Besuch bei alten Bekannten

Viele bedauern es, aber es ging nicht anders: Sachsens, wahrscheinlich sogar Deutschlands größte Puppentheatersammlung musste das Radebeuler Hohenhaus im Herbst 2003 verlassen. Seither ist die Sammlung von Marionetten, Stab- und Handpuppen sowie Bühnen aus zwei Jahrhunderten, die bekanntlich schon lange zu den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gehört, in einem Seitenflügel der Garnisonskirche an der Stauffenbergallee im Dresdner Norden untergebracht und zurzeit leider nicht zu besichtigen.

Kasper ruft zur Ausstellung im Jägerhof (Foto K. Funke)
Kasper ruft zur Ausstellung im Jägerhof (Foto K. Funke)

Ein gutes Jahr lang war bis Ende Januar eine kleine Schau daraus im Dresdner Museum für Sächsische Volkskunst zu sehen. Weithin sichtbar saß ein langnasiger wetterfester Kasper vor dem 2. Stock des Jägerhofs, um auf sich bzw. die Ausstellung »Kasper – eine deutsche Karriere« aufmerksam zu machen. Wenn der Konservator der Sammlung, Lars Rebehn, erklärt: »Diese Sonder-Ausstellung zeigt nur ein Prozent des Bestandes«, dann kann man sich vorstellen, wie riesig die Sammlung insgesamt sein muss, etwa 100.000 Exponate, schätzt er. Das Gästebuch des Museums am Carolaplatz zeugt jedenfalls von der Begeisterung von Jung und Alt.

Gleich als erster Blickfang war der »subversive Kasper« in einer Art Blechkastenbühne zu sehen, der Hauptdarsteller der Berliner »Gruppe Zinnober«. Zu DDR-Zeiten brachte die Gruppe – in Anspielung auf den damals aktuellen Abenteuerfilm »Jäger des verlorenen Schatzes« – das Stück »Jäger des verlorenen Verstandes« als aktuelle Polit-Satire auf die Bühne. Ein Amateur-Video von damals belegt anhand der vielen Lacher aus dem Publikum, wie gut die Anspielungen verstanden wurden.

Blickfang Blechkasten (Foto K. Funke)

Auf Veranlassung des Dichters und Gelehrten Gottsched ließ die Theaterdirektorin von Leipzig, Caroline Neuber, 1737 die Harlekinfigur symbolisch auf der Bühne verbrennen, um deutlich zu machen: mit ihr ist es vorbei. Um diesen Skandal nachzuspielen, gestaltete Tilla Schmidt-Ziegler genau 200 Jahre später Handpuppen in Kostümen jener Zeit und ließ die Geschichte nachspielen unter dem trotzigen Titel: »Kasper stirbt nicht!«, was zumindest für die Puppenbühne gelten sollte und wohl nach wie vor gilt.

Marionetten Kasper der Familie Ritscher (Foto K. Funke)

Kasper und Co. gibt es in allen erdenklichen Materialien: Holz, Stoff, PVC und Pappmaché. Im 19. Jahrhundert war Holz vorherrschend, vor allem aus dem leicht zu bearbeitenden Lindenholz wurden die Köpfe geschnitzt. Der hierzulande berühmte »Hohnsteiner Kasper« – auch das erklärte die Ausstellung – entstammt der Wandervogel-Bewegung. Deshalb trat der Hohnsteiner Kasper ohne Knüppel auf und überzeugte den Gegner lieber mit Klugheit und moralischen Argumenten. Auch Seppel war dabei, der seinen Freund Kasper immer wieder in heikle Situationen brachte.

Gewöhnlich wird eine Marionette an sieben Fäden geführt, um alle wichtigen Bewegungen zu erzeugen. Beim Kasper waren es aber oft mehr, so dass man ihn auch die Augen rollen und die Kinnlade herunterklappen lassen konnte. Er war damit beweglicher als Prinzesssinnen und Räuber. »Die Führung von Marionetten ist eine Kunst für sich, denn sie sind schwer wie ein Eimer Wasser«, sagte die Museumsmitarbeiterin Frau Friedrich. Im Elbtal war neben Heinrich Apel vor allem die Familie Ritscher bekannt, die um 1930 zu den fleißigsten Gestaltern von Marionetten und Kaspern für Komödien gehörte.

Die Ausstellung ist vorbei (leider), nun wird im Jägerhof umgebaut. Ab Ende November 2010 soll aber die Kasper-Schau hier wieder zu sehen sein. Derweil wird in der Garnisonskirche gezählt, geschrieben, erfasst. Eine Art Volkszählung ist angesagt. Unter dem Namen »Daphne« läuft das Projekt. Alle Puppen und Bühnen werden fotografiert und im Computer registriert. Alle Kollegen helfen mit, auch die Restauratorin Ines Handel. Sie prüft den Zustand der wertvollen alten Puppen und beseitigt nach Möglichkeit die behebbaren Schäden, bevor die Objekte wieder eingewickelt und einsortiert werden. »Zu jeder Figur gibt es eine Geschichte«, erklärt Lars Rebehn. Wenn die bekannt ist, muss sie natürlich mit erfasst werden. Die älteste Puppe ist 220 Jahre alt. Ihr damaliger Besitzer, Franz-Anton Lorgis, soll sie dabei gehabt haben, als er anno 1798 im Schloss Pillnitz vor der königlichen Familie aufspielte.

»Es gibt in Deutschland noch fünf weitere große Puppentheatersammlungen«, sagt Museumsleiter Rebehn, »aber unsere Dokumentation wird einzigartig sein.« Das macht die Dresdner Sammlung so wertvoll. Leider kann sie derzeit nicht von jedermann besichtigt werden, was in Radebeul noch möglich war. Ab und zu gibt es aber auch öffentliche Depot-Vorführungen, so wahrscheinlich zur Dresdner Museumsnacht am 10. Juli und dann noch einmal im Herbst 2010 im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Puppenspiel in der Garnisonskirche«. Auf Anfrage werden zwar auch Führungen gemacht, jedoch momentan nur für Fachpublikum, Archivare, Studenten und Wissenschaftler.

Karin Funke

[V&R 3/2010, S. 13-15]

Ein Schauspieler der leisen Töne

Horst Mendelsohn feierte seinen 80. Geburtstag

Fast zehn Jahre ist es nun schon wieder her, dass Horst Mendelsohn seine Abschiedsvorstellung an den Landesbühnen Sachsen gab, jenem Theater, wo er über vier Jahrzehnte in unzähligen Rollen auf der Bühne gestanden und für die langjährigen Radebeuler Theatergänger immer »irgendwie dazu gehört« hatte. Gegeben wurde Michael Frayns Komödie »Der nackte Wahnsinn«; Horst Mendelsohn war darin in der Rolle eines 70-jährigen Schauspielers zu erleben. Zufall oder nicht – jedenfalls feierte Mendelsohn zwei Tage nach der Premiere am 6. Februar 2000 seinen eigenen 70. Geburtstag. Und längst schon stand für ihn fest: Es wird ultimativ die letzte Spielzeit sein. Mit der ihm eigenen Konsequenz begründete er damals seine Entscheidung: »Ich möchte nicht irgendwann mal hilfsbedürftig auf der Bühne stehen wie manch anderer, der glaubt, nicht aufhören zu können.«

Denen, die ihn in zahlreichen Inszenierungen am Radebeuler Theater und auf der Felsenbühne Rathen erleben konnten, bleiben die Erinnerungen an einen Mimen, der stets mit Akribie an die Erarbeitung seiner Rollen ging. An einen, der noch jenem – mittlerweile längst ausgestorbenen – Schauspielertyp angehörte, der jede neue Rolle als die wichtigste Aufgabe betrachtete.

1960 – ganz am Anfang seines Radebeuler Engagements – war es vor allem die Rolle des Raimund in der »Jungfrau von Orleans« und 1963 die des Mephistopheles im »Urfaust«, in denen der gebürtige Berliner das Publikum von seiner Kunst überzeugen konnte. Der Peachum in der »Dreigroschenoper« kam dazu, der Oberon im »Sommernachtstraum«, Napoleon in »Krieg und Frieden« und zahllose weiter Rollen, nicht zu vergessen natürlich die Figur des Prof. Grey in der unverwüstlichen »Feuerzangenbowle«. Auf seine Laufbahn zurückblickend, sagte Mendelsohn einmal: »Ein Brüller war ich nie!« Ihm lagen die stilleren Charaktere mehr als die lauten.

Einer ganz anderen und viel Engagement fordernden Aufgabe widmete sich Horst Mendelsohn im Herbst 1989. Damals stellte er sich – gemeinsam mit dem heutigen Intendanten Christian Schmidt und dem damaligen Kapellmeister Matthias Liebich – zur Verfügung, als es darum ging, das Theater in einer schwierigen politischen Situation nicht kopflos zu lassen.

Sechs Intendanten erlebte Mendelsohn in seiner aktiven Zeit allein in Radebeul. Sie kamen und gingen wieder, Horst Mendelsohn aber blieb. Die Stadt Radebeul ehrte den Schauspieler am 9. September 2000 mit der Verleihung des städtischen Kunstpreises, unter anderem dafür, dass »er stets seine ganze Kraft und seine Persönlichkeit in den Dienst des Theaters gestellt hat«.

Am 8. Februar feierte Horst Mendelsohn seinen 80. Geburtstag. Dazu im Nachhinein unseren herzlichen Glückwunsch!

W. Zimmermann

[V&R 3/2010, S. 12]

Exkursion zu den Kaditzer Torbögen

In mittelsächsischen Dörfern finden wir bei Zwei- oder Dreiseithöfen gelegentlich noch große, in die Schildmauern zum Anger hin eingelassene Torbögen, meist mit einer kleineren Pforte daneben. Seit wann es diese wehrhaft wirkenden Anlagen gibt, ist nicht genau zu sagen. Man wird kaum fehl gehen, sie schon im Mittelalter als vorhanden anzusehen. Gerade in unsicheren Zeiten kam es für die Bauern darauf an, ihre Familie, Hab und Gut und auch das Vieh zu schützen; Mauern und Tore trugen dazu bei.

Wenn man heute in den Radebeuler Dorfkernen Bilanz zieht hinsichtlich solcher Toranlagen, sieht es sehr unterschiedlich aus. So gibt es am Anger der größten Dorfgemeinde Kötzschenbroda keine alten Torbögen mehr – der Bogen von Altkötzschenbroa 26 (etwa 3 Jahre alt) ist nicht einmal eine Kopie, eher schon die Karikatur eines solchen Bogens. Jedoch hat sich in der Neuen Straße noch ein solcher Bogen erhalten. Um 1900 erkennen wir auf alten Postkarten im Kötzschenbrodaer Oberdorf noch etwa acht Torbögen. Altwahnsdorf hat einen, Altzitzschewig zwei und Altnaundorf drei derartige Bögen (einer davon allerdings in anderer Form, mit Holzdach und geradlinigem Abschluss) – Altradebeul, Serkowitz, Fürstenhain und Lindenau haben dagegen keine (mehr).

Torbögen im Ortsbild von Altkaditz (Foto D. Lohse)

So gesehen ist das südöstlich von Radebeul gelegene Dorf Kaditz (heute Stadtteil von Dresden) mit vier Torbögen reich bestückt. Drei haben Tor und Pforte, einer nur einen Torbogen. Alle Torbögen und eine Pforte sind als Korbbögen ausgebildet, zwei der Pforten haben allerdings Segmentbögen. Während für die Pforten der Mensch als das Maß der Dinge gilt, muss der Torbogen so ein lichtes Maß haben, dass voll beladene Erntewagen passieren können – ca. 3,40 m breit und ca. 3,80 m hoch. Selbstverständlich wird bei solcher Breite nur ein zweiflügliges Tor funktionieren.

Auch für Kaditz kann vermutet werden, dass es früher mehr als die vier Torbögen gegeben hat, leider liegen mir dafür keine entsprechenden Belege vor. Sogar das ansonsten gut recherchierte Sachbuch »Typisch Kaditz«, 2002 herausgegeben vom Verein »Neue Nachbarschaft Kaditz e.V.«, geht auf dieses Thema nicht näher ein. Zumindest bei Altkaditz ist anzunehmen, dass es hier mal einen Torbogen gegeben hat. In die Flankenmauer wurde der Schlussstein – MFE 1751 – eines wohl abgebrochenen Tores als Zitat eingefügt. Auch bei Altkaditz 7 kann neben der Pforte ein Torbogen gewesen sein. Es liegt auch nahe, dass vor allem die Höfe von Großbauern solche Tore hatten. Ein gewisses Repräsentationsbedürfnis kann hier auch eine Rolle gespielt haben. Aufgrund der sparsamen Gestaltung der Torbögen ist die Zuordnung zu Baustilen schwer – das Motiv Korbbogen weist ins 18. Jahrhundert, also in die Barockzeit.

Für Abbrüche von Torbögen sind verschiedene Gründe denkbar, so das Aufkommen landwirtschaftlicher Großtechnik im 20. Jahrhundert, für die die Bögen zu eng waren, die allmählichen Verstädterung der Dörfer und der Rückgang dörflicher Traditionen oder die Tatsache, dass Reparaturen an Torbögen in wirtschaftlich schlechter Zeit schwierig waren. Anderseits könnten zu leicht gebaute Bögen, wo zu wenig seitliches Mauerwiderlager dem Schub des Bogens auf Dauer nicht standhielt, zu Rissbildungen und Schäden geführt haben. Das Entstehen von Rissen im Bogenbereich (ansatzweise ist ein solcher am Torbogen von Altkaditz 14 zu erkennen) kann speziell in Kaditz auch an der Elbnähe – schwankender Grundwasserstand und/oder nicht homogener Baugrund (Schwemmland) – liegen. Umso beachtlicher ist die Tatsache, dass 2010 noch vier Torbögen vorhanden sind!

Ein paar Stichworte zu den einzelnen Bögen:

Altkaditz 4-6 (Foto D. Lohse)

Altkaditz 4/6: wohl nach 1990 neu errichteter, massiver Torbogen, Mauerwerk glatt verputzt, Sockel und Prellsteine aus Sandsteinquadern, Gewände und Schlussstein (JBF 1899) jedoch in Sandsteinfarbe aufgemalt, Abdeckung der Mauer hier in Zink, Torflügel aus braunen, senkrecht gefügten Brettern, oberer Abschluss derselben leicht geschweift, dadurch zwischen Tor und Torbogen etwas Luft lassend. – Im Vergleich ein eher schlechtes Beispiel ohne Originalsubstanz und historisches Flair; die Kopie einer Toranlage ist als Raumabschluss für den doppelt großen Hof dennoch sinnvoll.

Altkaditz 10 (Foto D. Lohse)

Altkaditz 10: massive Wand in zwei verschiedenen Höhen, verputzt außer der Bogenfassung und Randbereichen der Mauer, hier Sandsteinquader, Bogen mit Schlussstein (JGP 1799), Pforte mit Segmentbogen, hier Putzfaschen, Wand oben mit Dachziegeln als Pultdach abgeschlossen, Holztor und Tür senkrecht verbrettert (graugrün) mit Deckleisten (weiß), Öffnung ganz durch Torflügel geschlossen. – Gutes Beispiel der Erhaltung einschließlich der farblichen Behandlung, jedoch zu spielerischer Umgang bei der Sandsteinfreilegung.

Altkaditz 14 (Foto D. Lohse)

Altkaditz 14: gestaffelte Mauerhöhen, Mauern beidseitig in der Tiefe des Grundstücks fortgeführt, völlig verputzt und gestrichen (Hauptfarbe Altweiß, Teile rosa), Sandstein-Schlusssteine (Tor JAP Nr. 28, 1803, Pforte CGF 32), beidseitig Prellsteine vorhanden, Mauer mit Biberschwanzziegeln als Satteldach gedeckt, Tor und Pforte mit senkrecht verbretterten Flügeln (Braun), Oberteil der Torflügel in Lattenwerk aufgelöst. – Sehr gutes Beispiel, jedoch Farbe Rosa untypisch. Sollte die Farbe an den rötlich-braunen Porphyr erinnern, wäre es farblich auch daneben.

Altkaditz 15 (Foto D. Lohse)

Altkaditz 15: auch hier gestaffelte Mauerhöhen, Mauer bis auf charakteristische Sandsteinteile glatt verputzt, Tor und Pforte mit steinmetzmäßig bearbeiteten Sandsteingewänden, die seitlichen Gewände schließen am oberen Ende mit plastischen, kapitellartigen Ziergliedern ab, beide Öffnungen mit bemalten Schlusssteinen (Grund weiß, Rahmung und Schrift blau; Tor JCC 1816, Symbole Dreschflegel und Gabel, Pforte Nr. 11, Symbole Sichel und Messer (?)), Tor mit Prellsteinen, Verdachung mit »Bibern« in Satteldachform, grüne, senkrecht verbretterte Tür und Tor, wobei die Torflügel am Ansatz des Bogens horizontal enden und so der Bogen frei bleibt. – Ebenfalls ein sehr gutes Beispiel, jedoch wirkt die Mauerverlängerung mit inselartig freigelegten Sandsteinen etwas manieristisch. Interessant zu wissen wäre, ob für die Farben der Schlusssteine restauratorische Befunde vorlagen.

Wenn ich mich z.T. auch kritisch zum gegenwärtigen Zustand der Bögen äußere, soll das keineswegs eine Missachtung der bisher von Privatpersonen, Betrieben oder Denkmalpflegern ausgeführten Arbeiten an Mauern und Toren sein. Diese haben auf jeden Fall zum Erhalt dieser dörflichen Anlagen beigetragen und verdienen auch meine Anerkennung. Es sind persönliche Feststellungen eines Denkmalpflegers i.R., Anregungen, dass Gutes ggf. noch besser werden kann.

Dietrich Lohse

[V&R 2/2010, S. 3-6]

Von der Metamorphose einer »Rinnsteinpflanze«

Zur »My Fair Lady«-Premiere an den Landesbühnen

Am Ende – als Ergebnis der turbulenten Ereignisse in London am Beginn des 20. Jahrhunderts – haben sich nicht nur Eliza und ihr Vater Alfred P. Doolittle, sondern auch der Phonetik-Professor Henry Higgins in ihrem jeweiligen Wesen gründlich gewandelt. Glaubt man zumindest auf den ersten Blick. Wenn es denn wirklich so wäre, dann hätte der Dichter und Dramatiker George Bernhard Shaw allerdings seinem Ruf, schärfster Kritiker eben jener Gesellschaft gewesen zu sein, nicht gerecht werden können. Denn das Vorbild für jenen experimentierfreudigen Professor im Musical »My Fair Lady« ist die Figur des Königs »Pygmalion« aus der griechischen Sagenwelt, der aus vielerlei Gründen Frauen nun mal nicht mag, sich aber dann doch in ein Mädchen verliebt, das allerdings nur als elfenbeinerne Statuette existiert. Der Pygmalion des Musicals nun ist jener Professor Henry Higgins. Und der bleibt im Grunde der überhebliche und menschenverachtende Wissenschaftler, der er vor seinem Experiment mit dem Blumenmädchen Eliza schon war. Auch wenn er – als ihm ihre Abwesenheit bewusst wird – fast flehend singt »Ich bin gewöhnt an ihr Gesicht«. Sogar an Elizas versoffenem Vater hat Higgins gefehlt; denn der ist mit seinem gesellschaftlichen Aufstieg zum brillanten Rhetoriker alles andere als glücklich geworden. Higgins selbst vermisst Eliza zwar, doch weniger als die junge liebenswerte Frau, sondern mehr als willfährigen und geduldigen Blitzableiter für seine maskulinen Wutausbrüche. Er nennt sie nun zwar nicht mehr »Drecksstück« und »Rinnsteinpflanze« wie am Anfang seines Unterrichts, dennoch ist sie nach seinem überheblichen Selbstverständnis immer noch ein »unverschämtes Insekt«.

My Fair Lady (Szenenfoto LBS)

Alles in allem ein grandioser Stoff, der seinerzeit geradezu nach einer Vertonung schrie. Zuvor aber kam ein erster Film, 1938 von Gabriel Pascal produziert. Danach erst folgte das Musical, dessen Skript Alan Jay Lerner verfasste und dessen mitreißende Musik Frederick Loewe komponierte. 1956 dann wurde der Film zum Musical »My Fair Lady« fertig mit einer wunderbaren Audrey Hepburn in der Rolle der Eliza Doolittle und einem ebenso trefflichen Rex Harrison als Henry Higgins.

An den Landesbühnen Sachsen in Radebeul erlebte die »Lady« nun am 16./17. Januar 2010 in einer Inszenierung von Horst O. Kupich eine Neuauflage. Antje Kahn konnte dabei in der Titelpartie stimmlich und spielerisch genauso überzeugen wie Michael König in der Rolle des Professor Higgins. Eine ebenfalls ideale Besetzung wurde mit Dietmar Fiedler gefunden, der den trinkfesten und schlitzohrig argumentierenden Alfred P. Doolittle sang und spielte. Falk Hoffmanns Part des in Eliza verliebten jungen Freddy Eynsford-Hill dagegen bleibt blass, was man aber nicht dem Sänger, sondern der Rolle anlasten muss. Und die Figur von Higgins Wettkumpel Oberst Pickering (Jussi Järvenpää) degradierte die Regie leider zu einer Karikatur. Völlig unmotiviert musste er ständig die Hacken zusammenschlagen, Haltung annehmen und salutieren. Dabei ist doch an Dienstgrad und Uniform für jeden ablesbar, dass Pickering vom Militär kommt.

Das Bühnenbild (Stefan Wiel) erweist sich als ausgesprochen variabel. Die jeweilige Szenerie (beispielsweise der Blumenmarkt am Covent Garden) formiert sich hinter einem durchsichtigen Zwischenvorhang. Die Auftritte erfolgen aus einer Art überdimensioniertem Grammophontrichter heraus; links und rechts wird die Bühne dabei von den wuchtigen Schriften Higgins’ (»Higgins Universal Alphabet«) und Pickerings (»Das gesprochenen Sanskrit«) gesäumt. Der recht intensive Einsatz des Balletts (Choreographie: Reiner Feistel) in den Massenszenen rundete das Bühnengeschehen auf erfrischende Weise ab, und das Orchester unter Stabführung von Hans-Peter Preu widmete sich mit Hingabe und Spiellaune all den berühmten Ohrwürmern.

W. Zimmermann

[V&R 2/2010, S. 9f.]

ZEIT-Geist-Fragen 1

Im Magazin der Ausgabe Nr. 51 der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 10. 12. 2009 erschien ein fünfseitiger Artikel von Jana Simon unter dem Titel: »Über den Dächern von Radebeul – Die Stadt bei Dresden ist das Nizza Sachsens. Der Villen wegen leben viele Wohlhabende aus dem Westen hier. Doch die schönen Häuser spalten die Stadt: In Arm und Reich, in Einheimische und Zugezogene.« Die Reportage (nachzulesen unter www.zeit.de/2009/51/Radebeul) ist sicher nicht schlechter als das, was immer wieder in allerhand Blättern und Blättchen über unsere Stadt zu lesen war, seit die Radebeuler Millionäre nicht mehr bis nach England fahren müssen, um sich mal eben einen neuen Rolls-Royce zu holen – besser übrigens, wie schon die, mit Verlaub, reichlich dämlich Überschrift ahnen lässt, auch nicht. Trotzdem scheint das gefühlte Maß des Erträglichen durch diesen jüngsten Beitrag zum immer gleichen Thema voll geworden zu sein. Jedenfalls sahen sich diesmal gleich mehrere Redaktionsmitglieder zu Kommentaren veranlasst:

Radebeul im Brennglas des Maklers

Im Grunde sollte es einer Stadt zur Ehre gereichen, in einer der renommiertesten Wochenzeitungen Deutschlands einen so umfangreichen Rahmen zu erhalten. Als langjähriger Leser des von mir durchaus geschätzten Blattes war ich indes über die ausufernden Plattitüden so peinlich berührt, dass ich mich fragte, wie diese journalistische Schwarzweißmalerei im 20. Jahr der Einheit in dieser Fassung und an dieser Stelle in Druck gelangen konnte. Rückt er doch zum wiederholten Male die Kaste einer überschätzten Schickeria ins Zentrum der Betrachtung, die nach Meinung einiger voneinander abschreibender überregionaler Blätter nunmehr den Geist der Stadt nahezu vollständig beherrschen sollen.

Auch wenn der Beitrag streckenweise um ein differenzierteres Bild der Radebeuler Bürgerschaft bemüht ist, bereiten manche Stellen bloß Kopfschütteln. So ist u.a. zu lesen: »Die Villen von Radebeul – nichts beschäftigt die Einheimischen mehr. Die Villen beherrschen die Gespräche der Stadt« oder: »Radebeul teilt sich nicht nur in oberhalb und unterhalb der Meißner Straße, sondern auch in die Klasse der Hausbesitzer und die Klasse der Nichthausbesitzer. Die Villen sind die Währung der Stadt. Wer kein Haus hat, kann auch nicht richtig mitreden.« Unkritisch wird von jenen gesprochen, die es im materiellen Sinne geschafft haben, und jenen, die es wohl bestenfalls zu einem Mietverhältnis brachten. Ein derartiger Klienteljournalismus unter der Ägide von Millionen, Villen und Luxuslimousinen evoziert in unerträglicher Weise eine klischeehafte »Rosamunde-Pilcher-Idylle«, die der breiten Lebenswirklichkeit am Ort wohl kaum entspricht. Der stolze, wie redundant im Artikel zu lesen ist, Audi A6-fahrende Makler erhofft sich medienwirksam wohl eine neuerliche Taxierung seines Jagdreviers. Ob er sich hingegen als zugezogener Bürger damit einen sympathieträchtigen Dienst erwiesen hat, bleibt zu bezweifeln.

Sascha Graedtke

[V&R 2/2010, S. 11f.]

ZEIT-Geist-Fragen 2

Millionärsstädtchen von Villenbesitzern inspiriert?

Wohl selten hat ein Beitrag so stark die Gemüter der Radebeuler erregt wie dieser. Und selten wurde so deutlich benannt, was West von Ost auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer zu unterscheiden scheint. Wie im Märchen (frei nach Aschenbrödel) werden die Reichen ins Töpfchen und in die Armen in Kröpfchen sortiert. Das Leben kann so einfach sein in Radebeul. Denn die Stadt hat etwas, was Deutschland seit langem nicht mehr hat: Eine Mauer, die entlang einer »Demarkationslinie« verläuft und sich Meißner Straße nennt. Sie trennt in unten und oben, in arm und reich, in Ost und West, in alt und neu. Das Leben kann so einfach sein, betrachtet man es von oben herab. Wäre da nicht dieses große Missverständnis: Die reichen Zugezogenen erwarten Dankbarkeit und die armen Eingesessenen verweigern diese. Die Zugezogenen definieren sich über ihren Besitz, die Eingesessenen über ihr maßloses Anspruchsdenken.

Geschrieben in schönster Eroberungsmanier, bedient der Artikel verstaubte Klischees aus der gutbürgerlichen Mottenkiste. Die dünkelhaft überzuckerten Parolen sind derart zugespitzt, dass sie nur als parodistisch polarisierende Kunststückchen begriffen werden können. Der Irrwitz findet sich nicht nur zwischen den Zeilen. Nein, man kann ihn auch schwarz auf weiß nach Hause (pardon, in die eigene Villa) tragen. Da wird behauptet »Die Villen sind das höchste Gut Radebeuls. Sie sind die stillen Herrscher der Stadt.« oder »Wer kein Haus hat, kann auch nicht mitreden.« Aber wer will schon mitreden, wenn das Gespräch keinen Inhalt hat? Und wer will sich schon gern von einem Immobilienmakler als Werbegag bei einer medienwirksamen Verkaufsaktion verwursten lassen?

Doch auch ein Immobilienmakler hat ein weiches Herz und ein feines Gespür für Kultur, was die Saga belegt. »Als er das erste Mal in die Stadt kam, im Winter 1990, war Beck von den Villen bezaubert. […] In seiner Heimat Hamburg war alles schon verteilt. Radebeul, der Osten, lag vor Jens Beck wie eine riesige leere Bühne. Er musste sie nur noch bespielen. […] Wenn sich die alten Eigentümer nur schwer von ihrem Heim lösen können, lässt Beck die Villen für sie malen.« Auch Gussy Hippold, eine Dix-Schülerin, zu deren 100. Geburtstag die Stadt Radebeul im März eine Ausstellung zeigen wird, hätte wohl ihre Freude daran gehabt zu lesen, dass sich in der Villa »Sorgenfrei«, wo sie mit ihrem Mann Jahrzehnte künstlerisch tätig war, die neue Radebeuler Elite zur »Pullerparty« trifft.

»Jens Beck hat zurzeit nur ein Problem: Die Häuser werden knapp. Der Kampf um die letzten Villen von Radebeul hat begonnen.« Und weiter heißt es im Text: »Die schönsten, größten Villen gehören fast alle Zugezogenen aus dem Westen.« Die Antwort der Bürger lautet: Na und? Die Villen wurden aufwendig saniert. Sie prägen das Bild der Stadt. Die Radebeuler – ob Einheimische oder Zugezogene – erfreuen sich beim sonntäglichen Spaziergang daran. Die kulturelle Szene lebt in und außerhalb der Villen, mit und ohne Hausmusik. Und sollte es eine »Demarkationslinie« geben, dann verläuft diese wohl eher in den Köpfen einiger Weniger. Nur gut, das sie nicht sichtbar ist!

Karin Gerhardt

[V&R 2/2010, S. 12f.]

ZEIT-Geist-Fragen 3

Die da oben und die da unten…

Schachspieler wissen am ehesten, was eine Demarkationslinie ist. Unter den vier Siegermächten, die Deutschland nach dem 2. Weltkrieg aufteilten, erreichte der Begriff eine ähnliche strategische Bedeutung, doch eine weit größere und langwierigere Dimension.

Wann allerdings die Radebeuler »Demarkationslinie« entstanden sein soll, bleibt im Dunklen verborgen. Und selbst die unzähligen bisherigen Namenspatrone der einstigen und heutigen Meißner Straße sind heute nicht mehr zu befragen. Nicht jener uniformierte Diktator und selbsternannte »Führer«, nicht »Väterchen Stalin« und auch nicht der greise 1. Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, dessen Namen die Straße bis 1989 trug.

Glaubt man aber nun den beiden forschen ZEIT-Journalisten, dann wohnt das Radebeuler Bettelpack unterhalb dieser Straße und der Radebeuler Geldadel oberhalb. Das zu wissen scheint zweifellos unverzichtbar, will man ein Radebeuler Lebensgefühl richtig beschreiben. Glaubt zumindest die ZEIT! Ob deren Mitbegründerin Gräfin von Dönhoff oder Altkanzler Helmut Schmidt die gewählte Herangehensweise wirklich toleriert hätten bzw. haben, sei dahingestellt. Ebenso die Hoffnung der Schreiber, dass ihrem Glauben auch die Radebeuler folgen werden. Normalerweise müsste nach Veröffentlichung dieses Artikels längst das große Umziehen im Gange sein. Denn welcher Manager, Banker oder Immobilienmakler lässt sich schon gern in die eine Kategorie einordnen, wo er doch glaubt, längst zur anderen zu gehören.

Erstaunlicherweise aber rollen noch immer keine Umzugs-LKW. Daher muss zur Ehrenrettung vieler wohlhabender Neuradebeuler wohl gesagt werden, dass es ihnen vollkommen schnuppe ist, ob sie nun direkt unterhalb der Weinberge oder in der Nähe des Elbufers leben. Beides hat sowohl Vor- wie Nachteile. Und daran kann die Bezeichnung »Demarkationslinie« rein gar nichts ändern. Es sei denn, die oben ziehen irgendwann mal entlang der »Meißner« einen Stacheldrahtzaun und hängen daran Schilder auf mit Mahnungen wie »Zutritt nur mit Einkommensnachweis bzw. Kontoauszug ab 1 Million € aufwärts!«. Dann wäre der soziale Friede endlich fest zementiert, der Begriff »Demarkationslinie« rechtens und Ausreden zählten ab sofort nicht mehr.

Um solche Missverständnisse von vornherein auszuschließen, haben sich die ZEIT-Journalisten in ihrem Beitrag selbstverständlich auf die »üblichen Verdächtigen« konzentriert: einen Luxusimmobilienhändler, einen cleveren Schlossbesitzer als Vermieter und eine Autohausbesitzerin, deren unterste Preisklasse bei ca. 150.000,– € liegt. Sehr ausführlich kommen also vor allem jene zu Wort, deren Wege zum Wohlstand meist ziemlich unangenehm duften. Nicht hinein in die weitere Aufzählung gehört der jetzige Besitzer von Hohenhaus, weil der in Radebeul längst heimisch geworden ist und sich auch entsprechend einbringt. Dass die Kommunalpolitik durch den amtierenden OB zu Wort kommt, entspricht sozusagen einem ganz normalen Akt der Höflichkeit. Zum echten Härtefall aber wird das beschriebene Leid einer zugunsten einer Luxussanierung aus ihrer Wohnung vertriebenen Altradebeulerin. Wo aber bleibt die Recherche der ZEIT-Journalisten beim und über den Vertreibenden, jenen Luxussanierer nämlich. Weil gerade darauf die Antwort fehlt, wirkt die beschriebene Tragik wie ein ziemlich hilfloser Versuch, die eigentliche Tendenz dieser Radebeul-Beschreibung zwanzig Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung zu verschleiern. Eine Tendenz, die den Neid fördert und damit dem sozialen Unfrieden Tür und Tor öffnet. Im Übrigen suchte das Journalistenteam auch einen Radebeuler Kunstpreisträger und engagierten Denkmalschützer auf. Der stellte vor seine Antwort die Gegenfrage: »Wie sind Sie auf Radebeul gekommen?« Worauf man einen Moment herumdruckste, um dann in aller Schlichtheit zu erwidern: »Der FOCUS hat über Radebeul geschrieben, da wollten wir das auch mal tun!« Das jedenfalls war wirklich eine ehrliche Antwort.

W. Z.

[V&R 2/2010, S. 13f.]

100 Jahre Vor|Stadt|Geschichte – Die Lößnitz 1835-1935

1835 war die Lößnitz eine vom heraufziehenden Fortschritt praktisch noch unberührte Weinbaulandschaft, in der sich acht alte Dörfer und Dörfchen und ein paar Dutzend Weingüter malerisch verteilten. Radebeul gehörte eher zu den Dörfchen. Unbestrittener Hauptort war der Marktflecken Kötzschenbroda mit frisch renovierter alter Kirche, zweieinhalb Stunden von Dresden entfernt.

Im gleichen Jahr wurde die »Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie« gegründet. Der Bau dieser ersten deutschen Ferneisenbahnstrecke, von der die Lößnitz das Glück hatte, durchschnitten zu werden, und die sächsischen Reformen jener Jahre – u.a. ist da die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung auch auf dem Lande durch die Gemeindeordnung von 1838 zu erwähnen – läuteten eine Zeit tief greifender Veränderungen ein. Hundert Jahre später war die Vereinigung der Lößnitzgemeinden zur »Industrie- und Gartenstadt« Radebeul vollzogen. Dieses »neue Radebeul« hatte mehr Einwohner als heute und achtmal so viele wie die Lößnitz 1835.

Bei der Ausstellungseröffnung am 8. Januar 2010 (Foto K. Gerhardt)

Die goldenen Jahre des »Sächsischen Nizza« waren zum Zeitpunkt des Zusammenschlusses von Kötzschenbroda mit Radebeul am 1. Januar 1935 schon wieder Geschichte. Diese goldene Ära hatte etwa mit der Reichseinigung 1871 begonnen und bis zum Ersten Weltkrieg gedauert. Es war die Periode des Baubooms und der Industrialisierung, die Blütezeit des Kurbetriebs, des Fremdenverkehrs und des bürgerlichen Vereinswesens in der Lößnitz. Damals entstanden die neuen städtischen Kerne von Kötzschenbroda und Radebeul (ohne dass diese Gemeinden zunächst irgendwelche städtischen Ambitionen hegten). Damals wurde die grundlegende Infrastruktur der öffentlichen Daseinsvorsorge geschaffen, die großen Schul- und die schönen Rathäuser gebaut.

Mitten in dieser Zeit wurde auch der Wunsch nach Vereinigung mehrerer, wenn nicht aller Lößnitzgemeinden zu einem größeren Gemeinwesen lauter. – Von außen gesehen erschien die Lößnitz ohnehin schon als eine große zusammenhängende »Vorstadt der sächsischen Residenz«. Die schrittweise Umsetzung dieser Bestrebungen blieb schlechteren Zeiten vorbehalten; wachsende Aufgaben und die Not der öffentlichen Haushalte sowie die Abneigung gegen eine Eingemeindung nach Dresden schweißten zusammen. Vollendet wurde die Vereinigung dann in der allerschlechtesten Zeit. Mit Gewalt brach man eine erst fast reife Frucht vom Baum, die in den hundert Jahren davor gewachsen war.

Viel reifer wäre sie vermutlich nicht mehr geworden, denn 1935 war die Stadt praktisch fertig. Danach passierte lange nicht mehr viel, oder zumindest nicht mehr viel Gutes. Auch die großen Wunschträume, die in den Vereinigungsdiskussionen der 20er Jahre immer wieder eine Rolle gespielt hatten (eine hemmende übrigens – viele sahen damals vor allem die drohenden Kosten…) sind entweder erst Jahrzehnte später (z.B. die Schwimmhalle) oder bis heute noch nicht (oder noch nicht ganz) Wirklichkeit geworden: die Elbbrücke, das zentrale Rathaus, eine halbwegs vernünftige Straße nach Wahnsdorf etc. Der letzte große öffentliche Neubau für lange Zeit war das Sparkassengebäude Kötzschenbroda, das gerade saniert wird, eingeweiht im Dezember 1934.

1835 – 1935. Einige wesentliche Entwicklungen dieses dynamischsten Jahrhunderts unserer Stadtgeschichte werden in der ersten »Ausstellung im Depot« auf etlichen Schautafeln und in ausgewählten Sachzeugen aus öffentlichen und privaten Sammlungen vor Augen geführt. Jedes der angeschnittenen Themen ließe sich vertiefen, viele, ebenfalls bedeutsame Aspekte mussten aus Platz- oder Zeitgründen unberücksichtigt bleiben, zu manchem war auch schlicht nichts Vorzeigbares zu finden. Aber: Diese Ausstellung ist ja auch nur als ein Anfang gedacht, der den Facettenreichtum der Radebeuler Stadtgeschichte ins Blickfeld rücken soll. Weitere Ausstellungen können folgen und vielleicht sogar nicht nur alle »Jubeljahre« einmal.

Dafür ist die kleine AG Stadtmuseum – hervorgegangen aus einem großen Museumsbeirat – auf Unterstützung angewiesen, z. B. durch neue Mitstreiter, Hinweise auf interessante potentielle Exponate in privater Hand oder die Bereicherung der städtischen Sammlungen, die in diesen Räumen ein gutes neues Domizil gefunden haben, um Dokumente aller Art zur Radebeuler Geschichte. Über entsprechende Angebote würden wir uns freuen.

Frank Andert

Die Ausstellung ist bis Jahresende im Obergeschoss des Hintergebäudes (Neubau) der Roseggerschule, Wasastr. 21, zu sehen.

[V&R 2/2010, S. 15f.]

Das Sparkassengebäude in Radebeul-West

Zur Eröffnung der letztjährigen Radebeuler Bauherrenpreisverleihung brachte Rainer Schikatzki, Vorstandsmitglied der Sparkasse Meißen, das eigene Unternehmen gleich mal coram publico als heißen Anwärter auf eine der begehrten Plaketten des Jahrgangs 2010 ins Gespräch. Das Geldinstitut saniert derzeit seine Filiale in Radebeul-West. Nach Fertigstellung soll es dort in helleren Räumen nicht mehr nur Bares geben, sondern auch Kaffee und die Möglichkeit zum Surfen im weltweiten Netz. Die Hälfte der gesamten Bausumme von gut zweieinhalb Millionen war im November schon ausgegeben. Wie Schikatzki betonte, gingen die meisten Aufträge an Baubetriebe aus der Region.

Das Stadtbankgebäude Kötzschenbroda kurz nach der Einweihung

Bei der Gelegenheit hätte sich auch ein Blick in die Geschichte gelohnt, denn fast auf den Monat genau 75 Jahre vorher, am 10. Dezember 1934, war das damalige »Stadtbankgebäude Kötzschenbroda« nach knapp neunmonatiger Bauzeit feierlich eingeweiht worden. Bei Errichtung des vom Kötzschenbrodaer Architekten Edmund Kießling geplanten »größten städtischen Gebäudes der Lößnitz«,  ausgeführt »in den schlichten Formen des so genannten Lößnitzer Barock«, waren auch damals bewusst fast nur ortsansässige Firmen zum Einsatz gekommen. An die 100 Handwerksmeister und ihre Gesellen hatten mitgebaut.

Der Bau war eine der ersten großen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Nazizeit in der Lößnitz, die ersten Planungen reichten aber schon gut zehn Jahre zurück. Bereits bei der Vereinigung der westlichen Lößnitz 1923 hatte das Projekt eine Rolle gespielt. Wie der Kötzschenbrodaer Bürgermeister und Verwaltungsratsvorsitzende der Spar- und Girokasse Dr. Wilhelm Brunner bei der Einweihung – seinem letzten großen öffentlichen Auftritt – betonte, konnten die Gesamtkosten von damals 440.000 Reichsmark ohne weiteres aus dem liquiden Barbestand der örtlichen Sparkasse bestritten werden. Diese sparte nun Miete und konnte durch den Neubau fortan selbst auf erhebliche Mieteinnahmen rechnen. Neben den Bankräumen waren 14 Wohnungen sowie modern ausgestattete neue Domizile für das »Ratskeller«-Restaurant und die Stadtbücherei entstanden. Eine ganze Etage bekam die örtliche NSDAP für Bürozwecke, auch »ein neuzeitlicher und zeitgemäßer Luftschutzraum« war nicht vergessen worden, und auf Kunst am und im Bau hatte man großen Wert gelegt, wie noch heute die in doppelter Hinsicht hervorragenden Reliefs von Burkhart Ebe belegen.

Ob der Umbau des Baudenkmals die Plakette verdient, wird, eine ordnungsgemäße Einreichung vorausgesetzt, im Herbst – wie immer – eine fachkundige Jury entscheiden.

F. A.

[V&R 2/2010, 3. US]

Wo Hausknisterer, Müllranfte und Knatterlinge wohnen

Der Radebeuler Autor Christian Grün erzählt Geschichten um ein »altes Haus«

In jenem alten Haus in Radebeul lebt auch Morimutz, die Waschhausmaus. Und die wiederum beneidet seit langem schon die Spinne Thekla um deren zahlreiche Beine. Um wie vieles schneller könnte sie selbst doch laufen, hätte sie auch so viele Beine. Ergo schlägt Morimutz der Thekla einen Tauschhandel vor; ihre vier Beine gegen die acht. Der Handel kommt zustande, funktioniert aber in der Praxis überhaupt nicht. Denn Morimutz ist mit acht Spinnenbeinen alles andere als flinker und auch Thekla merkt, dass nur vier Mäusebeine ihren täglichen Speiseplan ganz schön durcheinander bringen. So machen sie alles wieder rückgängig und sind beide wieder glücklich.

Geschichten wie diese können wohl nur in einem alten Haus passieren. Dort nämlich, wo außer den Tieren auch die Hauswichtel ihr Domizil haben. Und die »Hausknisterer«, die für das Knarren der Dielen verantwortlich sind. Und die »Müllranfte«, die immer nur als Trio auftreten und den Müll nach Verwertbarem durchsuchen. Oder die Knatterlinge, die im Auspuff des Autos leben; und und und …ihnen allen und vielen anderen mehr kann man jedenfalls im neuen Buch des Radebeuler Autors Christian Grün begegnen, dem er den Titel »Der kleine Kuckuck« gab. Grün erzählt in seinem Buch mit unerschöpflicher Phantasie Geschichten, wie es sie in dieser Art in der Literatur scheinbar längst nicht mehr gibt. Und er nährt ein Gutteil dieser märchenhaften Geschichten aus seiner eigenen Radebeuler Kindheit. Denn das »alte Haus« ist zugleich das Haus seiner Kinderjahre. Illustriert wurden die Geschichten von dem Radebeuler Maler Edgar Kupfer und erschienen sind sie dieser Tage im Radebeuler Notschriftenverlag.

Christian Grün ist ein Radebeuler des Jahrgangs 1957, der mit 26 Jahren von der damaligen Bundesregierung freigekauft wurde, bis in die 1990er Jahre in Norddeutschland lebte und in unterschiedlichsten Berufen arbeitete und nach der deutschen Wiedervereinigung nun wieder in Radebeul angekommen ist. Der Notschriftenverlag verlegte u.a. seine »Chronik von Serkowitz« und auch den fantasievollen Roman »Kokeros«.

Das Buch »Der kleine Kuckuck« ist für den engagierten Verlag von Jens Kuhbandner insofern ein Novum, weil davon zeitgleich mit dem gedruckten Werk eine Hörbuch Doppel CD erschienen ist. Darauf liest der Rundfunksprecher Uwe Behnisch Grüns Geschichten und wird dabei musikalisch begleitet von dem Radebeuler Duo »LAND ÜBER«. Das Buch kostet 12,50 € und das Hörbuch 14,80 €

W. Zimmermann

[V&R 1/2010, S. 8]

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