Werkbericht zur Werkstattfertigung und Montage des Sgraffito-Putzschnittes

„Rekonstruktion Putzschnitt Turnerweg 1 nach Hermann Glöckner“ 2021

Aufbewahrte Bruchstücke das Glöckner-Originals
Foto: R. Bialek


2019 sind der Besitzer, Herr Herrmann (Firma Ventar Immobilien) des zum Wohnbau umgestalteten AWD Klubhauses und die Architektin Frau Kulke an mich mit dem Anliegen der Lösungssuche für die Wiederherstellung des unter Denkmalschutz stehenden Putzschnittes an mich herangetreten. Um ein schlüssiges Gesamtkonzept zu erstellen, habe ich wie am Gasthof Reichenberg auf die Zusammenarbeit mit den Kunstmalern, Grafikern und Restauratoren Reiner und Ekkehard Tischendorf gesetzt. Da es der Bauherr ablehnte, das neue Werk wieder fest verbunden im Mauerwerk direkt am Ort umzusetzen, haben wir nach einer Lösung für ein „Fertigteil“ suchen müssen. Allein die Größe des Putzschnittes mit 3,7 x 1 m war eine Herausforderung. Gefunden werden musste eine Lösung hinsichtlich der Trägerplatte und der künstlerischen Machbarkeit. Bezüglich der Platte hat sich eine Zusammenarbeit mit der TU Dresden, Institut für Baustoffe angeboten. So konnten wir eine Betonplatte entwickeln, die nur 3 cm dick ist und den umlaufenden Rand mit integriert. Durch diese Randverstärkung in der Optik des alten Putzrahmens und entsprechender Karbonfaserstab-Bewehrung haben wir genug Steifigkeit und damit auch Transportfähigkeit erreichen können. An dieser Stelle sei dem Team von Dr. Butler noch einmal herzlich gedankt!

Betoniervorgang
Foto: R. Bialek


So vergingen über die Vorplanung, den Bau eines universell einsetzbaren Spezial-Schalungstisches und die Verfeinerung des technologischen Ablaufes die Monate. Im April 2021 war es dann soweit und wir konnten die Platte betonieren und nach Wochen der Trocknungszeit und Nachbehandlung in unserer Halle transportieren und zum künstlerischen Teil übergehen. Die Platte wurde nun in Arbeitshöhe senkrecht aufgestellt und gesichert.

Putzaufbau in Freskotechnik
Foto: R. Bialek


Letzte Abstimmungen mit der Unteren Denkmalschutzbehörde in Großenhain konnten im Sinne absoluter Gegenseitigkeit erfolgen.

Schneidvorgang
Foto: R. Bialek


Durch die Dokumentation und Sicherung der „kläglichen Überreste“ des Originals durch die Restauratoren Gruner und Schmidt im Jahr 2010 konnten wir mit einiger Sicherheit in der künstlerischen Umsetzung der Rekonstruktion agieren. Denn so war zumindest der Aufbau der verschiedenfarbigen Putzlagen und der Duktus H. Glöckners nachvollziehbar. Unter anderem angedacht war auch ein zusammenpuzzeln wiederverwendbarer Teile und deren Integration in das neue Werk. Diese Idee musste aber aus Kostengründen verworfen werden. Die Teile hätten einer Entsalzung mit zweifelhaftem Ergebnis unterzogen werden müssen. Auch das erzielbare Gesamtergebnis war nicht klar kalkulierbar und damit nicht vermittelbar.

Pudervorgang durch Lochpause
Foto: R. Bialek


Vier Putzlagen und eine Haftbeschichtung auf dem Beton waren herzustellen. Haftschicht und Kalk-Zement-Unterputz bekamen genug Zeit, um zu abzubinden. Diese wurde in der Hauptsache durch die Herren Tischendorf genutzt, um die zeichnerische Vorlage und die Lochpause auf Spezialkarton anzufertigen. Mit einem weitgehend verzerrungsfreien Bild der deutschen Fotothek konnte die Genauigkeit verfeinert werden. Die nahezu perfekte Lochpausvorlage zu erstellen, wurde zum Geduldsspiel und kostete noch einmal Zeit und Nerven. Putz- und Farbproben wurden erstellt und die Entscheidung fiel für einen Werksmörtel der Firma Baumit.

Verladung
Foto: R. Bialek


Doch dann kam der große Tag und ab 5 Uhr morgens wurden die 3 farbig (Rot, Ocker, Sandfarben) eingestellten Putzlagen von je ca. 1 cm Dicke in freskaler Folge aufgetragen. Absolute Exaktheit in Putzdicke, Ebenheit, Oberfläche und passender Abfolge waren erforderlich und haben Zeit bis zum Mittag in Anspruch genommen. In altdeutscher Reibetechnik mit einem Holzbrett kommt die Oberfläche in ihrer Textur jetzt dem Original fast gleich. Gegen 15 Uhr war die Steifigkeit der Putzlagen groß genug, um die Lochpause auflegen zu können. Ganz traditionell mit Holzkohlepulver im Stoffsäckchen wurden die Konturen der Ornamentik auf den frischen Putz gepudert. Nun erschien schon einmal das Bild in voller Größe. Mit hoher Konzentration konnte nun entlang der Konturen geschnitten werden. Nach Vorlage jeweils bis in die obere oder bis in die mittlere Putzlage. Auf Schrägstellung der Kanten war zu achten und auf gewissenhaftes Abtragen der ausgeschnittenen Putze, sowie auf gleichmäßiges Strukturieren der verbliebenen tiefer in 2 Ebenen liegenden Oberflächen. Zwischendurch immer wieder Abgleich mit der Vorlage und den Originalteilen. Ein grober Fehlschnitt und alle Arbeit war umsonst! So war es dann Mitternacht, als der letzte Handgriff getan war. Reiner und Ekkehard Tischendorf freuten sich mit mir ganz still über das augenscheinlich gelungene Werk!

Am Einsatzort
Foto: R. Bialek


Tage der Nachbehandlung und Abbindezeit vergingen. In dieser Zeit fiel die Abstimmung mit dem Statiker des Bauherren zur Technologie der Befestigung am Objekt. Unser Vorschlag, mit starken Edelstahlwinkeln zu agieren fand Anklang und diese wurden dann vom Edelstahlbau Robert Rudolph gefertigt und gebohrt. Nach dem Gerüstbau am Einsatzort konnten die Stahlteile vormontiert werden. Aber waren die Teile und die Betonplatte wirklich im Gleichklang? Würde die Kranmontage auf Anhieb gelingen? Es wurde also noch einmal spannend. Genau wie der Transport aus unserer Halle in Coswig auf den Turnerweg in Radebeul Ost. Diesen Part hat die Firma Metallbau Große aus Kötzschenbroda übernommen und mit Bravour durchgeführt. Die Kranmontage am 16.07.2021 war ein voller Erfolg. Die Platte mit ihren 530 kg Gesamtgewicht nahm exakt ihren vorgesehenen Platz an historischer Stelle ein. Kleine Nacharbeiten am Betonrahmen und das Gerüst konnte abgebaut werden.

Geschafft!
Foto: R. Bialek


Gemeinsam mit Alexander Lange vom Kulturamt unserer Stadt konnten wir uns nun guten Gewissens ein Glas Sekt genehmigen!

Mein herzlicher Dank gilt all jenen, die an diesem Projekt mitgewirkt oder es auch nur wohlwollend begleitet haben! Besonders gilt der Dank natürlich dem Bauherren, der Architektin und meinen Mitstreitern R. und E. Tischendorf. Aber auch und ganz besonders meiner lieben Frau, die mir wieder einmal den Rücken freigehalten hat und eine unentbehrliche Hilfe war!

Es war uns eine große Ehre, wieder einmal auf den Spuren Hermann Glöckners zu wandeln und die kulturelle Vielfalt Radebeuls um ein weiteres Puzzleteil zu bereichern!

Robert Bialek

Darf ich vorstellen? Der Theatermann Maximus René


Den meisten Radebeulern werden die Namen Clara Salbach oder Ernst Edler von Schuch geläufig sein. Die bekannte Hofschauspielerin und der Generalmusikdirektor bewohnten Anfang des 20. Jahrhunderts Villen in unserem heutigen Radebeul. Es waren aber nicht die einzigen Mitglieder der Königlich Sächsischen Hoftheater, die das milde Elbklima und die Schönheit der Lößnitzorte schätzten. Immer wieder zog es Künstler und Musiker hier heraus. Einen, der es erst seit kurzem wieder ins Radebeuler Gedächtnis, ins neue Stadtlexikon, geschafft hat, ist der königlich sächsische Hofschauspieler Maximus René (bürgerlicher Name: Maximus Ottowa-René).

Geboren in Böhmen, riss René mit 16 Jahren zu Hause aus und schloss sich zum Ärger seiner Eltern einer durch die Dörfer tingelnden Theatergruppe an. Er war talentiert und so folgten schon bald eine kurze Ausbildung und Engagements an verschiedenen Theaterhäusern. Auch die Königlich Sächsischen Hoftheater wurde auf den jungen Mann aufmerksam und holten ihn 1898 nach Dresden. Eine steile Karriere für den 25jährigen, der sich im Schauspielhaus am Albertplatz als Bonvivant in die Herzen der Dresdner Zuschauer spielte. Hofschauspieler zu sein, war mit das größte, was man als darstellender Künstler erreichen konnte. Nicht nur langfristige Engagement-Verträge, hohe Gagen und eine Pension wurden geboten. Auch die Aufführungen selbst waren von höchster Qualität. Dresden konnte sich mit Kulturmetropolen wie Berlin oder Wien messen!

Kgl. Sächsischer Hofschauspieler Maximus René, 1910
Foto: Gebr. Scheizel Dresden


Renè wurde bei den Sachsen bald heimisch und erwarb 1904 mit seiner späteren Frau, der Schauspielerin Franziska Wolbach-Hilpert, ein Zillerhaus in Serkowitz. Ein Platz zum Wohlfühlen und Familie gründen. Das Radebeuler Adressbuch verrät, dass René einer der ersten Einwohner war, der einen Telefonanschluss besaß. Auch ein Privileg der Hofschauspieler. Die Generaldirektion der Hoftheater wollte ihre Künstler rund um die Uhr erreichen. Wie oft das Telefon wohl in Serkowitz schellte? Dann hieß es für René nach Dresden eilen, eine Probe war spontan angesetzt oder ein kranker Kollege musste vertreten werden.

Foto: O. Rothe Dresden


Mit Mitte 30 war René bereits auf der Karriereleiter weit nach oben geklettert. Das Leben hätte so schön sein können, doch dann stellten sich Zweifel ein. Wollte er nur für das betuchte Großstadtpublikum spielen? Eine Idee formte sich in seinem Kopf. Die Idee, solch gutes Theater für das ganze Volk zu machen. Nichts Besonderes, werden Sie jetzt sagen. Damals war der Gedanke jedoch ein Novum. Hochwertiges Theater konnten sich nur betuchte Städter leisten. Für alle anderen blieben Possen und Schwänke, mehr schlecht als recht von mittelmäßigen Schauspielern aufgeführt. Es lag aber nicht nur am schmalen Geldbeutel. Man sprach den einfachen Menschen auch ab, Goethe, Lessing oder Ibsen zu verstehen. Schmierentheater, nannte es René, was man ihnen stattdessen bot.

Er war überzeugt, dass alle Menschen zum Hineinleben in die Kultur ihres Volkes erzogen werden mussten und das von Jugend auf. Er sah das Wissen eines Volkes in Form von Werten, Tugenden und Moral in den Werken der großen Dichter. Hier lernte der Mensch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wahr und falsch. René war überzeugt, dass gerade das Theater aufgrund seiner Lebendigkeit, Unmittelbarkeit und Intensität eine herausragende Wirkung erzielte. Das gemeinsame Erleben riss die Theaterzuschauer mit und ein Gemeinschaftsgefühl bildete sich heraus. Im Ergebnis sah er den gebildeten Menschen, der zum politisch mitwirkenden Staatsbürger wird und die Werte seines Volkes mitträgt. Ein interessanter Gedanke, wie ich finde.

Und dann bot sich René die Gelegenheit! Als der König 1909 beschloss, ein neues Schauspielhaus an der Ostra-Allee zu bauen, kündigte René seine Stellung am Hoftheater und verließ Radebeul Richtung Dresden. Mit den Worten „Ich will ein Theater schaffen, das Werke aller deutschen Dichtkunst aller Zeiten als Bildungs-, Belehrungs- und Erholungsmittel bietet und zwar in künstlerisch erstklassigen Darbietungen!“ bewarb sich um die Leitung des freiwerdenden Theaters am Albertplatz. Er überzeugte und eröffnete mit großem Erfolg als Direktor im Oktober 1913 mit Raimunds „Verschwender“. Unter verschiedenen erfolgreichen Aufführungen brachte er mit nachhaltigem Eindruck „Die Weber“ von Hauptmann auf die Bühne. Ein unglücklicher Konflikt mit dem neuen Eigentümer, der Albert-Theater-Aktiengesellschaft, beendete vorzeitig sein Wirken.

Mit Ausbruch des Krieges stellte sich René und seine Frau in den Dienst des Roten Kreuzes und zog mit einem Thespiskarren und einer Handvoll Gleichgesinnter die Frontlinie entlang, gab Soldaten aufmunternde Stücke zum Besten.

Im November 1918 kam René nach Dresden zurück. Armut und Hunger überall, die Kunst lag durch den Krieg am Boden. Dazu die Spanische Grippe, Theater und Schulen mussten kurzzeitig schließen. Eine Zeit, die der Kunst viel abverlangte. Auch uns hat die Pandemie vor kurzem jegliche Kultur genommen. Wir wissen, wie es sich anfühlt, ohne Theater, Konzerte, Ausstellungen oder Lesungen zu leben, wie geistige Impulse fehlen. Viele haben sich mit den Corona-Gewohnheiten arrangiert und gemerkt, wie einfach es durch Streaming-Dienste ist, sich Unterhaltung ins Wohnzimmer zu holen. Nun befürchtet man, dass nach der gegenwärtigen, starken Kulturnachfrage auch eine Flaute kommen könnte, weil die Menschen gelernt haben, auch ohne Kultur auszukommen. 1918 war es so. Der Kriegsalltag und der ständige Kampf ums Überleben bestimmten den Alltag. Die Kunst wieder zu erwecken, dem hatte sich damals der Künstlerhilfsbund verschrieben. Gemeinsam mit den Leitern des Bundes, Otto Schambach und Alfred Waldheim, kam René eine grandiose Idee. Mit einer Wanderbühne wollte er die Provinz Sachsen bereisen und (wie sollte es anders sein) die großen Dichterwerke gut inszeniert ins Land bringen.

So war sie geboren, die Sächsische Landesbühne. Ja, lieber Leser, Sie lesen richtig: Maximus René gründete die Sächsische Landesbühne! Welche Namensähnlichkeit zu unserer Landesbühne Sachsen! Und auch darüber hinaus weisen die Theater Ähnlichkeiten auf, obwohl sie nicht aufeinander aufbauen.

Am 19. Februar 1919 startete Renés Reiseunternehmen. Unterstützt von den Kommunen tourte das Reisetheater per Eisenbahn und später per sonderangefertigtem Daimler-Benz- Kraftwagenzug durch die Kleinstädte Sachsens, wie Bad Elster, Großenhain oder Riesa. Der kettenrauchende René wählte die Stücke aus, führte Regie, hielt seine Künstlertruppe väterlich zusammen und spielte selbst mit. Viele belächelten ihn. Er würde keinen Erfolg haben, sagten sie. Die Provinzbevölkerung würde klassische Werke der Weltliteratur nicht wertschätzen. Doch weit gefehlt: Faust, Minna von Barnhelm, Sappho, Othello, Die lustigen Weiber von Windsor, Don Carlos, Raub der Sabinerinnen – Dramen, Tragödien, Schauspiele, Lustspiele, Komödien standen auf seinem Spielplan. Dreistündige Vorführungen von „Nathan der Weise“ verzauberten Kinder und Erwachsene und ernteten reichlich Applaus. René war am Ziel seiner Träume.

Ein Nomadenleben war der Preis. Das ganze Jahr unterwegs, nur im Sommer ein paar Wochen im Quartier in Olbernhau. Aber auch da hieß es arbeiten, die neue Saison musste vorbereitet werden. So kann nur ein Idealist leben. Was für ein Glück, dass er in seiner Frau eine Seelengefährtin fand.

Der Kulturkritiker Dr. Felix Zimmermann brachte Renés Lebenswerk schon 1926 in der Zeitschrift „Die deutsche Bühne“ ziemlich gut auf den Punkt: „… René hat dem Land Sachsen das Theater für alle gegeben, er hat der Schmiere den Todesstoß versetzt und die künstlerische Wanderbühne geschaffen. … Er technisierte den Thespiskarren, machte die moderne Bühne transportabel, errichtete Tempel der Dichter, verbannte den Gelegenheitsmimen durch den vollwertigen, fachbegabten Berufskünstler.“ Zimmermann zweifelte damals nicht daran, dass diese „Kulturleistung ersten Ranges“ durch den Staat anerkannt und unterstützt werden würde. Denn auch damals schon, kam gutes Theater ohne finanzielle Unterstützung nicht aus. Doch er sollte sich irren. Während das Land Sachsen Millionen in die Staatstheater fließen ließ, überließ man es den Kommunen, sich um ihre Sächsische Landesbühne zu kümmern. Vor dem Hintergrund von Inflation und Wirtschaftskrisen ein aussichtsloses Unterfangen. So schloss die Sächsische Landesbühne schließlich 1931 ihre Türen. Doch ihr Spirit „gutes Theater für alle“ lebt in der Landesbühne Sachsen und vielen anderen großen und kleinen Theatern fort.

Anja Hellfritzsch

Haben Sie Lust, die Renés noch besser kennenzulernen und sie auch in der Radebeuler Zeit zu begleiten? Wollen Sie erfahren, wie René schon 1906 für das Grün in der Garten- und Villenstadt kämpfte? Fragen Sie sich auch, wie seine Frau seine Lebensentscheidungen mittrug? Harmonisch ging es jedenfalls nicht immer zu. Im Ränkespiel von Intrigen, Krieg und Inflation versuchte René seinen Traum zu leben und mischte dabei Dresden und die sächsische Provinz gehörig auf. Mehr erfahren Sie in meinem Roman „Der Theatermann“. Das Buch beruht auf wahren Ereignissen.

Der Theatermann
Anja Hellfritzsch
DDV Edition
ISBN 978-3-943444-90-2

Foto Maxime René
Kgl. Sächsischer Hofschauspieler Maximus René, 1910
Quelle: Autogrammkarte, Gebr. Scheizel Dresden

Foto Haus
Foto: Radebeuler Landhaus in der Friedlandstraße, dass René ab 1904 bewohnte
Fotograf: Oscar Rothe Dresden

Ein neues Kapitel in der Geschichte eines ehrwürdigen Hauses

Historische Ansicht
Foto: O.Schlenk: „1874 – 1934: Erinnerungsblätter aus 6 Jahrzehnten“, S. 57.

Wer von Radebeul nach Dresden fährt, konnte seit dem letzten Jahr beobachten, wie ein altes Gebäude im Gelände des ehemaligen Hauptwerks des Arzneimittelwerk Dresden, wo jetzt die Arevipharma GmbH ihren Sitz hat, eine erstaunliche Veränderung erfuhr. Aus dem grauen Gebäude mit leichten Verfallserscheinungen ist ein beeindruckendes Bauwerk entstanden. Die zahlreichen Radebeuler mit Bezug zum ehemaligen AWD wissen, dass es sich um das altehrwürdige Forschungsgebäude handelt. Um 1910 in der jetzigen Form errichtet, wurden darin von engagierten Chemikern zahlreiche chemische Verbindungen synthetisiert und mit Hilfe von Pharmakologen zu Arzneimitteln, aber auch anderen wichtigen chemischen Produkten entwickelt. 1995 wurde das unter Denkmalschutz stehende Laborgebäude von der AWD GmbH geschlossen, da weder die technisch-baulichen noch die für die Sicherheit der Mitarbeiter notwendigen Voraussetzungen einen weiteren Laborbetrieb zuließen. Die Jahre vergingen, und ein sinnvoller Verwendungszweck wurde weder durch die AWD GmbH noch die Nachfolgeunternehmen, die meist unter schwierigen Bedingungen ums Überleben zu kämpfen hatten, gesehen. Aber es gibt offenbar noch Investoren, die den richtigen Blick für solche besonderen Denkmale haben. Sie bewiesen dies schon mit dem Gebäude-Ensemble Deutsche Werkstätten Hellerau. Büros in historischen Fabrikgebäuden ist offenbar eine Spezialität der BIV Beteiligung für innovative Vermögensanlagen GmbH und der Dr. Thiele Vermögenstreuhand GmbH.

Nach vollendeter Sanierung, 2021
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

Aber da ist noch ein weiterer Aspekt: Es gab Informationen, dass die Investoren Interesse daran haben, nicht nur das Ambiente der Labore als Büroräume zu nutzen, sondern auch im Gebäude darzustellen, welche Wissenschaftler dort erfolgreich tätig waren und welche Produkte erfunden wurden. Das führte dazu, dass eine kleine Arbeitsgruppe ehemaliger in diesem Gebäude beschäftigter Forscher Kontakt zu den Investoren aufnahm und trotz der pandemiebedingten Schwierigkeiten mehrere Treffen mit Herrn Rechtsanwalt Voigt als Vertreter der Investoren stattfanden. Ein Austausch der Ideen und Vorstellungen, wie die Gestaltung aussehen könnte, erfolgte: Wer waren die Chemiker, denen in diesem Forschungsgebäude bedeutende Erfindungen gelangen? Welche Produkte und Arzneimittel waren das?

Haupteingang
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

Die Namen Dr. Friedrich von Heyden, Prof. Hermann Kolbe und Prof. Schmitt sind untrennbar mit der Historie des Werkes verbunden. Die Erfindung der technischen Herstellung der Salicylsäure führte zum weltweit ersten industriell hergestellten Arzneimittel und die erfolgreiche Produktion lief bereits seit 1875 in Radebeul. Die Arbeitsgruppe kam überein, dass von den im Forschungsgebäude tätigen Wissenschaftler fünf besonders hervorgehoben werden sollten. Ihre Verdienste zur Entwicklung der Chemischen Fabrik von Heyden und der nachfolgenden Unternehmen bis zum Arzneimittelwerk Dresden waren von großer Bedeutung.

Orginalgetreu wiederhergestellte Einfriedung
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

1. Prof. Dr. Richard Seifert (1861 – 1919) wurde 1885 als wissenschaftlicher Chemiker eingestellt, 1899 technischer Direktor und später wissenschaftlicher Leiter der Firma. 1892 erfolgte die Ausarbeitung der Rezeptur von Odol Mundwasser für seinen Freund Karl August Lingner. Neben den zahlreichen weiteren therapeutisch wirksamen Derivaten der Salicylsäure waren die Farbstofftechnik und die Süßstoff-Produktion seine wichtigsten Arbeitsgebiete. 1918 musste er aus gesundheitlichen Gründen von seiner Tätigkeit in der Chemischen Fabrik von Heyden zurücktreten.

Das alte Werktor, restauriert
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

2. Prof. Dr. Richard Müller (1903 – 1999) wurde 1933 als Laborleiter eingestellt und arbeitete zunächst mit kolloidchemischen Präparaten. 1941 gelang ihm die technische Herstellung von Silikonen. Dafür erhielt er 1951 den Nationalpreis der DDR. Ab 1946 war er Leiter des Laboratoriums für organische Siliziumverbindungen. Daneben war Dr. Müller bis 1953 wissenschaftlicher Leiter verschiedener Forschungs- und Entwicklungsbereiche. Von 1953 an war er bis 1972 Leiter des 1952 aus der Chemischen Fabrik von Heyden ausgegliederten VEB Silikonchemie, später des Instituts für Silikon- und Fluorcarbonchemie. Parallel lehrte er seit 1954 an der TU Dresden (vgl. auch die dreiteilige Serie zu R. Müller in V&R 7-9/2004).

3. Dr. Erich Haack (1904 – 1968), in den 1930er Jahren eingestellt, arbeitete vor allem auf dem Gebiet der Antidiabetika, seit den 1940er Jahren leitete er die Forschung. Dieses ganz neue Therapieprinzip bei der Behandlung der Zuckerkrankheit führte anfänglich zu starken Nebenwirkungen. Wegen des Verbots der weiteren Arbeiten am Sulfonamidpräparat Loranil durch das damalige Ministerium für Gesundheitswesen gab er die Funktion 1952 auf und verließ die DDR, um die Arbeiten bei der Fa. C.F. Boehringer & Söhne GmbH in Mannheim mit Erfolg fortzusetzen

4. Dr. Ernst Carstens (1915 – 1986) begann 1947 seine Tätigkeit als Mitarbeiter von Dr. Haack, wurde ab 1952 Gruppenleiter und ab 1953 Leiter des Forschungs- und Entwicklungsbereichs. Neben der ebenfalls erfolgreichen Fortführung der Arbeiten an den synthetischen Antidiabetika waren es besonders neue Herz-Kreislaufmittel die zu wichtigen Präparaten wurden. Dafür wurde Dr. Carstens 1961 und 1980 mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Unter seiner Leitung wurden außerdem 40 Syntheseverfahren für generische Wirkstoffe entwickelt.

5. Dr. Klaus Femmer war Leiter der Pharmakologie im AWD und an einer Vielzahl von Entwicklungen beteiligt. Die Pharmakologie war teilweise im Forschungsgebäude untergebracht.

Natürlich sind herausragende Leistungen nur durch eine große Zahl engagierter Mitarbeiter zu erreichen. Über die vielen Chemikerinnen und Chemiker, Laborantinnen und Laboranten, die Jahrzehnte engagiert dazu beitrugen, ist in den Patenten, Publikationen, Forschungsberichten und Laborbüchern nachzulesen. Die Gestaltung der Information über die historischen Persönlichkeiten und der Auswahl aus den zahlreichen Produkten ist noch nicht abgeschlossen, könnte aber in Kürze erfolgen. An dem hergerichteten ehemaligen Forschungsgebäude (von Insidern auch als „Lokal 59“ bezeichnet“) soll auch ersichtlich sein, dass die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) den Standort mit dem Programm „Historische Stätten der Chemie“ würdigte. Das erfolgte am 1. Oktober 2012. Eine Gedenktafel ist im Eingang zur Arevipharma GmbH angebracht (vgl. auch V&R Heft 2/2013).

Die Rücksprache mit der GDCh zu den Möglichkeiten, auch das nun ausgegliederte ehemalige Forschungsgebäude in die Verleihung des Titels „Historische Stätten der Chemie“ einzubeziehen, zeigte deren großes Interesse an der in Radebeul realisierten Idee, Büros in einer ehemaligen chemischen Fabrik zu errichten. Das Haus ist jetzt fertig gestellt und wohl überwiegend vermietet. Der Eingangsbereich ist attraktiv geworden und nicht mehr wie seit Jahrzehnten hinter dem Werkszaun versteckt. Der Zaun wurde übrigens originalgetreu restauriert und selbst das alte Werktor wieder eingebaut. Die Investoren planen, einen „Tag der offenen Tür“ durchzuführen, an dem man zumindest teilweise das Gebäude in Augenschein nehmen kann. Ein Termin steht bisher aber nicht fest. Es ist aber zu erwarten, dass das Interesse groß ist, einen Blick hinter die Fassade zu werfen.

Die GDCh wünscht sich, dass die Arbeitsgruppe über den weiteren Fortgang informiert.

Wilfried Rattke

Quellenangabe: Die historische Ansicht ist entnommen aus: O.Schlenk: „1874 – 1934: Erinnerungsblätter aus 6 Jahrzehnten“, S. 57.

Wer war Oskar Ernst Bernhardt alias Abd-ru-shin?

Wer würde vermuten, dass vor 100 Jahren, ab 1921, sich in Kötzschenbroda für einige Zeit ein Mann mit Namen Oskar Ernst Bernhardt niederließ, der dann in der Folgezeit unter dem Namen Abd-ru-shin begann, eine umfassende Heilslehre abzufassen, die als „Gralsbotschaft“ weltweit bekannt wurde? Wer hätte gedacht, dass aus unserer Region der Begründer einer überkonfessionellen Bewegung stammt, deren Grundtext „Im Lichte der Wahrheit“ in mittlerweile 22 Sprachen übersetzt wurde? Und wer würde sich nicht darüber wundern, dass ich auf die Spur dieser Angelegenheit nicht etwa beim Besuch des Stadtarchivs oder der Lektüre einer heimatgeschichtlichen Abhandlung gelangt bin, sondern bei einer Fahrradtour im August 2021 durch unbedeutende Dörfchen im Salzburger Seenland? So viele Fragen – die Antworten werden nach und nach folgen! In meinem zweiteiligen Beitrag zeichne ich das Leben von Oskar Ernst Bernhardt nach (Teil 1) und gebe im nächsten Heft eine knappe Einführung in die Gralsbotschaft, die zwar an das Christentum angelehnt ist, sich in einigen zentralen Fragen aber auch grundlegend davon unterscheidet.

Foto: Gralsbotschaft

Als Oskar Ernst Bernhardt vermutlich im Laufe des Jahres 1921 von Dresden auf die damalige Meißner Straße 15 (heute vermutlich Dürerstraße 2a, gegenüber der Musikschule)1 in Kötzschenbroda zog, hatte er schon ein bewegtes Leben hinter sich. Am 18. April 1875 als Sohn eines Gerbers und Gastwirtes in Bischofswerda geboren2, schloss sich an Schulausbildung und kaufmännische Lehre eine sehr erfolgreiche Berufstätigkeit als Geschäftsmann vor allem in der Schweiz an, was Bernhardt recht schnell vermögend machte, sodass er sich bereits 1900 und 1902 längere Reisen in den Orient leisten konnte. Vermutlich unternahm er diese ohne seine erste Frau Martha, geb. Oeser, die er 1897 geheiratet und mit der er zwei Kinder hatte. Was auch immer der konkrete Auslöser für seine Abwendung vom Geschäfts- und Arbeitsleben gewesen war: Ab etwa 1907 sah sich Bernhardt vor allem als Schriftsteller und veröffentliche nach und nach Texte sehr unterschiedlicher Art (Reiseberichte, Novellen und Romane), vor allem aber Bühnenstücke, mit denen er beispielsweise in Mainz und Kassel auch erfolgreich war. 1912/13 verbrachte Bernhardt einige Zeit in New York, später in London, wo man ihn nach Beginn des 1. Weltkrieges als Feind identifizierte und für vier Jahre auf der Isle of Man internierte. Keine der von mir konsultierten Quellen gibt Aufschluss darüber, was genau der Grund für die Internierung war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass allein die Tatsache, dass Bernhardt Deutscher war, der Auslöser gewesen sein soll, zumal er die Jahre zuvor nicht im Kaiserreich gewohnt hatte und vermutlich inzwischen auch sehr gut Englisch sprechen konnte. Während der Jahre im Lager scheint sich Bernhardt dann verstärkt religiös-philosophischen Themen zugewandt zu haben. Auf der Website der in Österreich ansässigen Zentrale der Gralsbewegung wird diese entscheidende Lebenswendung so dargestellt: „Die vierjährige Gefangenschaft ließ ihn die innere Not der Menschen miterleben, die aus dem Chaos der zerbrechenden alten Wertordnungen keinen Ausweg mehr fanden. Der Wunsch erwachte in ihm, hier durch ein Wissen um die entscheidenden übergeordneten Zusammenhänge zu helfen.“ Was sich etwas nebulös liest, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein radikaler Bruch mit seinem früheren Leben als Geschäftsmann und Reisender, denn in dieser Zeit müssen die Anfänge seiner Lehre, der später so benannten „Gralsbotschaft“, liegen, die er ab 1923 und bis 1938 in Form von Vorträgen niederschrieb. Möglicherweise hat nicht nur das eigene Erleben in Gefangenschaft, sondern auch der Tod seines Sohnes als Soldat im Krieg zu einer Abkehr von der irdischen Wirklichkeit geführt, weil diese ihm zu schrecklich erscheinen musste. Zu diesem Bruch gehört weiterhin, dass sich Bernhardt einige Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Lager von seiner Frau zu entfremden schien und sich 1924 schließlich scheiden ließ. In den Einwohnerverzeichnissen der Gemeinde Kötzschenbroda 1921-1923 ist O.E. Bernhardt mit Wohnsitz Meißner Straße 15 eingetragen, 1924 nur noch Martha Bernhardt mit dem Hinweis, Ehefrau eines Kaufmanns zu sein. Allerdings lautet der Eintrag für dieses Jahr auf Hainstraße 2. Maßgeblicher Grund für die Trennung war augenscheinlich, dass sich O.E. Bernhardt während der ca. drei Jahre seines Aufenthaltes in Kötzschenbroda in die Vermieterin der Familie, eine gewisse Maria Freyer verliebt hatte, die ab 1920 auf der Meißner Straße 15 gemeldet war (zuvor wohnte sie auf der Grenzstraße 44). Frau Freyer war Witwe mit den drei Kindern Irmingard, Alexander und Elisabeth und selbst Adoptivtochter eines Pfarrers Kauffer3, mehr habe ich zu ihrem Vorleben in Kötzschenbroda nicht in Erfahrung bringen können.

Vermutlich im Laufe des Jahres 1923 zogen Bernhardt mit seiner zweiten Frau und den angenommenen Kindern nach Tutzing bei München, fünf Jahre später nach Vomperberg bei Innsbruck in Tirol. Zu dieser Zeit hatte Bernhardt schon eine Anzahl Anhänger gefunden, die seine ab 1923 unter dem Pseudonym Abd-ru-shin in der Zeitung „Gralsblätter“ verbreiteten Vorträge begeistert aufgenommen hatten und die zugrundeliegende Lehre im Alltag leben wollten. Zu diesem Zwecke gründete die Gemeinschaft auf dem Vomperberg eine Siedlung, wo sie sich auch heute noch befindet. Die nächsten 10 Jahre sind schlecht belegt. Vermutlich lebte Bernhardt umgeben von seinen Anhängern ein zurückgezogenes, kontemplatives Leben: „So entstand auf einem 32ha großen Gelände eine Siedlung mit Reihenhäusern und Gemeinschaftseinrichtungen: Andachtshalle, Gästehaus, Schule, Feuerwehr, Landwirtschaft, Schreinerei, Gärtnerei u.a. Später kamen noch weitere Gästehäuser und eine Reitschule dazu. Unter den Anhängern war eine beträchtliche Reihe begüterter Persönlichkeiten aus den Kreisen der Wirtschaft sowie Akademiker und Künstler. Aber auch einfache Leute steuerten nach Kräften bei.“4 1938, nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland, wurde Bernhardt enteignet und abermals verhaftet und für sechs Monate eingesperrt. Über den Umweg Görlitz gelangte er 1939 nach Oberkipsdorf/Erzgebirge, wo er bei einem seiner Anhänger, dem aus Berlin stammenden Fabrikanten Otto August Wilhelm Giesecke im damals so benannten Dorfgasthof Bergschlösschen, dem späteren Schweizerhof, Unterschlupf fand.5 Den Quellen nach zu urteilen stand Bernhardt unter dauerhafter Bewachung der Gestapo, fühlte sich quasi verbannt und wurde daran gehindert, seine Lehre weiter zu verbreiten. Allerdings überarbeitete er im Erzgebirge seine Gralsbotschaft und schloss eine Fassung „letzter Hand“ noch ab, bevor er am 6. Dezember 1941, also vor 80 Jahren, starb und fünf Tage später in Bischofswerda kirchlich beigesetzt wurde. 1949 wurde der Sarg nach Vomperberg überführt und in einem noch heute bestehenden pyramidenförmigen Grabmal beigesetzt. Später wurden in diesem Grabmal auch noch seine Frau (1957) sowie zwei seiner Kinder bestattet.

Bernhardts Wohnhaus, heute Dürerstraße 2a
Foto: S. Graedtke

Es überrascht mich, dass zu Bernhardt trotz seiner bemerkenswerten Rolle, die er als Begründer der Gralsbewegung für seine inzwischen weltweite Anhängerschaft spielt, im Radebeuler Stadtarchiv keine Eintragungen vorhanden sind, auch im Stadtlexikon fehlt ein Hinweis. 2015 geht der Verfasser eines wissenschaftlichen Artikels zur Gralsbewegung von etwa 40000 Menschen weltweit aus, die sich ihr zugehörig fühlen, davon mehr als 3000 in Deutschland6. Wie auf der Internetseite der Gralsbewegung Deutschland mit Sitz in München zu lesen ist, gibt es hierzulande 24 Gralskreise, wovon der sächsische der einzige auf dem Gebiet der früheren DDR ist. Dieser versammelt sich in Bernhardts Geburtshaus in Bischofswerda auf der Kirchgasse 2, dem Haus „Gambrinus“.

(Fortsetzung folgt)

Bertram Kazmirowski

Geburtstagsgruß

Foto: L. Kühne-Kootz


Lieber Herbert Graedtke,

zu Deinem 80. Geburtstag gratulieren wir Dir ganz herzlich.
Wir wünschen vor allem Gesundheit und
Lust und Muße für Kunst, Kultur
und schöne Naturerlebnisse.
Also: Eine tolle Geburtstagsfeier, im Kreise von lieben Gästen,
sicher mit einem köstlichen Radebeuler Wein,
ganz im Sinne und nach Art von Bacchus,

das wünscht im Namen des Vereins Radebeuler Monatsheft e.V. „Vorschau / Rückblick“

Ilona Rau

Laudatio zu „GEZEITEN II – Geformt“

zur aktuellen Ausstellung von Anita Voigt in der Stadtgalerie

Foto: M. Piper


Wir leben in einer Gegenwart, in der alles in Frage gestellt zu sein scheint, in der uns auf einmal bewusst wird, dass wir nur ein Teil des Universums sind, dass die Natur allmächtig ist, nicht nur den ewigen Kreislauf von Werden, Wachsen und Vergehen bestimmt, sondern uns Menschen auch in die Schranken weist. […]

Anita Voigt ist eine ernsthafte, lebenszugewandte Künstlerin, die nicht im luftleeren Raum lebt, sich nicht im sogenannten Elfenbein mumifiziert. Sie steckt voller Empathie, lässt sich berühren, von dem, was sie erlebt und manifestiert ihre Gedanken und tiefgründigen Seherlebnisse in Zeichnungen und Bildwerken, die ohne erhobenen Zeigefinger, in formaler Reduktion, auf die archaische Schönheit und gewaltige Kraft von Naturerscheinungen verweist.
Und sie lässt Fragen zu:

„Rutscht man automatisch in die Schublade der Romantiker, wenn die Einsamkeit, das Ausgegliedert-Sein… zum Thema werden?“; Sehen und fühlen wir nicht nur das, wozu wir ohnehin in Resonanz gehen können? Welche Rolle spielt, was mir unerwartet oder sogar unwillkommen widerfährt?“

Panta rhei – alles fließt. Diese philosophische, antike Sentenz von Heraklit beschreibt, dass alles in unaufhörlicher Bewegung ist. Die Welt steht niemals still. Alles ist unablässig ein Werden und Vergehen. […]

Die Augen von Anita Voigt haben Vieles getrunken, mit Begeisterung und Nachdenklichkeit.

Unverhofft und verwandelt brachen sich elementare Formen Bahn.

Denn auf den Papieren kann man frei atmen, kann man durchatmen, befreit von Draußen und doch gefangen im Innen. Eine wunderbare, beflügelnde Erkenntnis. Kennt man das innere Leben der Linien und Farben, dann vermag man, das mit eigener Selbstentdeckung zu feiern. Dann nimmt die Lust an jeder gelungenen Metamorphose des Sichtbaren zu und es entstehen beeindruckende, neue Zusammenhänge.

Anita Voigt ist auch eine spirituelle Künstlerin, die altes Wissen in sich trägt, die erlebte Landschaftsträume in reduzierter bildlicher Umsetzung mit einer visionär-philosophischen Dimension verbindet. So erwächst aus dem Sichtbaren auch Geistiges für den aufmerksamen Betrachter. So verbindet sich auf geheimnisvolle Weise bewusstes mit Unbewusstem. […]

Gezeiten ist der Titel der Ausstellung. Das Wort imaginiert Veränderung, eine Metamorphose in der zyklischen Ausrichtung des Lebens auf der Erde. Und dieses Wissen hilft, […], mit Gelassenheit und Würde anzunehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu gestalten, um dem Leben einen Sinn zu geben.

Im Juni 2020 begab sich Anita Voigt zusammen mit ihrem Mann in einer ausgebauten Feuerwehr auf eine abenteuerliche Reise nach Frankreich, in die nördliche Bretagne. Sie war mit ihrem Skizzenbuch unterwegs, fasziniert von der rauen, unwirtlichen, wild widerspenstigen Küstenlandschaft und von den Gezeiten. Das Kommen und Gegen von Ebbe und Flut widerspiegelt auf unvergleichliche Weise Lebensrhythmen. Für Anita Voigt war das ein Schlüsselerlebnis! […] Sie äußerte sich folgendermaßen dazu:

„Das Thema der Gezeiten ist ein Lebensthema. Unbeschreiblich intensiv und direkt mit allen Sinnen erlebt am Atlantik. Dann gleicht es einer Welle, deren Ausläufer sich an den Hügeln und Felsen meiner Umgebung bis hin zur Sächsischen Schweiz brechen. Weit über gegenwärtige Zeit hinaus. Die brutale Kraft dieser Naturgewalt bringt Gefahr und Schönheit. Das Wechselspiel gegenseitiger Formung. […] Wenn ich zeichne, sortiere ich und ordne. Was auf dem Blatt geschieht, vollzieht sich entsprechend in meinem Inneren, gewinnt Struktur. Mich interessiert, ob diese Veränderungen, die sich während des Arbeitsprozesses in mir vollziehen, auch umgekehrt auf das Geschehene wirken.“
Man muss Mut haben, Schwarz auch zu behaupten auf dem Weiß von Papieren. Aus der Bewegung heraus hat Anita Voigt mit Pinseln, breiten bürstenartigen und schmalen, mit Tuschen gezeichnet, ganz langsam und mit großer Leichtigkeit. Viele Papiere wurden ausprobiert. Japanpapiere, saugfähig und fein – erfordern ein großes Können. Man muss die Technik beherrschen, muss wissen, wie schnell die Pinselbewegung sein sollte und wie die Konsistenz der Tusche beschaffen sein muss. […]

Anita Voigt hat sich intensiv mit japanischer und chinesischer Tuschemalerei beschäftigt. Es geht dort nicht überall um den Zufall, sondern um die Beherrschung des Mediums, um die Verfolgung eines strengen Formenkanons. […] Sie „lässt den Pinsel machen“, wie sie es mir gegenüber bekannte. Bewusst verzichtet sie auf menschliche Figur, die mit der Abwesenheit aber dennoch präsent bleibt.
[…]

In der Bretagne, in der Sächsischen Schweiz, im Wald und mit der Beschäftigung des pflanzlichen Wachstums hat sie bildnerische Analogien gefunden, die ein Nachdenken über die Zeit möglich machen.

Das Werden und Vergehen, das veränderliche in der Natur beschreibt demzufolge auch immer eine biografische Spur – mit Tusche und Kohle oder Tempera umgesetzt.

Großartig, ja überwältigend sind die Kohlezeichnungen, der felsartigen Klippen, umbrandet vom Meer, dass auf den Zeichnungen nicht sichtbar ist, nur in unseren Gedanken durch das Weiß der Papiere fließt. Dieser halluzinatorische Moment im Kommen und Gehen besitzt etwas archaisch Magisches und macht die Faszination der Arbeiten aus.
Anita Voigt erweist sich auch als eine Tagträumerin mit musikalischen Nachklang. […] Mit Hingabe lässt sie das Schwarz erklingen, ermutigt und freudvoll überrascht von dem, was sich vor ihren Augen ereignet.

Es ist eine Realität im Zustand der Schwerelosigkeit, in der alles möglich zu sein scheint. Anita Voigt hat die Zeit des vermeintlichen Stillstands also genutzt, das Glück zu fangen und hat sich neu gefunden.

Der Umgang mit der Kunst lehrte sie, das Leben zu achten und den Sturmwind der Zeit gelassen zu betrachten, sich auf sich selbst zu konzentrieren und um die innere Mitte zu ringen, sich nicht zu verleugnen, sich ganz einfach zu leben… […]

Sie hat den Bezug zur Außenwelt, zu natürlich-naturhaften Gegebenheiten niemals verloren in der virtuellen Welt ihrer künstlerischen Selbsterkenntnis und schafft neue Zusammenhänge.

Ja, sie legt eine Spur, ihrer eigenen Natur gemäß, der wir folgen sollten, denn sie sieht im Einfachen das Besondere. […]

Im Mikrokosmos ihrer Bildwelt offenbart sich hier ein Makrokosmos, das stille Aufeinanderbezogensein der Elemente, der Pulsschlag des Lebendigen, eingebunden in den Kreislauf von Werden und Vergehen und es offenbart sich auch die Macht des Menschen, zu bewahren oder zu zerstören. […] ihr innerer Reichtum ist immer präsent, ihre Sehnsucht nach Harmonie ebenso wie ihr Wissen um das labile Gleichgewicht der Natur.

Eine innere Bewegung ist mit den Arbeiten verbunden, die alles einzuschließen scheint:

den Wind, den Regen, die Sonne, Himmel und Erde, die Metamorphosen des Geformt-Seins.

Es sind großartige Augenerlebnisse, die uns die Trostlosigkeit, der wir mitunter in letzter Zeit erliegen, zu nehmen vermögen.

Karin Weber
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Dies ist eine gekürzte Fassung der Eröffnungsrede vom 5.11.2021. Der Text in voller Länge liegt in der Stadtgalerie Radebeul aus, die Digitalvariante ist über Radebeul.de/stadtgalerie abrufbar.

Die Ausstellung ist bis zum 19.12.21 zu sehen.

Aus Unscheinbarem erwächst Herrlichkeit

Liebe Leserinnen und Leser,

der Kalender zeigt Anfang November. Das Wetter ist nicht, wie aus Kindertagen bekannt, sprichwörtlich grau und nasskalt, sondern die Sonne taucht die Bäume und den Himmel in ein wunderbares Licht. Herbstlich ist mir zumute auf dem Weg zum Supermarkt. Dort fällt mein Blick auf das Regal mit Blumentöpfen, die zwar mit Erde gefüllt sind, aber eine Blume ist nicht zu sehen. Lediglich das Obere einer Blumenzwiebel ist zu erkennen, aus der zaghaft ein Blatt und die Knospe einer Blüte herauslugen. Vor meinem inneren Auge sehe ich bereits die stolze weiße oder rote Blüte einer Amaryllis oder eines Rittersterns. Ich weiß aus Erfahrung, dieser Stern wird mit etwas Fürsorge, Licht und Wasser in der Adventszeit erblühen. Einen Topf stelle ich in froher Erwartung in meinen Einkaufswagen. Ich bin gewiss, der Blütenstengel und die dicker und größer werdende Knospe werden aus dem Verborgenen der Zwiebel wachsen und dann wird sich eine Blüte nach der anderen entfalten. Dieser Ritterstern wird mich also auch in diesem Jahr begleiten, hinein in die Advents- und Weihnachtszeit. Er wird mir ein sichtbares, lebendiges Zeichen sein, dass aus Unscheinbarem etwas Herrliches erwachsen kann. Auch das Kind in der unscheinbaren Krippe von Bethlehem vor mehr als 2000 Jahren verbreitete Herrlichkeit: sie brachte ein großes Licht in die Welt der Hirten auf dem Feld, sie wies mit dem hellen Stern den Könige aus dem Morgenland den Weg, sie machte das Halleluja der Engel hörbar, sie strahlt hinein in unsere Gegenwart mit all ihren Umbrüchen, mit unseren gefühlten Unsicherheiten und Hoffnungen. Lassen wir uns alle von diesem Wunder und der Herrlichkeit der Weihnacht berühren, seien wir füreinander da und achten wir aufeinander.

Ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Freunden gesegnete, friedliche und gesunde Weihnachten.

Gertraud Schäfer

Vorsitzende des Kirchenvorstands des Ev.-Luth. Kirchspiels in der Lößnitz

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Altnaundorf 29

Die den Hof gegen die Straße abschließende Mauer mit Rundbogen in Sandstein von 1597 hat manchen Brand, so auch den von 1822, überstanden. Dagegen wurde das Wohnhaus und das Auszugshaus auf älteren Grundmauern erst nach 1822 in der heutigen Form errichtet. Die Scheune am Ostende des Hofs stammt von 1877.
Die Gebäude entsprechen in Bauform, Zuordnung und Material dem in Mittelsachsen üblichen Schema, der Torbogen aber ist hier eine Besonderheit – es ist der älteste Radebeuler Torbogen. Der Sandsteinbogen hat ab ca. 1m Höhe eine Phase an der Vorderkante, ein in der Zeit der Renaissance übliches Detail bei Türen und Fenstern. Die Prellsteine dienten zum Spuren der passierenden Fuhrwerke und damit zum Schutz des Bogens vor Beschädigungen.
Das zweiflüglige Holztor kann in ganzer Breite geöffnet werden, hat aber für Personen auch eine Schlupftür. Der obere Abschluss wird hier als Lattenwerk in Form eines halben Sonnenrades gebildet.

Dietrich Lohse

Mit Bernhard Theilmann poetisch durch das Jahr

Radebeuler Miniaturen

Bon Bon Bong

Meine Mutter, nein das glaubst du nicht!
Lachenden Auges halb und halb grollend rufts Ulrike schon in der Tür. Sie hat jetzt immer viel zu erzählen, wenn sie heimkommt.
Sie war also einkaufen, meine Mutter, erzählt Ulrike. Sie hatte ihr aufgetragen, besser auf die Rechnungen zu achten, nachdem sie Unregelmäßigkeiten im Geldtäschel der alten Dame bemerkt hatte. Du weißt doch, was du im Korb hast, hat sie der Mutter gesagt, da kannste im Kopf überschlagen, wie hoch der Gesamtpreis irgendwie sein wird.
Und was macht Mutter?!
Sie läßt sich an der Kasse den Bon geben und beginnt ihn zu studieren, während die Schlange hinter ihr wächst und die Kassiererin schon hektische Flecke bekommt. Sie kommt auch ganz gut durch die Artikel und Summen, vergleicht die im Kopf überschlagene Summe mit dem ausgewiesenen Gesamtpreis – die alten Leute können noch im Kopf rechnen, die haben das noch gelernt! Aber dann – die untere Hälfte des Bons ist angefüllt mit endlosen Buchstaben-Zahlen-Kombinationen, deren Studium selbst zu Hause im sicheren Sessel schlicht unmöglich ist: hier: hör mal: LyJ48Rhn8ADxxdotq007… das ist erst ein Drittel einer von fünf Zeilen. Mutter liest und staunt und fragt dann die Kassiererin, was das zu bedeuten habe. Ihre Tochter, sagt sie, bestehe darauf, daß sie die Rechnung überprüfe, und das könne sie nicht, wenn sie nicht wisse, was sich hinter den mystischen Zeichen verberge.
Das kann ich ihnen auch nicht sagen, sagt die Kassiererin roten Kopfes, aber so höflich sie noch kann, das hänge wohl irgendwie mit EDV und Steuer zusammen. Das muß sie nicht interessieren.
Aber warum drucken sies dann auf meinen Zettel?
Das ist jetzt so, ist die Antwort, und es wäre schön, wenn sie nun endlich die Kasse frei machen könne, es warten nämlich noch mehr Leute.
Folgsam räumt Mutter ihren Kram zusammen und verschwindet. Erst zu Hause bemerkt sie, daß sie in der Aufregung vergessen hat, zu bezahlen – denn natürlich hat sie die Rechnung vor der Zahlung überprüfen wollen…
Ich bin dann noch mal hin, sagt Ulrike, und hab die Summe beglichen, zum Glück hatte Mutter ja den Zettel noch, da war er wenigstens einmal zu etwas nutze.
Wir haben den Rest des Abends mit zwei Flaschen Rotwein verbracht und mit der Frage, wie uns die Information 641EE612BrNxxDFYckw 22 … beim Leben hilft und wie viele Bäume das Finanzamt sparen könnte, wenn auf dem Zettel nur das Erforderliche stünde, nämlich, was wofür zu bezahlen ist – zumal die allermeisten dieser Ausdrucke ungelesen im Papierkorb unter der Kasse verschwinden…
Thomas Gerlach

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