Scheune hell (d.h. leer) sein.

Man soll in der Weihnachtsnacht nicht spinnen, das bringt Unglück.

Wer in der Weihnachtsnacht vom Wolf spricht, dem fällt derselbe das nächste Jahr in die Herde.

Ein Hund, der in der Christnacht heult, wird das nächste Jahr toll.

Wenn eine ledige Weibsperson in der Christnacht heißes Blei ins Wasser gießt, bekömmt dies die Gestalt wie das Handwerksgerät dessen, den sie heiraten wird.

Wenn eine Dienstmagd wissen will, ob sie länger bei ihrem Herrn im Dienst bleiben oder abziehen werde, soll sie auf den Weihnachtsheiligenabend den Schuh rücklings über den Kopf werfen. Fällt derselbe mit der Spitze nach der Tür zu, so zieht sie ab.

Wer am Weihnachtsabend Geld zählt, dem wird es das ganze Jahr an Geld nicht mangeln.

So oft der Hahn in der Christnacht kräht, so viele Schillinge kostet das nächste Jahr das Viertel Korn.

Wer unter der Frühpredigt des ersten Weihnachtstags geboren ist, kann Geister sehen.

Wer etwas an sich trägt, das mit Zwirn genäht ist, der in der Christnacht gesponnen wird, an dem haftet keine Laus.

Wenn eine Jungfer wissen will, ob sie im nächsten Jahr einen Mann bekommen werde, so soll sie am Weihnachtsabend an das Hühnerhaus klopfen und sagen: Gackert der Hahn, so krieg ich einen Mann, gackert die Henn, so krieg ich kenn (d.h. keinen).

Will eine ledige Dirne wissen, ob ihr Liebster gerade oder krumm sein werde, so soll sie am Weihnachtsabend an einen Stoß Holz treten und rücklings ein Scheit ausziehen; wie nun das Scheit ist, also wird auch der Liebste sein.

Wer am heiligen Weihnachtsabend etwas stiehlt und wird nicht darüber ertappt, der kann das ganze Jahr über sicher stehlen.

Die Probe aufs Exempel sollte man in diesem Fall vielleicht lieber bleiben lassen. Wer Lust hat, alte Kalenderweisheiten zu überprüfen, kann sich ja an folgendem, ebenfalls nach Grässe zitierten Kalenderspruch versuchen:

»Ist am Abend auch die Christnacht klar,

Ohne Wind und Regen nimm eben wahr,

Und hat die Sonne des Morgens ihren Schein,

Dasselbe Jahr wird werden viel Wein.«

Eine klare Christnacht wünscht

Frank Andert

[V&R 12/2010, S. 3-6]

Radebeuler Ehrenbürger (Schluss?): Ilja Schulmann und Boris Taranenko

Inzwischen ist es schon gut ein Vierteljahrhundert her, dass das Ehrenbürgerrecht der Stadt Radebeul zum bislang letzten Male verliehen wurde. Geehrt wurden damals, »aus Anlaß des 40. Jahrestages des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus«, erstmals zwei Ausländer, die Sowjetbürger und ehemaligen Angehörigen der Roten Armee Ilja Schulmann und Boris Taranenko.

Der Beschluss über die Ehrung wurde im Stadtrat unter Vorsitz von Bürgermeister Theuring (LDPD) am 24. April 1985 gefasst und am Tag des Jubiläums, am 8. Mai 1985, von der Stadtverordnetenversammlung bestätigt. Es war ein politischer Akt, keine Frage, ein Bekenntnis zur »unverbrüchlichen Freundschaft« mit dem Land der Befreier, dem »Großen Bruder«, wo sich gerade gewaltige Umwälzungen anzubahnen begannen (zwei Monate vorher war Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU geworden), was man aber damals so genau noch nicht wusste. Anders als bei den politischen Ehrenbürgerrechtsverleihungen von 1933 hatten sich die beiden 1985 Geehrten in unterschiedlicher Weise tatsächlich Verdienste um die Stadt Radebeul erworben.

Am augenfälligsten waren die von Ilja Bela Schulmann. Dieser hatte, zu Kriegsende Oberleutnant und Dolmetscher im 290. Gardeschützenregiment des 32. Gardeschützenkorps, beim Vorrücken der sowjetischen Truppen auf die Lößnitz am 7. Mai 1945 von Friedewald aus mehrere bedeutsame Telefonate mit den Stadtverwaltungen von Dresden und Radebeul geführt, die zumindest im Falle Radebeuls maßgeblich zu einer fast kampflosen Übergabe der Stadt beitrugen.

Die genauen Umstände und Folgen dieser Telefonate sind in verschiedenen Quellen recht unterschiedlich beschrieben. Die 2005 vom Bund der Antifaschisten herausgegebene Broschüre »Gegen das Vergessen. Die Tage im Mai 1945 in Radebeul« und ein später dazu nachgereichtes, verschlimmbesserndes Ergänzungsblatt haben die Geschichte noch zusätzlich verwirrt. Die wegen der zeitlichen Nähe zum Geschehen vermutlich verlässlichste, von Willi Sowinski recherchierte Darstellung der Ereignisse im Juniheft der alten ›Vorschau‹ von 1955, S. 6f., berichtet folgendes: »Um 17 Uhr erreichte die Stadtverwal­tung ein telefonischer Anruf aus Friede­wald. Der Anrufer meldete sich als Lebensmittelgeschäft Müller und über­gab die Leitung sofort an einen sowje­tischen Offizier, der in gebrochenem Deutsch aufforderte, die Übergabe von Radebeul und von Dresden vorzuberei­ten. Wenn die Stadt nicht kampflos übergeben werde, müsse sie damit rech­nen, von schwerer Artillerie beschossen zu werden. […] Der sowjetische Offizier gab der Stadt­verwaltung eine Stunde Bedenkzeit, nachdem er sich zuvor nach der Be­schaffenheit der Elbübergänge bei Nie­derwartha und Kaditz erkundigt hatte. Severit versicherte ihm, daß die Stadt nicht verteidigt werde.«

Oberbürgermeister Heinrich Severit – wir erinnern uns an den Stolz, mit dem er 1933 die Dankesschreiben der von ihm gekürten Ehrenbürger Hitler und Hindenburg als Wandschmuck in seinem Dienstzimmer platzierte – hatte seine Amtsgeschäfte bereits kurz vor diesem Telefonat an eine eilig einbestellte Gruppe von ausgewiesenen Antifaschisten übergeben. Unter dem Druck des von Schulmann durchgegebenen Ultimatums wurden die Vertreter der alten und der provisorischen neuen Stadtverwaltung nun gemeinsam aktiv und erreichten, dass die im Stadtgebiet verbliebenen deutschen Truppen, soweit man mit ihnen Verbindung herstellen konnte, abzogen bzw. die Waffen streckten. Sowinski weiter: »Die Verhandlungen mit dem sowjeti­schen Offizier in Friedewald zogen sich mehrere Stunden hin. Noch einige Male wurde hinüber- und herübertelefoniert. Der letzte Anruf aus Friedewald kam um 20 Uhr. Er brachte die Anweisung für die Polizeieinheiten der Stadt, alle Schußwaffen an bestimmten Stellen ihrer Dienststellen zu hinterlegen.« Artilleriebeschuss, der am Nachmittag des 7. Mai in Radebeul einige zivile Todesopfer gefordert hatte, fand danach nicht mehr statt, beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in der folgenden Nacht gab es nur wenig Blutvergießen.

Es ist nicht auszudenken, wie Radebeul heute aussähe, wenn die Stadt stattdessen, wie vom Radebeuler Ehrenbürger Martin Mutschmann geplant, als Teil der Festung Dresden verteidigt worden wäre. Die beinahe kampflose Übergabe Radebeuls 1945 war das Ergebnis des besonnenen Handelns mehrerer auf allen Seiten, und Ilja Schulmann spielte dabei eine wichtige Rolle. Als man 1985 in Radebeul durch die Ehrenbürgerrechtsverleihungen ein Zeichen setzen wollte, hätte man kaum einen besseren Kandidaten finden können.

Die besonderen Verdienste von Boris Leontjewitsch Taranenko um Radebeul liegen, genau genommen, im Dunkeln, verborgen hinter den Bretterverhauen, durch die sich die Besatzungstruppen in den beschlagnahmten öffentlichen Gebäuden und Villenquartieren schon bald nach Kriegsende abschirmten. Im Text von Taranenkos Ehrenbürgerurkunde werden Einzelheiten nicht erwähnt. Was man sicher weiß, ist, dass Taranenko, damals im Kapitänsrang (das entspricht dem deutschen Dienstgrad Hauptmann), in den ersten Jahren nach Kriegsende eine Zeit lang die Funktion des Polit-Stellvertreters des Radebeuler Stadtkommandanten bekleidete. Auch wenn diese Besatzungszeit für die Radebeuler Bevölkerung mit zum Teil großen Härten verbunden war, darf man davon ausgehen, dass er seinen Teil zum Wiederaufbau der Verwaltung und des öffentlichen Lebens in der Stadt sowie zum einigermaßen geordneten Funktionieren des Besatzungsregimes beigetragen haben wird. Dass ihn 1985 das Radebeuler Ehrenbürgerrecht ereilte, dürfte wohl damit zusammenhängen, dass er der einzige namentlich bekannte Funktionsträger der einstigen Stadtkommandantur war, der 40 Jahre nach Kriegsende noch unter den Lebenden weilte bzw. ausfindig zu machen war. Über Taranenkos Leben weiß man in Radebeul ansonsten wenig, nicht mal sein Geburtstag im Jahr 1910 ist bekannt. Die Tatsache, dass er als Veteran den Dienstgrad eines Oberstleutnants a.D. führte, deutet darauf hin, dass er nach dem Krieg Berufsoffizier blieb. Er wohnte in Rostow am Don, war Träger des Vaterländischen Verdienstordens der DDR in Silber, hat Radebeul zumindest noch einmal besucht und starb am 19. April 1988 in der damaligen Sowjetunion.

Über Ilja B. Schulmann, den nach Rechtslage momentan einzigen Radebeuler Ehrenbürger, wissen wir mehr. Er wurde am 30. November 1922 als Sohn jüdischer Eltern in Gomel/ Weißrussland geboren, und schon sein Name weist auf deutsche Vorfahren hin. Nachdem ihn Hitlers Krieg die besten Jugendjahre gekostet hatte, nahm er seinen Abschied vom Militär und arbeitete in seiner Heimatstadt jahrzehntelang als Deutschlehrer. Als er 1985 von der unerwarteten Ehrung aus Radebeul erfuhr, soll er bescheiden festgestellt haben, dass er überrascht sei, er habe doch nur seine Pflicht getan – eine sympathische Reaktion auf die plötzliche Umarmung. 1995 erhielt die Stadtverwaltung Radebeul Nachricht, dass es dem Ehrenbürger sehr schlecht gehe, worauf die Stadt Hilfssendungen organisierte; nicht alle haben ihn erreicht. Die wirtschaftlichen und politischen Zustände in Gomel nach dem Zerfall der Sowjetunion waren für ihn und seine Familie dramatisch, so dass er nach Deutschland übersiedelte und heute in Bochum lebt. Ein kürzlich mit ihm geführtes Telefonat ergab wegen seines schlechten Gesundheitszustands leider kaum vertiefende Informationen.

Doch noch mal zurück zum Anfang: Bürgermeister Horst Theuring, selbst Kriegsinvalide, war die symbolische Ehrenbürgerrechtsverleihung an zwei der Befreier von 1945 sicherlich auch ein persönliches Bedürfnis, eine Geste der Wertschätzung und ein Beitrag zur Versöhnung. Eigentlich ist es ja erstaunlich, dass diese – seien wir ehrlich: im Grunde hilflose und  propagandistisch aufgeladene – Geste erst vierzig Jahre nach Kriegsende erfolgen konnte, dass keiner der Bürgermeister vorher auf die Idee kam. Trotz der verordneten Brüderschaft und der Parteipropaganda, die die DDR-Bürger per 7. Oktober 1949 zu den guten und die »Bonner Ultras« zu den bösen Deutschen erklärte, war das Kriegs- und Nachkriegstrauma auch in der DDR 1985 noch nicht verarbeitet, sondern lediglich unter den Blümchenteppich der deutsch-sowjetischen Freundschaft gekehrt. Alle Kinder lernten Russisch, aber eine große und ehrliche Rede zum Thema »Tag der Befreiung« wie die, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker just am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag hielt – längst überfällig, aber dann mit gewaltiger Wirkung –, hätte in der Volkskammer nie gehalten werden können. Wir gehörten ja – par ordre de mufti – (zu) den Siegern, die »ewig Gestrigen« und schon gar die »Faschisten« waren die anderen, und zwar schon immer.

Dass die Radebeuler Ehrenbürger von 1985 auf ihren Urkunden mit »Genosse« angesprochen werden und dass der Sekretär der SED-Ortsleitung gleichberechtigt mit dem Bürgermeister unterzeichnete, ist, nebenbei bemerkt, eine stillose Peinlichkeit, wie sie nur zu DDR-Zeiten denkbar war. Hat sich mal jemand gefragt, warum »unser« Ehrenbürger Ilja B. Schulmann, als er die Wahl hatte, zu den »ewig Gestrigen« nach Bochum und nicht ins sonnige »Pensionopolis« nach Radebeul gezogen ist? Schwamm drüber, das ist ja zum Glück alles Geschichte…

Seit April hat ›Vorschau & Rückblick‹ – angeregt durch die IG Heimatgeschichte und aus Anlass des nun zu Ende gehenden Jubiläumsjahrs – alle bisherigen Radebeuler Ehrenbürger in der gebotenen Ausführlichkeit vorgestellt, alles in allem ein rundes Dutzend. Mancher Name und manches Faktum war vielen sicher neu, manches Verdienst konnte in verdiente Erinnerung gerufen werden, und auch das bisher eher schamhaft umgangene Kapitel der »Ehrenbürger« von 1933 erwies sich, bei Lichte besehen, als lehrreich. Ein herzlicher Dank an alle beteiligten Autoren!

Eine vage für diesen November ins Auge gefasst gewesene städtische Veranstaltung zum Thema Ehrenbürgerrecht hat es angesichts drängenderer Probleme an vielen Fronten nicht in den Veranstaltungskalender geschafft. Vielleicht ergibt sich ja unter günstigeren Vorzeichen noch einmal die Gelegenheit, öffentlich darüber zu diskutieren, ob dieser höchste kommunale Ehrentitel auch von der Großen Kreisstadt Radebeul verliehen werden sollte und was dabei zu beachten ist, damit die Auszeichnung ihren Wert behält, parteipolitischen Ambitionen entzogen bleibt und nicht zum schmückenden Selbstlob verkommt. Beispiele dafür, wie man’s macht und wie man’s nicht machen sollte, haben die neun Folgen unserer Serie geliefert.

Eine unvorgreifliche Bemerkung noch zum Schluss: Wer sagt eigentlich, dass Radebeuler Ehrenbürger immer männlich sein müssen?

Frank Andert und Dietrich Lohse

[V&R 12/2010, S. 14-18]

Hochwasserschutz in Radebeul – mit oder ohne Bürgerbeteiligung?

Die Flut vom August 2002 ist nicht vergessen, die Betroffenen erinnern sich meistens noch minutengenau an die dramatischen Situationen, die sie erlebt haben, an die Schäden an den Häusern und Geschäften, an die Folgen, die zum Teil bis heute spürbar sind. Bei der Landestalsperrenverwaltung (LTV) in Pirna wurden seither, teils in Zusammenarbeit mit der TU Dresden, Berechnungen, Pläne und Simulationen zur Verbesserung des Hochwasserschutzes erstellt. Ein detaillierter Plan für die Radebeul betreffenden Maßnahmen hat inzwischen den Status eines Planfeststellungsverfahrens erreicht. Die Unterlagen dazu wurden bis Mitte November für die Bürger der Stadt ausgelegt, um eine Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. Doch genau da liegt das Problem: Eine echte Beteiligung scheint gar nicht stattzufinden.

»Eine Mauer – wer will hier eine Mauer errichten?« – Wenn man sich unter Spaziergängern am Elbdeich hinter der Friedenskirche umhört, bekommt man den Eindruck, als seien die Pläne hier völlig unbekannt. Die Baggerarbeiten am Deich haben nichts mit der geplanten Mauer zu tun, erfährt man aus dem Rathaus, es ist eine Sanierungsmaßnahme, der Altdeich wird befestigt. Geht man vom Deich über die Streuobstwiesen Richtung Altkötzschenbroda, kommt man der Sache schon näher. Zum Herbst- und Weinfest hatten Mauergegner hier ein Gerüst aufgestellt, das die gewaltigen Dimensionen des geplanten Schutzbauwerks veranschaulichen sollte. In einer weiteren Aktion wurden alte Obstbäume, die der Mauer weichen müssten, mit weißen Tüchern umwickelt und mit Flugblättern bestückt. Ein erst Mitte September gegründeter Verein »NaturRaum Radebeul e.V.« bemühte sich damit um Aufmerksamkeit für die Folgen, die die geplanten, am hundertjährigen Hochwasser (HQ 100) orientierten Baumaßnahmen hätten. Kötzschenbroda wird sich verändern, einiges von seinem Reiz einbüßen. Stehen Kosten und Nutzen wirklich in einem gesunden Verhältnis?

Wie erwähnt gab es bis zum 18. November im Technischen Rathaus die Möglichkeit, Einblick in die Pläne zu nehmen. Nur wenige Bürger folgten dieser Einladung, die recht unauffällig im Oktober-Amtsblatt stand; genau 47 waren es bis zum Buß- und Bettag. Dabei konnten sie feststellten, was der Begriff »Öffentliche Auslegung« bedeutet: Statt übersichtlicher Tafeln im Foyer waren die Informationen in genau 25 dicken Aktenordnern versteckt, einsehbar im Amtszimmer 1.08. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, eine Essenz aus den Aktenbergen verständlich auf den Punkt zu bringen. Welcher interessierte Laie hat denn schon nach Feierabend Zeit, bis zum Büroschluss der Rathausmitarbeiter so viele Ordner durchzuackern? Vielleicht ist das auch gar nicht gewollt?

Zwar gab es im Frühjahr eine Versammlung im Goldenen Anker dazu, und auch die »(Nicht nur) Reden in Kötzschenbroda« befassten sich Anfang November mit dem Thema, doch diese beiden Veranstaltungen ersetzen nicht eine ausgiebige öffentliche Diskussion.

Fest steht, dass die Planung schon sehr weit fortgeschritten ist. Demnach soll im Bereich der Stadt Radebeul auf 2,3 km Elblänge eine Kombination aus statischer Mauer und mobilen Schutzwänden entstehen. Die, vom Angerniveau aus gemessen, etwa zwei Meter hohe, befahrbare Mauer würde im Bereich Altkötzschenbroda auf der Südseite der Angergrundstücke hochgezogen werden, da, wo jetzt ein kleiner Trampelpfad verläuft. Dieser Weg fällt weg, und statt auf die Elbe blickt man aus den Gärten dann auf die Mauer, Betreten verboten. Der Pfarrgarten hinter dem Lutherhaus ist besonders betroffen; für die Anlegung einer Wendeschleife soll er zu großen Teilen unter Beton verschwinden. Am Kirch- und am Elbgässchen sind »infrakstrukturelle Querungen« geplant, die bei Bedarf mit mobilen Schutzwänden geschlossen werden können.

Sicherheit ist ein hohes Gut, aber, wie gesagt, sind nicht alle von diesem Vorhaben begeistert. »Schutz ja, aber doch nicht so! Mauer bleibt Mauer, auch wenn sie begrünt werden soll«, meint eine Anwohnerin, die nicht namentlich zitiert werden will. In einer Pressemitteilung vom 23. September erklärt Antje Mehnert, Vorsitzende des NaturRaum Radebeul e.V., der Verein wolle »die anstehende Planung der Hochwasserschutzanlagen im Gebiet der Stadt Radebeul [..] begleiten« und »dazu beitragen, dass der notwendige Hochwasserschutz in Art und Weise sowie Umfang so gering wie möglich den Naturraum der Elbe und der elbnahen Gebiete beeinträchtigt.« Das klingt nicht nach einseitiger Interessenvertretung und radikaler Ablehnung, sondern eigentlich ganz vernünftig. Bei der Stadt scheint man dagegen das Damoklesschwert möglicher Umplanungs- und Folgekosten so scharf am Hals zu spüren, dass man lieber nicht an der LTV-Planung rührt.

Noch bis zum 2. Dezember können Betroffene Widerspruch einlegen und ihre Bedenken schriftlich (nicht per Email) äußern. Beeinträchtigungen und Benachteiligungen müssen glaubwürdig nachgewiesen werden. Die Seite der Technokraten ist von Hause aus stark aufgestellt. Für die weichen Faktoren – Landschaftsschutz, Charme, Lebensqualität, Tradition – müssen sich die Bürger ins Zeug legen. Vielleicht tut sich da ja noch was. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit darf man die Hoffnung nicht aufgeben, dass eine für alle Seiten befriedigende Lösung möglich ist.

Karin Funke

[V&R 12/2010, S. 11-13]

Faust als mediales Gedächtnisprotokoll

Zur Premiere von »Faust I« an den Landesbühnen Sachsen

Goethes »Faust« – ein Fels im Kanon der deutschen Literatur und altbekannter Schulstoff. In der jüngsten Landesbühneninszenierung (Regie Arne Retzlaff) wird der chronologische Erzählstrang der Tragödie zugunsten von reflexionsartigen Rückblenden zerschnitten. Eine Videokamera bleibt unentwegt auf Faust und seinen Stuhl fixiert. Der Zuschauer hat beides vor Augen, den Erzähler und sein monströses Abbild auf transparenter Projektionsfläche. Die Ausstattung von Stefan Wiel setzt auf Schlichtheit. Eine nüchterne, industriehallenartige Konstruktion markiert den neutralen Bühnenraum, mit teils in die Unendlichkeit weisenden Fluchten, eine Gazewand als Tor zwischen den Welten trennt außen und innen, dort und hier, Erinnerung und Wirklichkeit.

Faust I an den Landesbühnen Sachsen (Foto LBS)

Die skelettierte Textfassung blendet ein weites Figurenarsenal aus und konzentriert sich auf die Zentralgestalten Faust, Mephisto und Gretchen – Teufelspakt und Liebestragödie. Damit entstehen kompositorische Freiräume. Dialogisch konzipierte Stellen des Originaltextes etwa fließen streckenweise in die monologische Binnenwelt Fausts ein, sodass dessen innere Zerrissenheit und Bitternis noch klarer hervortreten. Olaf Hörbe als alter Faust präsentiert mit einsamen Monologen eine ausgedehnte Exposition. Eine raffiniertere Auslotung der bekannten Texte wäre im Rahmen der unkonventionellen Konzeption wohl spannender gewesen. Seine Erinnerungen spulen sich durch Lebensschichten, die im Bühnenhintergrund von chorischen Szenen begleitet werden. Hier zeigt sich ein Kaleidoskop von Gestalten, die eine stringente zeitliche Verortung vermissen lassen. Auerbachs Keller in tumber Biertischatmosphäre und Osterspaziergang, als Fitnessstudio skizziert, bleiben Fenster zu einer unzugänglichen, fremden Welt. Der Widerstreit zwischen suchender intellektueller Abgeschiedenheit und der Zerstreuungslust des gemeinen Volkes erscheint unauflösbar.

Retzlaff bedient sich zeitlicher und optischer Überblendungen, die Faust zunächst noch in den Garten seiner Kindheit mit frommer gottesfürchtiger Kinderseele zurückführen, bevor er sich in der Abkehr vom Glauben mit dem Teuflischen verbindet. Erst mit Erscheinen Mephistos werden weltliche Begehrlichkeiten geweckt, denen er sich fortan nicht mehr entziehen kann und will. Mario Grünewald spielt den Widerpart mit einer ausladenden dämonisch-heiteren Präsenz, die das Stück über weite Teile zusammenhält. Mit gleichem Kostüm ist er nicht nur rein äußerlich als Alter Ego Fausts erkennbar. Er ist Freund, Kumpel und feiert schließlich als Entertainer mit dem jungen Faust im Rausch der Walpurgisnacht eine geradezu orgiastische Verbindung.

Nicht nur die Ruhe ist hin... (Foto LBS)

Dramaturgisch geschickt ist die Zweiteilung des Abends: Während im ersten Teil der alte Faust in Gram mit sich und Mephisto ringt, gibt nach der Stückpause mit seinem jüngeren Ich die Liebestragödie konsequent ihren Auftakt. René Geisler spielt ihn mit jugendlicher Lässigkeit, die alle Weisheit seinem Eroberungswillen geopfert hat. Vor allem in der anfänglich zart aufkeimenden Liebesgeschichte wartet die Inszenierung mit einer eindrucksvollen Bilderwelt auf. So sanft ihre erste Begegnung ist, umso ergreifender werden die Brüche Gretchens mit dem Verlust ihrer Familie. Dörte Dreger zieht von kindlicher Unschuld bis zur existentialistischen Ekstase einen weiten Spannungsbogen. Mit der Tötung ihres Kindes wird der in ihr aufsteigende Wahn letztlich auf die Spitze getrieben. Symbolhaft streut sie sich die Asche ihrer verlorenen Leibesfrucht – und damit ihrer eigenen Existenz – aufs Haupt. Am Ende der Rückblende sitzt der alte, nunmehr gebrochene Faust, wieder auf seinem Stuhl, auf welchen er vor dem finalen Black durch ein Anatmen, etwas uneindeutig, wohl auf den Fortgang der Tragödie verweisen will.

Insgesamt bleibt der Eindruck einer durchaus interessanten Neuauflage, die aber trotz der teils aufwendig geschaffenen Bilderwelt insbesondere in der zweiten Hälfte mehr Straffung vertragen hätte.

Nach dem Applaus verließ das Ensemble den Saal unerwarteterweise durch den Zuschauerraum, um das Publikum vor den Toren des Hauses für eine Petition zu gewinnen, die sich gegen den drohenden Kulturabbau richtet. Wie wichtig ist uns Kultur? – Vielleicht eine an Bedeutung gewinnende Gretchenfrage unserer Zeit.

Sascha Graedtke

[V&R 12/2010, S. 22f.]

Die Hölle bleibt geschlossen. Umjubelte Premiere der »Zauberflöte« an den Landesbühnen

Leidenschaftlich und voller Zorn gibt sich die Königin der Nacht ganz und gar unversöhnlich. »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen«, singt sie mit kraftvoller Stimme und man möchte ihr in diesem Moment eher nicht im Wege stehen. Sarastro heißt ihr Gegenspieler und der ist der Herr der Priesterschaft des Sonnenkreises. Um eben jenen Sonnenkreis entzündet sich die Rivalität zwischen Sarastro und der Königin der Nacht. Wie leicht könnte in diesem Konflikt die aufkeimende Liebe zwischen Pamina und Tamino zerrieben werden. Was zum Glück eines harmoniesüchtigen Publikums und vor allem dank der Musik des Genies Wolfgang Amadeus Mozart natürlich nicht geschieht. All das konnte der Zuschauer am 16. Oktober an den Landesbühnen Sachsen erleben, als die mittlerweile fünfte Inszenierung der wohl bekanntesten Mozart-Oper Premiere hatte.

Zwölf Jahre liegt die letzte Inszenierung der »Zauberflöte« am Radebeuler Theater inzwischen zurück. Ein Dutzend Jahre nur, in denen sich die Gesellschaft aber radikal gewandelt hat. Schon von daher wurde es Zeit für eine neue Lesart dieser Märchenoper, die bei näherem Hinschauen eigentlich alles andere als ein Märchen erzählt. Vielmehr ist es eine Art »unendlicher Geschichte« über die zahllosen Wirrnisse innerhalb der Menschengemeinschaft.

Natalie de Montmollin, Norman D. Patzke, Hannah Schlott und Silke Richter (LBS/Martin Krok)

Nicht nur für das Radebeuler Theater ist es ein Glücksfall, dass eine gerade mal 31 Jahre junge Regisseurin sich zugetraut hat, ihre Sicht auf die Probleme der Gegenwart in die wunderbare Musik Mozarts einzubinden, was ihr überzeugend gelungen ist. In Therese Schmidts Inszenierung bleibt die wahre Hölle verschlossen, auch wenn die Königin der Nacht noch so droht und wütet. Die Botschaft lautet eher: Konflikte kann, ja sollte man anders lösen als durch Gewalt und Intrige. Dabei krempelt die Regie die Fabel jenes Wielandschen Märchens aber keineswegs um, das Mozarts Librettist Schikaneder als Vorlage wählte. Sie betrachtet nur alles, was geschieht, aus einem etwas andern Blickwinkel. Das beginnt schon damit, dass der Vogelmensch Papageno aus einer Art Gewächshaus heraus die Szenerie betritt und die »listige Schlange« in Taminos Träumen eher als Plüschtier daherkommt.

Bühnenbild wie auch Kostüme (Stefan Wiel) sind von großartiger Konsequenz geprägt. Zwischen den Akten finden keine Umbauten statt, alles optisch Notwendige wird im Interieur eines einzigen Raumes mit verschiedenen Ebenen versammelt. Hagen Erkrath gibt dem Sarastro nicht nur durch seinen reifen Bass die notwendige Würde. Christina Poulitsi als Königin klettert in ihrer berühmten Arie mühelos die Koloraturtreppe hinauf. Norman D. Patzke ist ein äußerst munterer und auch recht furchtloser Papageno. Die Knabenrollen sind tatsächlich mit Knaben besetzt, die auch wahrhaft gut singen können. Judith Hofmann ist eine bezaubernde Pamina, in die sich Tamino geradezu zwangsläufig verlieben muss. Die Kostüme des Chores wirken zwar durchweg etwas farblos, doch stimmlich bringen die Damen und Herren sich erstaunlich wirkungsvoll ein. Das Orchester unter Stabführung von GMD Michele Carulli unterstreicht mit großartigem Gespür auch für die ganz leisen Töne den guten Gesamteindruck der Inszenierung, die vom Premierenpublikum begeistert aufgenommen wurde.

W. Zimmermann

[V&R 11/2010, S. 18f.]

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