Neuerscheinung zur Geschichte Reichenbergs

Nicht nur Radebeul hat 2010 Grund zum Feiern, auch in unserem Nachbardorf Reichenberg steht heuer ein Jubiläumstermin im Kalender: Vor 775 Jahren taucht der Ort als »villa Richenberc« erstmals in der schriftlichen Überlieferung auf. Da aus dem Inhalt der entsprechenden Urkunde von 29. November 1235 hervorgeht, dass das Dorf damals schon seit Generationen bestanden haben muss, durfte man sich ohne Bauchschmerzen die Freiheit nehmen, das große, mit viel Liebe gestaltete Dorffest zum Jubiläum schon im Sommer zu feiern. Und damit auch was Greifbares zum Nachdenken bleibt, erschien pünktlich zum Fest im Radebeuler Notschriften-Verlag eine bemerkenswerte Publikation zur Reichenberger Geschichte.

Autor Dieter Krause (*1961), der bislang vor allem als Lyriker hervorgetreten ist, betrachtet seinen Heimatort darin, wie der Titel verrät, als »Punkt, durch den die Zeit treibt«. In fünf umfangreichen Kapiteln (eine stärkere Untergliederung wäre vielleicht wünschenswert gewesen) beschränkt er sich nicht darauf, die gerade für die Frühzeit recht dürftig tröpfelnden Geschichtsquellen zu einer Dorfchronik im traditionellen Sinne zu verarbeiten. Vielmehr geht es ihm auch darum, die Ereignisse und Entwicklungen, die der jeweiligen Epoche ihren Stempel aufgedrückt haben, zu verstehen und ihre Rückwirkungen auf das Dorf Reichenberg und das Leben der einfachen Leute zu beschreiben. Anders als der Wissenschaftler (aus Sorge um die Objektivität) oder der klassische »Heimathirsch« (aus Ehrfurcht vor den Fakten), gestattet sich der Autor dabei auch subjektive Deutungen, die man nicht teilen muss, denen sich aber meist nachzudenken lohnt.

Auch wenn es mitunter zwischen der großen und der kleinen Welt recht sprunghaft hin und her geht und die Sparsamkeit bei den Quellennachweisen etwas übertrieben wurde, kommt das Ortschronikalische nicht zu kurz. Als erster seit langem hat sich Krause dafür der Mühe unterzogen, die einschlägigen Aktenbestände im Staats- sowie im Reichenberger Gemeinde- und Kirchenarchiv zu durchforsten, denn Vorarbeiten gab es kaum.

Das reich illustrierte Buch (die Bildqualität hat im Druck leider etwas gelitten), das wegen der traditionell engen Verbindung zwischen Reichenberg und der Lößnitz auch für geschichtsinteressierte Radebeuler von Interesse sein dürfte, ist im Buchhandel oder direkt beim Verlag (www.notschriften.com) für den moderaten Preis von 6,90 Euro erhältlich. Wer noch ein Exemplar erwischen möchte, sollte nicht zu lange zögern. Dass die Reichenberger danach lechzten, zeigte sich schon bei der Buchpremiere am 27. Juni, die trotz des zeitgleich stattfindenden »Deutschlandspiels« großen Anklang fand.

F. Andert

Dieter Krause: Punkt, durch den die Zeit treibt. Zur Dorfchronik von Reichenberg. NOTschriften-Verlag Radebeul 2010, 86 Seiten, 6,90 €, ISBN 978-3-940200-51-8.

[V&R 8/2010, S. 22]

Radebeuler Ehrenbürger (Teil 5): Hindenburg, Hitler und Mutschmann

Die bisher vorgestellten Ehrenbürger von Kötzschenbroda und Radebeul waren zwar allesamt nicht hier geboren, aber seit langem ortsansässig und hatten sich die durch die Ehrung zum Ausdruck gebrachte Achtung und Dankbarkeit ihrer Gemeinden durch jahrzehntelanges Wirken zum Wohle derselben redlich verdient. Nicht behaupten kann man das von den »Ehrenbürgern« des Jahres 1933.

Die von den katastrophalen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise überschatteten letzten Jahre der Weimarer Republik waren durch eine zunehmende Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung gekennzeichnet. Während die demokratischen Parteien nicht mehr in der Lage waren, stabile Regierungen zu bilden, und sich das gespaltene linke Lager selbst neutralisierte, vollzog sich ein geradezu kometenhafter Aufstieg der rechtsextremen NSDAP, die sich bei den beiden letzten demokratischen Reichstagswahlen vom 31. Juli und 6. November 1932 jeweils als deutlich stärkste Partei durchsetzen konnte. Hätte sich die SPD nicht dem Wahlbündnis aller demokratischen Parteien für Amtsinhaber Paul v. Hindenburg (1847-1934) angeschlossen, hätte der erst kurz zuvor eingebürgerte »braunschweigische Regierungsrat« Adolf Hitler (1889-1945) bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 sogar gute Chancen gehabt, zum neuen Staatsoberhaupt gewählt zu werden. Dadurch, dass Hindenburg den von ihm noch 1931 abschätzig als »böhmischen Gefreiten« titulierten Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, wurde er zum Totengräber der Weimarer Demokratie. Das Kalkül seiner Berater, Hitlers Massenbasis zur Verfolgung eigener Ziele zu benutzen, ging nicht auf. Stattdessen lieferte Hindenburg den Nazis mit den von ihm erlassenen Notverordnungen und seiner Unterschrift unter dem Ermächtigungsgesetz von 23. März 1933 die Vollmachten zum Aufbau einer unumschränkten diktatorischen Herrschaft und entmachtete sich damit selbst.

Radebeuler Tageblatt vom 27. April 1933

Preiswürdig war diese schwache Vorstellung nicht. Das sicherste Mittel, diese Tatsache zu verschleiern, bestand darin, den greisen Generalfeldmarschall mit öffentlichen Ehrungen zu überhäufen und – zur Betonung der Einigkeit der beiden vermeintlichen Retter der Nation – den jungen Reichskanzler gleich mit. Bereits im Februar 1933 setzte eine Welle von zumeist gemeinsam erfolgenden Ehrenbürgerrechtsverleihungen an Hindenburg und Hitler ein, die ab Mitte März zur regelrechten Flut anschwoll, und auch die Lößnitzgemeinden schwammen nicht gegen den Strom. Am 29. März 1933 wurden die vermeintlichen Dioskuren zu Ehrenbürgern von Kötzschenbroda ernannt, am 26. April zog Radebeul nach und einen Tag später auch die damals noch selbständige Gemeinde Oberlößnitz, die schon 1915 eine Straße nach Hindenburg benannt hatte. Lediglich in der traditionell SPD-dominierten Gemeindevertretung von Wahnsdorf, wo die NSDAP vor Ende Mai 1933 noch nicht über eine eigene Mehrheit verfügte, kam kein entsprechender Antrag zur Abstimmung, aber auch hier wurde, was in den anderen Lößnitzgemeinden längst geschehen war, bei erster Gelegenheit eine Straße, die bisherige Spitzhausstraße, »zu Ehren unseres Volkskanzlers und Führers« in Adolf-Hitler-Straße umbenannt.

An der Tatsache dieser Ehrungen beißt keine Maus einen Faden ab, gleichwohl gibt es gute Gründe, die Legitimität der damaligen Gremienentscheidungen in Zweifel zu ziehen, und überhaupt hatte die ganze Angelegenheit mehr als einen Schönheitsfehler. Die 1933 gültige sächsische Gemeindeordnung von 1923 enthielt, anders als die früheren Städteordnungen, keinerlei Bestimmungen zum Ehrenbürgerrecht. Seine Verleihung fiel damit unter die Angelegenheiten, über die die Gemeindeverordneten als gewählte Vertreter der Bürgerschaft endgültig zu entscheiden hatten, dazu reichte die einfache Mehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Gemeindeverordneten. Aus der Ehrenbürgerakte von Kötzschenbroda geht hervor, dass bereits der Stadtrat – nach Ausschluss der beiden Vertreter der Linksparteien – am 22. März 1933 den »Beschluss« fasste, Hindenburg und Hitler zu Ehrenbürgern zu ernennen. Noch bevor die Stadtverordneten überhaupt mit dem Thema befasst wurden, erteilte man einen Auftrag zur Anfertigung der entsprechenden Urkunden. Die nachträgliche Legitimierung des Stadtratsbeschlusses durch die Stadtverordneten erfolgte nicht im Rahmen einer regulären Sitzung, sondern während einer »Besprechung« am 29. März, zu der die gewählten Verordneten der SPD und der KPD nicht geladen waren. Den Beschluss hätten diese zehn (von insgesamt 23) Stadtverordneten zwar nicht verhindern können, einstimmig wäre er bei ihrer Anwesenheit aber mit Sicherheit nicht ausgefallen.

In Radebeul und Oberlößnitz wurden die Beschlüsse über die Ehrenbürgerrechte für Hindenburg und Hitler Ende April jeweils in der ersten Sitzung der neuen Gemeindeverordnetengremien gefasst. Diese waren nicht aus Kommunalwahlen hervorgegangen, sondern nach den örtlichen Ergebnissen der nach der Machtübernahme der Nazis abgehaltenen Reichstagswahlen vom 5. März 1933 zusammengesetzt worden. Dabei wurden die KPD-Stimmen automatisch als ungültig gewertet, was der NSDAP in Radebeul eine knappe, aber sichere Mehrheit der Stadtverordnetensitze (10 von 19) eintrug. Auch hier geht bereits aus der Einladung zur Sitzung hervor, dass der Beschluss längst feststand. Über die Modalitäten der Abstimmung ist weder im Protokoll noch im ausführlichen Bericht des Radebeuler Tageblatts das Geringste vermerkt. Daher lässt sich auch nicht mehr feststellen, ob die fünf anwesenden SPD-Stadtverordneten – einer fehlte entschuldigt – den einstimmigen Ernennungsbeschluss aktiv mit vollzogen oder angesichts der Drohkulisse – die Einlasskarten für den Zuschauerraum waren größtenteils an in Uniform erschienene Vertreter von SA, SS und »Stahlhelm« verteilt worden – lediglich auf einen Einspruch verzichtet haben.

Radebeuler Tageblatt vom 13. September 1933

In Oberlößnitz war das Kräfteverhältnis eindeutig, sieben Gemeindeverordneten der NSDAP und dreien der rechtskonservativen »Kampffront Schwarz-Weiß-Rot«, darunter Hitlers späterer Schwager Martin Hammitzsch, standen im neuen Gremium lediglich zwei SPD-Verordnete gegenüber. Da die geltende sächsische Gemeindeordnung eindeutig festlegte, dass die Zahl der Gemeindeverordneten ungerade zu sein hatte, war dieses zwölfköpfige Gremium eigentlich nicht gesetzeskonform, aber das nur am Rande. Schwerer wiegt, dass der Gemeindeverordnetenvorsteher Alfred Tischer (NSDAP) seinen Antrag auf Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Hindenburg und Hitler damit begründet, dass der Sächsische Gemeindetag alle sächsischen Gemeinden darum gebeten habe, einen solchen Beschluss zu fassen – in dieser Formulierung eine klar falsche Behauptung. Auch hier fiel der Beschluss einstimmig aus.

Während die Stadt Kötzschenbroda eigene Ehrenbürgerurkunden für Hindenburg und Hitler anfertigen und per Post zustellen ließ, gingen Radebeul und Oberlößnitz auf das kostengünstigere Angebot des Sächsischen Gemeindetages ein, sich an gemeinsamen Ehrenbürgerbriefen der sächsischen Gemeinden zu beteiligen. Den Wettbewerb um die Gestaltung der Urkunde für den Reichspräsidenten gewann übrigens der Kötzschenbrodaer Gebrauchsgraphiker Walter Kluge, und der achtköpfigen Delegation, die Hitler seinen Ehrenbürgerbrief überbringen durfte, gehörte am 8. Februar 1934 – als einer von nur drei Bürgermeistern – auch das Radebeuler Stadtoberhaupt NSDAP-Ortsgruppenleiter Heinrich Severit an.

Auch für den NSDAP-Gauleiter und NS-Reichsstatthalter Martin Mutschmann (1879-1947) bot der Sächsische Gemeindetag per Rundschreiben vom 2. Juni 1933 die Beschaffung eines gemeinsamen Ehrenbürgerbriefes der sächsischen Gemeinden an, die passenderweise von der Gauleitung gleich selbst organisiert wurde. Sowohl in Kötzschenbroda wie in Radebeul wurde dieses Angebot offenbar als Aufforderung verstanden, in dieser Richtung aktiv zu werden. Schon am 8. Juni wurde Mutschmann zum Ehrenbürger von Kötzschenbroda und am 13. Oktober 1933 auch von Radebeul ernannt, nach der »Gleichschaltung« der Stadtverordnetenkollegien eine reine Formsache. In diesem Falle bestanden jedoch beide Städte auf der Überreichung eigener Urkunden in repräsentativem Rahmen, um sich dem ungekrönten braunen Landesfürsten öffentlichkeitswirksam anbiedern zu können. Für die wieder an Walter Kluge vergebene Gestaltung der Kötzschenbrodaer Urkunde schrieb die Stadt als Bildmotiv Wackerbarths Ruhe vor. Bei der Überreichung am Rande einer Großveranstaltung des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) in Kötzschenbroda am 9. Juli 1933 begründete Bürgermeister Dr. Brunner diese Bildwahl mit dem Wunsch der Stadt, »dass dieses Kulturdenkmal unserer Lößnitz vielleicht einmal der Sommersitz des Herrn Reichststatthalters werden möge.« Dieser Wunsch erfüllte sich nicht.

Die politische Instrumentalisierung des Ehrenbürgerrechts durch die Nazis lässt sich kaum besser in Worte fassen, als sie in folgender Auslassung von Radebeuls Bürgermeister Severit in der Stadtverordnetensitzung vom 13. Oktober 1933 zum Ausdruck kommt: »Die Nationalsozialisten wollen durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts dokumentieren, dass die höchste Würde, die die Stadt zu vergeben hat, die Männer erhalten, die zum Wohle des Volkes so große Aufgaben erfüllt haben und noch weiterhin erfüllen werden, wie sie in der großen kämpferischen Bewegung des Nationalsozialismus einzigartig und beispielgebend sind. Ein solcher Mann ist Sachsens Reichsstatthalter Martin Mutsch­mann, ein kerndeutscher Mann und Sachsens ältester, tatkräftigster und erfolgreichster Führer der deutschen Freiheitsbewegung, der in erster Linie durch seinen Kampf und seine Opferbereitschaft dazu geholfen hat, das marxistische Sachsen für den Nationalsozialismus zu erobern.« Im Sitzungsbericht heißt es weiter: »Der Redner beantragte, dem Herrn Reichsstatthalter das Ehrenbürgerrecht Radebeuls in Verehrung und Dankbarkeit zu verleihen. Der Antrag wurde einstimmig angenommen. Stadtv.-vor­ste­her Gaertchen brachte ein begeistert aufgenommenes dreifaches Sieg-Heil auf den neuen Ehrenbürger Radebeuls aus, der neben dem Reichspräsidenten von Hindenburg und dem Führer und Volkskanzler Adolf Hitler der dritte ist, dem diese Würde verliehen wurde.« (Radebeuler Tageblatt, 14. 10. 1933) Nicht Verdienste um die Gemeinde, sondern nur Verdienste um die »Bewegung« qualifizierten nun also zum Ehrenbürger. – Kein Wunder, dass die Ehrenbürgerschaft für Robert Werner, nur sechs Jahre nach Verleihung, bei den in der gemeindlichen Selbstverwaltung durchweg unerfahrenen braunen Parteigenossen schon wieder vergessen war.

Severits Plan der Überreichung der vom Radebeuler Maler Max Brösel aufwendig gestalteten Ehrenbürgerurkunde an seinen Duzfreund Mutschmann im Rahmen einer NSDAP-Parteiveranstaltung (der Einweihung des »Martin-Mutschmann-Hauses« als neuem Sitz der Ortsgruppenleitung) zerschlug sich aus unbekannten Gründen. Möglicherweise hatte man in der Gauleitung registriert, dass der Name des Chefs in einer ersten schriftlichen Anfrage aus der Radebeuler Verwaltung gleich zweimal falsch geschrieben war. Offenbar erfolgte die Übergabe dann ganz ohne Zeremoniell am Rande einer Mutschmann-Visite im Karl-May-Museum kurz vor Weihnachten. Im Pressebericht über diesen Besuch wurde am 22. Dezember auch noch mal an Hitlers Versprechen vom Sommer 1933 erinnert »demnächst Radebeul und das Karl-May-Museum zu besuchen«. Im Radebeuler Tageblatt war diese Nachricht erstmals am 13. September 1933 direkt unter dem Abdruck von Hitlers Dankschreiben für das Ehrenbürgerrecht (die Originalbriefe von Hindenburg und Hitler hatte Severit sich in seinem Dienstzimmer an die Wand gehängt) veröffentlicht worden – eine von vielen Versprechungen, die der vieltausendfache »Ehrenbürger« nicht gehalten hat.

Nach dem Ende des »Tausendjährigen Reichs« sind die 1933 verliehenen Ehrenbürgerrechte in Radebeul nicht explizit widerrufen worden. Die für Hindenburg und Hitler hatten sich durch Tod ohnehin erledigt, das für Mutschmann dann spätestens mit Erlass der Direktive Nr. 38 des Alliierten Kontrollrats vom 12. Oktober 1946, die den Hauptschuldigen an den Verbrechen des NS-Regimes alle Sonderrechte aberkannte. Zu lernen gibt es aus dieser Episode einiges, zuvörderst, dass das Ehrenbürgerrecht, wenn es inflationär und/oder auf Druck einer wie auch immer ans Ruder gelangten dominanten Mehrheitspartei und zusätzlich vielleicht noch an Personen verliehen wird, die es sich, dem eigentlichen Sinn der genuin bürgerschaftlichen Auszeichnung nach, gar nicht verdient haben können, seinen Wert verliert.

Frank Andert

[V&R 8/2010, S. 10-14]

Der Architekt und Freimaurer Oswald Haenel und seine Oberlößnitzer Villa

»Denken, was wahr, und fühlen, was schön, und wollen, was gut ist: Darin erkennet der Geist das Ziel des vernünftigen Lebens.« Diese Weisheit Platos hatte sich der Architekt Oswald Haenel zur Lebensmaxime erkoren, und sie ließ er auch an prominenter Stelle an der Fassade seiner von ihm selbst im Stile des malerischen Späthistorismus entworfenen Villa Weinbergstraße 40 in Oberlößnitz anbringen. Spaziergängern dürften jedoch eher die aufwendigen Malereien ins Auge fallen, wenn sie durch das grüne Holztor auf den erhabenen Bau blicken – die Granatäpfel über den Säulen des Balkons, die Siegesgöttin mit dem Spruchband und der »Zeremonienmeister« am Turmzimmer. Dass darin auch eine Botschaft steckt, erschließt sich nicht auf den ersten Blick.

Als Haenel die Villa 1894/95 durch die Firma Gebrüder Ziller errichten ließ, verfügte er bereits über fast drei Jahrzehnte Berufserfahrung. Am 12. September 1842 als Sohn des Königlich Sächsischen Oberlandbaumeisters Karl Moritz Haenel in Dresden geboren, hatte Oswald Johann Samuel Haenel nach dem Besuch der Gebhardt’schen Privatschule und der Neustädter Realschule 1860 ein Studium der Architektur aufgenommen. Bis 1863 lernte er am Königlich Sächsischen Polytechnikum Dresden und sammelte 1864/65 als Mitarbeiter im Architekturbüro Giese & Schreiber erste Erfahrungen in der Praxis. Von 1865 bis 1869 setzte er sein Studium an der Dresdner Kunstakademie im Atelier des Semper-Nachfolgers Georg Herrmann Nikolai fort und unternahm im Anschluss ausgedehnte Studienreisen u.a. nach Oberitalien, wo er offensichtlich nachhaltige Inspiration fand; auch sein Oberlößnitzer Domizil lässt noch den Einfluss der italienischen Villenarchitektur erkennen.

1871 gründete Oswald Haenel mit seinem ehemaligen Kommilitonen Bruno Adam ein eigenes Architekturbüro. Haenel übernahm dabei hauptsächlich künstlerische Aufgaben, Adam die geschäftlichen. Von den zahlreichen in der Zeit dieser Zusammenarbeit entstandenen Bauten sind leider nur wenige erhalten geblieben, darunter der 1875/76 ausgeführte Neubau des Großenhainer Rathauses, der Haenels Ruf als hervorragender Vertreter der deutschen Neorenaissance begründete. In Dresden entwarfen Haenel & Adam u.a. die im Zweiten Weltkrieg zerstörte komplette Bebauung am Sachsenplatz einschließlich der festungsartigen Jägerkaserne (1879/81). Nach der Trennung von Adam 1883 machte sich Haenel dann – von gelegentlichen Großprojekten wie dem Neubau der Königlichen Brand-Versicherungskammer am Dresdner Palaisplatz (1899) abgesehen – vor allem als Villenarchitekt einen Namen. Einige meisterhafte Beispiele dafür finden sich auch in der Lößnitz, darunter neben seiner eigenen die Fabrikantenvillen Clara-Zetkin-Straße 15 (1899, für Georg Gebler) und Schillerstraße 18 (1900/01, für August Koebig).

Von den zahlreichen Mitgliedschaften Oswald Haenels in Vereinen und Verbindungen sind einige von besonderer Bedeutung. Zu erwähnen ist seine Mitgliedschaft in der Freischlagenden Studentenverbindung »Polyhymnia« Dresden; für seinen Corpsbruder Fabrikdirektor Dr. Albin Jentzsch entwarf Haenel 1898/1899 die Villa Goethestraße 34 in Radebeul. Daneben war Haenel Mitglied im Dresdner Architekten-Verein, dessen Vorsitz er von 1896 bis 1898 innehatte, sowie der Dresdner und der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft. Am interessantesten jedoch ist seine Zugehörigkeit zur Dresdner Freimaurerloge »Zum Goldenen Apfel«. Am 4. November 1892 als Lehrling aufgenommen, bestand Oswald Haenel bereits 1893 die Gesellenprüfung, wobei er seine Ordensbrüder mit einem Vortrag über »den Architekten in seiner Beziehung zum Freimaurertum« beeindruckte. 1895 schließlich fand Haenels Meisterweihe statt; seine mit diversen Logensymbolen versehene Oberlößnitzer Villa stellte dabei mit großer Wahrscheinlichkeit sein Meisterstück dar.

Die Symbolik beginnt schon am Torbogen zur Straße. Dessen Schlussstein ist mit einer umgekehrten, abgebrochenen Säule mit Winkelmaß und Senkblei verziert, die die Umwandlung des rauen in einen behauenen Stein symbolisiert. Die abgebrochene Säule steht in der freimaurerischen Symbolik auch für das Ende, den Tod; durch ihre Umkehrung wird allerdings ein Neubeginn bezeichnet, welchen Haenel in seinem Beitritt zum Freimaurertum sah. Auch die zwei Säulen am südlichen Balkon des Hauses geben Material für Deutungen. Über den Säulen gelegene Fassadenmalereien, schmuckvolle Blüten, Granatäpfel und Ranken, legen nahe, dass es sich um eine Darstellung der Säulen Boas und Jakin des salomonischen Tempels handelt, welche bei Logentreffen sowohl als Zeichen für die geistige Verbundenheit der Freimaurer wie auch für die Polarität des irdischen Lebens stehen. Im Stuck, in den Deckenmalereien und den Bleiglasfenstern des Hauses sind immer wieder Lilien, Rosen, Lorbeer und Akazien zu erkennen, Pflanzen also, die in der freimaurerischen Symbolik für das Wissen um den Schatz der Weisheit stehen, der sich mit Schönheit und Heldentum paart. Die Außenmalereien des Turmzimmers zeigen auf der Südseite einen Zeremonienmeister, welcher traditionell ein Logentreffen von der Südseite aus eröffnet. Auf der Ostseite ließ sich Haenel vermutlich selbst darstellen, als schelmischer Hausgeist mit Architektenmappe unterm Arm. Das sollte möglicherweise Haenels Aufstieg innerhalb seiner Bruderschaft symbolisieren, denn die Meister der Loge nehmen bei den Treffen immer im Osten Platz.

Oswald Haenel bewohnte sein symbolträchtiges Haus, in dem er auch sein Büro unterhielt, nur für gut anderthalb Jahrzehnte. Am 22. Juni 1911 starb er nach langem Leiden in Dresden und wurde auf dem dortigen St.-Pauli-Friedhof beerdigt. Seine Oberlößnitzer Villa, die zu seinen gelungensten Arbeiten zählt, wurde 1912 vom Arzt und Historiker Dr. Walter von Bötticher (1853-1945) erworben (vgl. V&R 12/2003). Die aufwendige und mit viel Liebe fürs Detail durchgeführte Sanierung vor wenigen Jahren, die 2006 mit einem Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege prämiert wurde, hat diesem besonderen Baudenkmal seinen alten Glanz zurückgegeben.

Leonore Schicktanz

Bei Dr. Jens Wiedemann, der mit seiner Familie heute die Villa Weinbergstraße 40 bewohnt, möchte ich mich ganz herzlich dafür bedanken, dass er mir freundlicherweise seine umfangreiche Materialsammlung zu Oswald Haenel zur Verfügung gestellt hat.

[V&R 7/2010, S. 1-3]

»Damit der Volksmund Recht behält…«

Die Spitzhaustreppe ist die – nach Länge und Höhenmetern – größte barocke Treppenanlage Sachsens und inzwischen weit über Radebeul hinaus auch als Marathonlaufstrecke »zum Mount Everest« bekannt. Im Volksmund trägt das Bauwerk auch noch einen anderen Namen. Ein rühriger Vereinfreund wurde neulich, als er sich dort zu schaffen machte, sogar von einem dänischen Ehepaar darauf angesprochen, ob das denn hier die berühmte »Jahrestreppe« sei.

Zweifel waren den Touristen vermutlich deshalb gekommen, weil es beim Zählen mit den angeblich 365 auf 52 Absätze verteilten Stufen weder von oben noch von unten so richtig hinhauen wollte. Die Spitzhaustreppenläufer wissen es aus leidvoller Erfahrung wahrscheinlich am besten: Die »Jahrestreppe« hat 397 Stufen, keine mehr, aber eben auch keine weniger.

Spitzhaustreppe um 1910

Auf einer alten Ansichtskarte der Hoflößnitz von 1910 fand ich neulich gar die Angabe »Große Treppe mit 447 Stufen«, gezählt vermutlich etwa von der heutigen Hoflößnitzstraße aus. Wäre die Treppe im Jahre 708 nach Gründung der Ewigen Stadt von den alten Römern erbaut worden, hätte sie damit glatt als »Verworrene Jahrestreppe« durchgehen können, denn dieses »verworrene« Jahr vor Einführung des Julianischen Kalenders 45 v. Chr. hatte ja 445 Tage. Ganz so alt ist sie aber nicht. Genau genommen ist die heutige Spitzhaustreppe sogar noch ziemlich jung. Nach fast hundert Jahren andauernder Beschwerden über den zunehmend halsbrecherischen Charakter der sandsteinernen Himmelsleiter wurde die letzte grundlegende Erneuerung, bei der kein Stein auf dem andern blieb, erst 1992 abgeschlossen.

Die ursprünglich noch größere Beschwerlichkeit des Aufstiegs über die die Weinbergsterrassen verbindenden Treppchen und Steilpfade mag ein Grund dafür gewesen sein, dass August der Starke seinem Landbaumeister Pöppelmann Anfang des 18. Jahrhunderts den Auftrag erteilte, eine bequeme und standesgemäße Verbindungstreppe zwischen Herren- und Spitzhaus zu projektieren. Der ehrgeizige Plan von 1715, der auch die Errichtung eines prunkvollen Belvederes auf der Höhe vorsah, wurde aber aus Kostengründen zurückgestellt und erst von 1747 bis 1750 in einer deutlich abgespeckten Variante realisiert. In einem zeitgenössischen Aktenstück heißt es dazu: »Anno 1750 ist diese Treppe zu Ende gebracht [worden], und sind also überhaupt 325 Stuffen […] allemahl 6 Stuffen und hernach ein Fletz [= Absatz] durchgehends nauff.« Nach der planvollen Anlage einer »Jahrestreppe« klingt das nicht. Schon Staatsarchivar Hans Beschorner stellte 1904 in seinem Aufsatz »Die Hoflößnitz bei Dresden« fest, dass »dieser Treppe irrthümlicherweise im Volksmunde so viel Stufen, wie Tage im Jahre, zugeschrieben werden.« 1

Erfunden wurde die »Jahrestreppe« vermutlich erst nach einem kompletten Neuaufbau 1845/46, geleitet übrigens von Landbaumeister Karl Moritz Haenel, dessen Sohn im aktuellen Heft ein eigener Beitrag gewidmet ist. Dabei vereinheitlichte man die Treppengliederung, und die Abschnitte bekamen jeweils sieben Stufen. Anzunehmen ist, dass die Treppe damals noch nicht direkt am Eingang zum Goldenen Wagen begann, sondern erst weiter oben. Möglicherweise hat die Gesamtstufenzahl zeitweise wirklich um die 365 gelegen, aber sicher nicht lange.

Bei der neuerlichen Sanierung der Spitzhaustreppe 1992 kam dann jemand auf die charmante Idee, die Höhe zu markieren, wo, von unten aus, die letzten 365 Stufen beginnen. Eine Messingtafel wurde angefertigt, darauf der von Architekt Wolfram Sammler gedichtete Spruch:

»Damit der Volksmund Recht behält,

wird künftig erst ab hier gezählt.

Von hier an ist es wirklich wahr,

bis oben hin ergibt’s ein Jahr.«

Auf das Gute im Menschen vertrauend, erfolgte die Anbringung an der entsprechenden Stelle der Grundstücksmauer von Familie Landsberg mit gewöhnlichen Schrauben. Der Rest lässt sich denken – kurz darauf war das Schild geklaut und blieb verschwunden.

Dem Engagement und handwerklichen Geschick von Vereinsmitglied Christian Schramm ist es nun zu verdanken, dass die lange vermisste Tafel im April dieses Jahres durch eine neue ersetzt werden konnte (diesmal fest verankert). Bereitwillig unterstützt wurde Herr Schramm dabei von der Stadt und der Firma Werkzeughandel Paufler, Radebeul. Allen und besonders dem Initiator dafür herzlichen Dank!

Für akribische Zähler noch ein Hinweis: Sie haben Recht, oberhalb des Schildes kommen tatsächlich nur noch 364 Stufen. Zu ernst sollte man den Spaß aber auch nicht nehmen…

Frank Andert

[V&R 7/2010, S. 4-6]

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  1. Dresdner Geschichtsblätter, Jg. 1904, S. 239f.

Radebeuler Ehrenbürger (Teil 4): Oswald Hans

Nachdem dem langjährigen Radebeuler Bürgermeister Robert Werner beim Ausscheiden aus dem Amt 1927 das Ehrenbürgerrecht seiner Stadt verliehen worden war (vgl. V&R 5/2010), verstand es sich angesichts der dauernden Rivalität beider Lößnitzstädte fast von selbst, dass seinem Kötzschenbrodaer Gegenpart aus gleichem Anlass die nämliche Ehre zuteil werden würde. Und tatsächlich hieß der dritte Kötzschenbrodaer Ehrenbürger  Bürgermeister Oswald Hans.

Oswald Hans

Geboren am 18. Juni 1866 in Glauchau, hatte Oswald Albert Hans nach der Schule die Verwaltungslaufbahn eingeschlagen und bereits in verschiedenen sächsischen Kleinstädten Beamtenposten bekleidet, als er sich Anfang 1904 auf die eilig ausgeschriebene Stelle des Niederlößnitzer Gemeindevorstands bewarb. Sein Vorgänger, der erste berufsmäßige Gemeindevorstand Max Herz, war am 1. Dezember 1903 nur 45-jährig verstorben. Die kurz darauf  und nicht zuletzt aus diesem Anlass begonnenen Verhandlungen über eine Vereinigung von Kötzschenbroda und Niederlößnitz – eigentlich ein Gebot der Stunde – waren im März 1904 am ablehnenden Votum des Niederlößnitzer Gemeinderates gescheitert. Für den vakanten Vorstandsposten gab es dann nur einen Bewerber, und so wurde Oswald Hans am 14. April 1904 einstimmig zum neuen Gemeindeoberhaupt gewählt.

Die Niederlößnitzer hatten in den folgenden Jahren keinen Grund, diese Wahl zu bereuen. Hans erwies sich als kompetenter Fachmann und zeigte sich den Herausforderungen gewachsen. Allzu groß waren diese allerdings zunächst auch nicht. Hans übernahm eine steuerkräftige Villengemeinde mit knapp viereinhalbtausend Einwohnern, die mit dem Wasserwerk und dem Elektrizitätswerk über zwei gut funktionierende Eigenbetriebe verfügte; die wesentlichen Hausaufgaben waren bereits erledigt. Kritisch wurde die Lage erst im und nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die seit Mitte des 19. Jahrhunderts recht einseitig verlaufene Entwicklung hin zur fast reinen Rentnergemeinde mit schwacher wirtschaftlicher Basis als Bumerang entpuppte. Hans bewies aber auch in dieser Situation, dass er sein Metier verstand. Für seine umsichtige Verwaltungsführung im Krieg wurde ihm der Sächsische Kriegsverdienstorden verliehen. Nach dem Krieg trug er zur Lösung der drängenden Probleme bei, etwa zur Entschärfung der Wohnungsnot durch die Einrichtung des kommunalen Rentnerheims Altfriedstein.

Auch setzte Hans sich – gegen die vor allem in Niederlößnitz stark vertretene separatistische Haltung – 1921 mit für eine Vereinigung aller Lößnitzgemeinden zur Stadt Elblößnitz ein. Daraus wurde zunächst bekanntlich nichts, doch als 1923 die Vereinigung der westlichen Lößnitz spruchreif wurde, vermochte er die sich weiter sträubenden Gemeindeverordneten von Niederlößnitz zur Zustimmung zu bewegen, handelte im Vereinigungsvertrag diverse Zugeständnisse an seine Gemeinde heraus und wurde, obwohl er der dienstjüngste der drei amtierenden Gemeindevorstände war, im Oktober 1923 dann auch zum ersten Bürgermeister des größeren Kötzschenbroda gewählt. Die Konsolidierung dieser vereinigten Gemeinde, die 1924 das Stadtrecht erhielt, war in schwieriger Zeit keine leichte Aufgabe. Hans konnte in den ihm verbleibenden Amtsjahren trotzdem einige Erfolge vorweisen, so die mit umfangreichen Neubauten verbundene Ansiedlung der Verwaltungszentrale des Elektrizitätsverbands Gröba, die Einrichtung eines zweiten städtischen Rentnerheims im ehemals Oederschen Sanatorium und die Neuorganisation des Berufsschulwesens und Schaffung eines eigenen Berufsschulgebäudes.

»Beim Übertritt des Herrn Ersten Bürgermeister Hans in den Ruhestand haben die städtischen Kollegien ihm in Anerkennung der besonderen Verdienste, die er sich in 25jähriger Dienstzeit als Leiter der früheren Gemeinde Niederlößnitz und später als Erster Bürgermeister der Stadt Kötzschenbroda um diese Gemeinwesen, deren Einrichtungen und insbesondere auch um ihre Verbandsunternehmungen erworben hat, zum Ehrenbürger der Stadt Kötzschenbroda ernannt.« So lautete der Text des auf den 30. April 1929 datierten und vermutlich schon von Hans’ Nachfolger Dr. Wilhelm Brunner unterzeichneten Ehrenbürgerbriefs. Die Gemeindefinanzen hatte letzterer bei seinem Amtsantritt zwar in guter Ordnung vorgefunden, in seinem Tagebuch bezeichnet er die damalige Kötzschenbrodaer Verwaltungsstruktur allerdings als denkbar »hinterwäldlerisch« und ineffektiv. Mit diesen, den Befindlichkeiten in der Vereinigungsdiskussion geschuldeten Hemmnissen aufzuräumen, waren neue Kräfte von außen nötig. Nach der mit dem Auszug aus dem Rathaus verbundenen Pensionierung bezog Oswald Hans eine Wohnung im Haus Grüne (heute Dr.-Külz­) Straße 19. Er starb am 13. Januar 1946 im 80. Lebensjahr in Radebeul.

Ilse Seiler und Frank Andert

[V&R 7/2010, S. 10f.]

Was uns Häusernamen sagen können (Teil 3)

(Fortsetzung des Beitrags im  Aprilheft)

»Villa Dorothee« (Obere Bergstr. 20): 1974, also hundert Jahre nach Errichtung der bis dahin namenlosen Mietvilla, verewigte der heutige Eigentümer hier den schönen Vornamen seiner Tochter. Die großen, in vereinfachter Antiqua ausgeführten Buchstaben heben sich hell über dem Putzband unter der Traufe ab.

»Villa Marie.« (Dr.-R.- Friedrichs-Str. 17): Die heute als Hotel-Pension genutzte Villa wurde 1895 für den Kaufmann Robert Richter erbaut. Der Name am Giebel war von Anfang an vorhanden und bezieht sich auf Marie Richter, die Ehefrau des Bauherrn. Es wurden große, schwarze Metallbuchstaben eines breiten Antiquatyps verwendet. Hier fiel mir zum ersten Mal die eigenartige Schreibweise mit Punkt am Ende auf.

»Villa Susanna.«/ »Villa Hanni« (K.-Liebknecht-Str. 3): Abgebröckelter Spritzputz der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts gab die Spuren von drei übereinander liegenden Häusernamen auf Glattputz frei – 2x Villa Susanna in unterschiedlichen Lettern und Villa Hanni. Welches die historische Reihenfolge der Schriften war, sollte ein Restaurator feststellen. Bei einer Sanierung der Mietvilla besteht der Anspruch, eine der Schriften in Abstimmung mit den Eigentümern wieder herzustellen.

»Gertrud’s Heim« (Goethestr. 19): Am Westgiebel des 1928 als Doppelhaus errichteten Wohnhauses stand bis 2007 in plastischer Stuckschrift der an die Ehefrau des Bauherrn Max Müller erinnernde Name. Bei der Sanierung 2008 konnte die bröcklige Schrift (Wetterseite) nicht erhalten werden, wurde aber vom Maler mit geringen Retuschen und angedeutetem Schatten wieder hergestellt.

»Villa Heimburg« (H.-Ilgen-Str. 21) und »Heimburg« (Borstr. 15): Beide Häuser haben einen Bezug zur Schriftstellerin Bertha Behrens, alias Wilhelmine Heimburg. Seit 1881 lebte sie mit ihrem Vater in dem um 1870 erbauten Haus Hermann-Ilgen-Str. 21, wo sie am Ostgiebel mit malermäßigen Mitteln Villa Heimburg anbringen ließ. Das zurzeit stark sanierungsbedürftige Haus Borstr. 15 bezog sie 1910 und starb 1912 da. Die plastische Putzschrift erfolgte in Anlehnung an Jugendstilschrift.

»Villa Susanne« (Dr.-Külz-Str. 34): Die 1899 für den Dresdner Lehrer Bruno Krause errichtete, große Mietvilla hatte Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Sanierung anlief, keinen erkennbaren Namen mehr. Vom einstmals vorhanden gewesenen, aber unbekannten Namen erkannte man vom Gerüst aus nichts als die Dübellöcher. Nach diesen konnte der Name Villa Susanne rekonstruiert werden. (Ein Blick in eines der Niederlößnitzer Adressbücher aus der Zeit vor dem I. Weltkrieg hätte auch geholfen, dort ist das Haus als »Villa Susanna« geführt.) Die neuen, blockhaften Metallbuchstaben verzichten bewusst auf die Anlehnung an einen Stil und geben sich so als eine neue Schrift (Type Impact) nach altem Inhalt zu erkennen. Das zeitgleich ebenfalls für Bruno Krause errichtete Nachbarhaus Dr.-Külz-Str. 32 trug früher übrigens den Namen »Villa Doris«. Vielleicht hat der Bauherr, der in der »Villa Susanna« eine Sommerwohnung unterhielt, ja die Namen seiner Töchter verewigt.

»Villa Falkenstein« (E.-Bilz-Str. 44): Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war die Mietvilla in abgewohntem Zustand – die abgefallenen, plastischen Buchstaben (Antiqua) hatte ein Mieter aufgesammelt. Mit dem neuen Bauherrn wurden sie im Rahmen der Sanierung 1997 wieder an der originalen Stelle über den Mittelfenstern des 1. OG angebracht. Der Name bezieht sich auf die Familie des Erstbesitzers (nach Errichtung 1888 durch die Gebr. Ziller) Baron Louis Trützschler von Falkenstein.

»Villa Eugenie« (E.-Bilz-Str. 42): Das um 1890 ebenfalls durch die Gebr. Ziller errichtete Gebäude trug bisher keinen Namen. Der engagierte neue Eigentümer saniert seit 2008 die Mietvilla und hat sich im Archiv über die Eigentümerfolge informiert. Die Frau des Erstbesitzers, Major Hermann Villnow, hieß Eugenie. Ihr zu Ehren trägt das Haus jetzt den Namen Villa Eugenie.

»Villa Rossija.« (L.-Richter-Allee 8): Hier kommt wieder ein Hausname mit geografischem Bezug und Punkt. Architekt Adolf Neumann baute die Villa 1888 für Familie Zeitschel. Möglicherweise geht der Name »Russland« auf den späteren Eigentümer Julius Kinze (1908) zurück, der Kaufmann war und in der Eigenschaft wohl auch Russland bereiste. Bereits vorher hatte es auf der damaligen Alleestraße eine geografisch bezeichnete Villa gegeben, die Nr. 2 wird in alten Adressbüchern als »Villa India« geführt.

»Villa Heimkehr« (A.-Bebel-Str. 9): Das 1926 nach Entwurf des Architekten Max Czopka errichtete Wohnhaus trug von Anfang an diesen Namen, der sich auf die Heimkehr des Bauherrn Karl Heilberg aus dem I. Weltkrieg bezieht. Leider wirkt die Stuckschrift hier etwas zu gekünstelt und ist dementsprechend schwer zu entziffern. Vielleicht wäre auch etwas mehr farblicher Kontrast hilfreich gewesen.

»Gotenburg« (Augustusweg 101): Das 1954 errichtete Wohnhaus mit Turm und kleiner Sternwarte trägt am Turm eine umbrafarbene Sgraffitoschrift mit Jahreszahl und o. g. Namen, der sich auf den germanischen Volksstamm der Goten bezieht. Die Familie der Erbauer konnte leider nicht mehr bestätigen, dass es sich hierbei um ein Werk des Dresdner Künstlers Hermann Glöckner handelt. Einen Bezug auf die Goten finden wir ebenfalls beim »Haus Gotendorf«, Karlstr. 4.

»Villa Zucca« (Obere Bergstr. 11): Hier finden wir an der kleinen, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erbauten Villa eine moderne Fassadenschrift. Früher trug sie keinen Namen, aber die aktuellen Eigentümer hatten Freude an dem italienischen Namen, der Kürbis bedeutet. Als sie hier her zogen, fanden sie im Garten wild wachsende Kürbisse. Die gleiche Schriftgestaltung ist bei »Villa Madelon«, (Paradiesstr. 36) zu finden.

Text und Fotos: Dietrich Lohse

[V&R 6/2010, S. 2-6]

(B)RECHT SCHAFFEN

»Der kaukasische Kreidekreis« an den Landesbühnen

Von Schauspielern erwartet der Zuschauer gewöhnlich, dass sie ganz in ihrer Rolle aufgehen. Gute Schauspieler erkenne man daran, so heißt es, dass ihre Persönlichkeit hinter der dargestellten Figur verschwindet. Das bürge für authentische Emotionen, und auf deren Zurschaustellung basiert ein großer Teil der dramatischen Literatur. Nicht aber zum Beispiel der Kaukasische Kreidekreis, eines jener seiner Stücke, die Bertolt Brecht unter den Begriff des »Dialektischen Theaters« gefasst wissen wollte. Lässt man die literaturwissenschaftlichen Feinheiten einmal beiseite und denkt über die von Brecht zugedachte Rolle als Zuschauer in seinem Stück nach, dann stellen sich Anfang und Ende der von Arne Retzlaff mit konzeptioneller Klarheit besorgten Inszenierung so dar: Drei Musiker (Ulrike Drude – Violine, Uwe Zimmermann – Klavier und Paul Hoorn – Gesang und diverse Instrumente) kommen auf die Bühne, und dann beginnt der Sänger seinen Bericht über ein Geschehen (Komposition: Paul Dessau). Die Schauspieler ihrerseits illustrieren dieses Geschehen in ihren Aktionen und Reden und kehren am Schluss wieder in ihre Ausgangslage zurück, wie um zu sagen: Wir könnten auch noch einmal spielen, es bedürfte nur des Signals des Sängers und wir stellen Stimme und Körper noch einmal in den Dienst der Vermittlung dieser Fabel. Denn dem Zuschauer obliegt es, den Vorgängen auf der Bühne (der von Cornelia Just entworfene, sich nach hinten verjüngende Raum ist als variabel bespielbarer Ort angelegt, dessen seitliche Begrenzung als Auf- und Abgänge, als Fensterhöhlen und sogar als beschreibbare Projektionstafeln dienen) zu folgen und sich eine Meinung über den dargestellten Sachverhalt zu bilden, ohne dass es vordergründig Aufgabe der Schauspieler wäre, Sympathien oder Antipathien zu wecken. In dem im Kreidekreis verhandelten Fall geht es übrigens um einen Rechtsstreit zweier Frauen um ein Kind, den Brecht nach biblischer und altchinesischer Vorlage in den Kaukasus verlagerte und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Erfahrungen in den 1940er/1950er Jahren dramatisierte (wobei weder Ort noch Zeit der Handlung exakt benannt werden, weil sie schließlich auch nicht wichtig sind). Soweit die Theorie.

Die ästhetische Praxis während der dreieinhalb als kurz empfundenen Stunden zieht den Zuschauer unweigerlich hinein in Ereignisse, denen er nicht ohne innere Anteilnahme und wachsende Anspannung folgen kann. Das liegt daran, dass die Hauptfiguren Grusche Vachnadze (Franziska Hoffmann in ihrer bislang stärksten Rolle an den Landesbühnen) im ersten Teil vor der Pause und Azdak (Michael Heuser mischt in seine Partie als Richter wider Willen eine gehörige Portion Bauernschläue und Sinnesfreude) nach der Pause eigentlich ganz »unbrechtisch« daherkommen und ihre Figuren durch die Akteure bis an die Grenzen des noch Zulässigen »ausgespielt« werden. Ähnlich verhält es sich mit Simon Chachava (Marc Schützenhofer), dem Verlobten Grusches, wobei er nicht wie etwa Grusche neben sich treten und in Gesangsnummern über seine Lage reflektieren kann. Die anderen Figuren (es sind zu viele, als dass sie an dieser Stelle alle genannt werden könnten) werden durch die Regie streng geführt und bleiben ihrem jeweiligen Rollenauftrag treu, ohne jedoch den von Brecht selbst postulierten Grundsatz zu verletzen, wonach sein Theater auf sinnliche und heitere Weise zu unterhalten habe.

Warum ein Brecht, warum gerade dieser Brecht zu dieser Zeit? Noch während des Stückes drängten sich mir die Bilder aus Kirgistan auf, wo Anfang April der Präsident gestürzt wurde und in den Süden des Landes fliehen musste. Unruhen im Land spülten dort neue Machthaber nach oben, noch immer ist die Lage unübersichtlich, der Präsident sammelt gerade seine Getreuen und plant die Rückeroberung der Macht. Überraschende Parallelen zur Ausgangs- und Konfliktlage im Kreidekreis. Gut möglich, dass es auch dort gerade wieder Grusches gibt, die Kinder an sich nehmen, um sie vor dem Verderben zu bewahren, ohne allerdings das Recht dazu zu haben. Die Erfahrung, dass nicht alles, was Recht ist, auch als gerecht wahrgenommen wird bzw. dass Gerechtigkeit immer subjektiv empfunden, Recht dagegen von normativ-objektiver Warte aus gesprochen werden muss, gehört zu den unauflösbaren Widersprüchen unseres alltäglichen Daseins. Insofern bildet der geschickte Kniff, mit dem Brecht den Kreidekreis gut ausgehen lässt und Azdaks Rechtsprechung am Gerechtigkeitsgefühl des Zuschauers entlang erfolgt, ein Zeichen der Hoffnung, dass die Dauerenttäuschung über die Ungerechtigkeiten des Lebens für einmal aufgehoben und ins Gute gewendet wird. So sah es allem Anschein nach auch das Premierenpublikum, das sich mit langem Applaus für einen gelungenen Abend bedankte.

Bertram Kazmirowski

[V&R 6/2010, S.10f.]

Radebeuler Ehrenbürger (Teil 3): J. Wilhelm Hofmann

Zum zweiten Ehrenbürger von Kötzschenbroda wurde durch Stadtverordneten-Beschluss vom 1. Dezember 1927 einer der bedeutendsten Unternehmer der Stadt ernannt, der sich in seiner Wahlheimat nicht nur als großer Steuerzahler, sondern vor allem auch durch sein soziales und kulturelles Engagement Achtung und Dankbarkeit erworben hatte: Der Ingenieur J. Wilhelm Hofmann

J. W. Hofmann um 1935

Johannes Wilhelm Hofmann wurde am 8. April 1876 in König Erbach im Odenwald geboren. Er stammt aus einer kinderreichen Familie und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Als Kind hatte er seine jüngeren Brüder betreuen müssen, und aus dieser Zeit wird ihm bereits Erfindergeist nachgesagt: Aus einem System von Schnüren, die er an der Wiege seiner jüngeren Geschwister befestigte, hatte er sich eine Art Fernbedienung ausgedacht, mit der er von draußen aus das Geschehen im Zimmer »in der Hand« hatte, ohne seinen Spielplatz verlassen zu müssen.

Über Hofmanns Lehr- und Wanderjahre ist wenig bekannt. Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts verschlug es den frisch gebackenen Ingenieur nach Kötzschenbroda, von wo seine Frau stammte. Hier gründete er 1902 eine »Fabrik elektrischer Apparate«, die er mit anfangs vier Arbeitern in zwei gemieteten Werkstatträumen an der Meißner Straße betrieb. Er setzte mit der Produktion von Nietverbindern eine eigene, international preisgekrönte Erfindung in die Praxis um, die den Bau von Freileitungen für die Energieversorgung wesentlich vereinfachte.

Das Unternehmen entwickelte sich rasant: 1906 zog die Firma nach der Blücherstraße 11 in ein eigenes Fabrikgebäude (heute B.-Voß-Str. 25), das sich schon bald wieder als zu klein erwies. Ab 1919 erfolgte der Umzug an die Fabrikstraße 27, wo ein neues Verwaltungsgebäude und eine neue Werkhalle errichtet wurden, die bis heute genutzt werden. 1925 wurde J. W. Hofmann mit einer Kapitalbeteiligung Teilhaber der Firma Richard Bergner (RIBE) in Schwabach. Als Hofmanns Firma 1927 ihr 25-jähriges Bestehen beging, beschäftigte sie bereits 520 Mitarbeiter, war mit modernsten Werkzeugmaschinen ausgerüstet und belieferte das In- und Ausland mit elektrischen Armaturen aller Art (vgl. V&R 10/2005, S. 6-9).

Dieses Jubiläum war auch der Anlass für die Verleihung des Ehrenbürgerrechts. Im Begründungsschreiben der Stadt sind drei Punkte besonders erwähnt: Hofmanns langjährige Mitarbeit im Gemeindeverordnetengremium, seine stete Hilfsbereitschaft sowie sein Einsatz für die Linderung sozialer Nöte. Der neue Ehrenbürger bedankte sich generös, indem er der Stadt 10.000 Mark zur Errichtung einer Kindertagesstätte stiftete, für die er später noch mehrfach tief in die Tasche griff. Auch andernorts war Hofmann hoch geschätzt; 1929 verlieh ihm die TH Braunschweig den Titel Dr.-Ing. e.h., die TH Dresden ernannte ihn zum Ehrensenator.

Weil sich seine Firma den dort während des II. Weltkriegs eingesetzten Fremdarbeitern gegenüber erwiesenermaßen anständig verhalten und keine Rüstungsgüter produziert hatte, blieb die Fabrik 1945 von Demontagen verschont. Reparationsleistungen an die Sowjetunion lieferte der Betrieb in Form von »know how«: Über einen Zeitraum von mehreren Jahren hielten sich sowjetische Offiziere im Betrieb auf und kopierten technische Details aus den Unterlagen.

Da das Radebeuler Unternehmen als bisher unbestrittener Marktführer auf dem Gebiet der Hochspannungsarmaturen die Belieferung der westlichen Besatzungszonen nicht mehr gewährleisten konnte, übernahm auch das befreundete Unternehmen RIBE in Schwabach die Produktion nach den originalen Radebeuler Unterlagen. Dies wurde 1951 in der DDR zum Anlass genommen, J. W. Hofmann und seinen Sohn wegen Zoll- und Devisenvergehen festzunehmen und das gesamte Privat- und Betriebsvermögen einzuziehen. Hofmann wurde aus gesundheitlichen Gründen entlassen und übersiedelte 1953 nach Nürnberg, sein Sohn folgte ein Jahr später.

In einem Brief an den damaligen Radebeuler Bürgermeister hat Hofmann sein Bedauern über diesen Schritt geäußert und darum gebeten, dass sich die Stadt um das Wohl des Betriebes kümmern möge. Ab 1953 wurde das Radebeuler Unternehmen als VEB Hochspannungs-Armaturenwerk (HAW) weitergeführt, 1991 wurde es von der Firma Richard Bergner Elektroarmaturen übernommen und firmiert seit 2000 unter RIBE Elektroarmaturen Radebeul.

J. Wilhelm Hofmann starb am 12. September 1956 in München. Sein letzter Wille, in der Familiengrabstätte in Radebeul beigesetzt zu werden, ließ sich angesichts der politischen Situation nicht realisieren. Seinen Spuren kann man in Radebeul aber noch an manchen Stellen begegnen, so in den von ihm gestifteten Bleiglasfenstern in der Berufsschule an der Straße des Friedens und in verschiedenen Baulichkeiten, darunter seine 1916 errichtete repräsentative Villa Ledenweg 2. Das ehemals Hofmannschen Kinderheim Am Gottesacker 6 ist heute Ökumenisches Kinderhaus in der Trägerschaft des Kinderarche Sachsen e.V.

Eckhart Bürkner, IG Heimatgeschichte

[V&R 6/2010, S. 16-18]

Glossiert: Radebeul greift nach den Stern(ch)en

»Was lange währt, wird endlich gut«, sagt ein altes Sprichwort, und endlich ist es nun soweit: Endlich bekommt auch die Radebeuler Hoflößnitz ihr olympisches Highlight und kann mitspielen in der Liga von »Musikantenstadel« & Co.

Richtig so, liebe Verantwortliche: Da ist doch nun wirklich mal ein tragfähiges Konzept geboren worden. Ewig nur Karl May und Herbst und Wein muss ja auf die Dauer langweilig werden. Weg mit den alten Zöpfen und den kleinen Brötchen und her mit neuen, großen, zündenden Ideen, wie sie kürzlich in der Werbezeitung »Hoflößnitzer Sommerspiele 2010« präsentiert wurden. Dort kann man detailliert nachlesen, welch großartige Schmankerln die Tage vom 12. bis 16. August für die Besucher der Lößnitzstadt und vor allem für die Radebeuler selbst bereithalten. Unerhörtes und noch nie Gesehenes wird zu bestaunen sein: Klassik, Kabarett, Open-Air-Kino und Musical! Wann durften die Radebeuler schon mal große Kleinkunst erleben? Wann hatten sie die Möglichkeit, ein Musical zu genießen oder ein Programm mit Johann-Strauß-Melodien, von DEFA-Filmen ganz zu schweigen? Wie ein warmer Sommerregen werden diese köstlichen Gaben unsere kulturelle Wüste befruchten. Bravo!

Man legt sich ins Zeug. Ensembles von südwestsächsischem Ruf konnten gewonnen werden, zum Beispiel die Vogtlandphilharmonie mit ihrer Strauß-Gala. »Der Aufwand dies zu verwirklichen wird ein großer Kraftakt«, informiert die Zeitung. Ein paar Kommas mehr oder weniger sind egal, wenn man das »Erfolgsrezept für gute Stimmung und ein besonderes Erlebnis« gefunden hat: »Vor allem die Location mitten in den Radebeuler Weinbergen macht den Reiz dieser Veranstaltung aus.« Da capo!

Für die kulturelle Allgemeinbildung wird schon im Vorfeld einiges geleistet. So kann man aus der tief schürfenden Abhandlung »Vom Ursprung des Musicals zur größten Gala-Show auf Hoflößnitz« sogar fast halb soviel über die Entwicklung des Genres erfahren wie aus den einbändigen Taschenausgaben gängiger Universallexika. Im August ist dann auf offener Bühne mit einer regelrechten Aufklärungsoffensive zu rechnen: Das Kabarett-Solo »War das schon Sex?« mit Peter Kube »klärt endlich die wichtigste Frage von Männlein und Weiblein auf«. Endlich!

Ganz umsonst ist dieses hochkulturelle Sommergewitter natürlich nicht zu haben. Aber wer »die besten Stücke aus den schönsten Musicals in einer gigantischen Show erleben« möchte, wird gern bereit sein, dafür schlappe 45 Euro hinzublättern. »Die Vogtlandphilharmonie mit ihrem Können, mit kraftvoller Anmut und romantischer Gefühlsseligkeit« gibt’s auf den billigen Plätzen schon für die Hälfte und die »Kultfilm-Premiere« von »Paul und Paula« – Kultfilm ja, Premiere Fragezeichen – vielleicht sogar noch günstiger, also fast geschenkt.

Wer beschert uns so großzügig, wer füllt diesen »einmaligen Rahmen von Besinnlichkeit«, wie der Stiftungsvorstandsvorsitzende in seinem Vorwort »den sommerlichen Charme unserer Hoflößnitz« preist, endlich mit den passenden Inhalten? Präsentiert werden die (fast) olympischen »Sommerspiele« vom »Elbland Tourismus- und Kulturverein e. V.«. Auf dessen Internetseite erfährt man über den Verein mit dem honorigen Namen im Moment leider nicht viel mehr als: »Diese Seite ist momentan noch in Bearbeitung«. Also doch noch schnell ein Blick ins Impressum des bunten »Hoflößnitzer Musikantenstadels 2010«. Und – siehe da! – auf einmal wird klar, warum uns das Blättchen gleich von Anfang an wie eine nachträgliche Extra-Ausgabe des guten alten Radebeuler »StadtSpiegel« vorgekommen war. Dahinter steckt der gleiche echte Tausendsassa! Wer es geschafft hat, »Howie« Carpendale für ein Konzert »auf Wackerbarth« wiederzubeleben, ist auch der richtige Mann für einen Neubeginn in der, pardon: »auf Hoflößnitz«. Nur eins haben wir auf dem Werbeblättchen schmerzlich vermisst: die »Nagg’sche« auf Seite eins. Die wollen wir im nächsten Jahr wiederhaben. Wenn es »auf Hoflößnitz« wirklich soweit kommen muss…

FAZIT

[V&R 6/2010, S. 22f.]

Boden-Schutz in Sachsen – ein Nachgeschmack zum Vortrag im Haus Lotter

»Wir haben die Erde von unseren Eltern nicht geerbt, sondern wir haben sie von unseren Kindern nur geliehen.« – Ein indianisches Sprichwort, das nicht besser zum Thema passen könnte.

Was bleibt, sind Fakten, Daten – nicht viele aus der Fülle des Genannten, diese aber lassen frösteln. Zum Beispiel: Sachsens Bevölkerung ist seit 1992 um 10 % geschrumpft, benötigt jedoch 20 % mehr Siedlungs- und Verkehrsfläche. Oder: Pro Tag wird in Sachsen die Fläche von durchschnittlich acht Fußballfeldern siedlungswirtschaftlichen Zwecken unterworfen, mit einem Versieglungsgrad von 40 bis 60 %, bundesweit sind es täglich etwa 140 Spielfelder.

Dadurch geht vor allem unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln ein Stück der nicht nachwachsenden Ressource Boden unwiederbringlich verloren! Boden, der Regenwasser zurückhält, Grundwasser neu bildet und vor Hochwasser schützt. Boden, der Schadstoffe abbaut und speichert, der für angenehmes Klima sorgt und nicht zuletzt Lebensraum für unzählige Lebewesen ist. Und Boden als Nahrungsgrundlage, nicht nur für uns Menschen, die auf globale Märkte ausweichen können.

Wir beschränken die Entwicklungsmöglichkeiten künftiger Generationen nicht nur ökologisch, räumlich und ökonomisch. Eine tendenziell ältere und abnehmende Bevölkerung wird die steigenden Kosten für den Unterhalt der geringer ausgelasteten Infrastruktur und den zunehmenden Leerstand aufbringen müssen. Sondern wir prägen deren »Umgangsformen«,  auch mit dem Boden.

Laut Beschluss der Umweltministerkonferenz von 2007 sollen 2020 in Sachsen nur noch zwei Fußballfelder Boden pro Tag verbraucht werden – wohlgemerkt bei weiter schrumpfender Bevölkerung! Gelingen wird dies allerdings nur durch einen wirklich restriktiven Umgang mit Neuausweisung von Bauflächen, denn viele rechtskräftige Bebauungsgebiete sind noch gar nicht »besiedelt«. Höchster Wert ist auf flächensparende und versiegelungsarme Erschließungs- und Siedlungsformen zu legen sowie auf verstärkte Innenentwicklung, also: Bauen im Bestand, Baulücken nutzen, Brachflächen revitalisieren. Dies ermöglicht es auch prosperierenden Regionen wie unserem Elbtal, ihren Beitrag zum Flächesparen zu leisten. Zumal man beim Flächenrecycling zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt – man gewinnt Bauland ohne neuen Flächenverbrauch und man beseitigt Schandflecke.

Bereits vor über 30 Jahren beschrieb Christopher Alexander genau dieses Entwurfs-Muster in »A Pattern Language«, einer Art Bibel der Entwurfslehre unter Architekten, Stadtplanern und Informatikern. Unter Muster 104 »Verbesserung des Bauplatzes« können wir lesen:

»Gebaut werden muss immer auf den schlechtesten Teilen des Grundstückes, nicht auf den besten.

Dieser Gedanke ist wirklich sehr einfach. Aber er ist das genaue Gegenteil von dem, was gewöhnlich geschieht; und es erfordert beträchtliche Willenskraft, ihn durchzuführen. […]

Wir müssen jeden neuen Bauvorgang als eine Gelegenheit betrachten, ein Loch im Kleid zu flicken; jeder Bauvorgang gibt uns die Chance, einen der hässlichsten und am wenigsten gesunden Teile der Umwelt gesünder zu machen – für die ohnedies gesunden und schönen Teile sind keine Maßnahmen nötig. In Wirklichkeit müssen wir uns zwingen, sie in Ruhe zu lassen, so dass unsere Energie wirklich den Stellen zugute kommt, die es brauchen.«

Auch Radebeul ist solch ein Bauplatz. Zwischen 1996 und 2008 wurde hier ein Areal von etwa 175 Fußballfeldern in Verkehrs- und Siedlungsfläche umgewandelt.1 Warum aber befinden sich neue Baugebiete gehäuft an den Ortsrändern – Paulsberg, Weidenweg, Waldstrasse? Warum liegt nach 20 Jahren das NÄHMATAG-Gelände immer noch brach und mindert die Wohnqualität der Umgebung? Hier wäre doch der ideale Standort für Town-Häuser, nicht am Ortsrand! Wo bleiben die »kostengünstigen, flächensparenden und ökologischen Bebauungen« in Nähe der Garten- bzw. Weststrasse, wie sie im Stadtleitbild seit 2002 beschlossen sind? Warum eine Abrundungssatzung für Wahnsdorf, wenn doch drei vorausgegangene Planungen eine Bebauungsgrenze um die historische Ortslage eindeutig ausweisen?

Allerdings hat Radebeul beim Bau der neuen Feuerwache aufs Schönste gezeigt, was in Brachen steckt. Aus diesem Beispiel können wir Kraft und Mut schöpfen.

Nicht zuletzt wird aber jeder Einzelne seinen Beitrag leisten müssen. Wie groß sind Hof und Zufahrt und wie viel muss davon befestigt sein? Welchen Bau von öffentlichen Parkplätzen und Straßen provoziere ich durch mein Fahrverhalten? Mache ich Entscheidungsträgern Mut, unpopulär »Nein« zu sagen bzw. sich an längst gefasste Beschlüsse zu halten?

Es wird dauern, bis der Bodenschutz in den Köpfen der Menschen angekommen ist, so Herr Siemer vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie; man muss immer und immer wieder darauf hinweisen.

Katja Leiteritz

[V&R 5/2010, S. 7-9]

  1. Quelle: Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen; Daten vor 1996 liegen nicht, nach 2008 noch nicht vor.
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