Eine der vier schönsten Jahrezeiten

Was assoziieren Sie mit Winter? Wenn ich an den Winter denke, kommt mir sofort eine weiße Landschaft in den Sinn. Eine mit Schnee bedeckte Wiese, ein großer Baum in der Mitte, ganz in Weiß gekleidet und kein Vogel in Sicht. Die Wolken sind klar, hellblau schimmert der Schnee.

Es gibt eine Person, mit der ich jedes Jahr einen Spaziergang zu einem Aussichtspunkt mache, es ist unser Ritual für den 23. Dezember. Immer am Nachmittag gehen wir, wenn es noch hell ist, aber wenn wir wieder nach Hause gehen ist es dunkel und man sieht nur noch die Lichter zwischen den weißen Dächern und den schwarzen Straßen. Eigentlich ist es viel zu kalt um sich ohne Handschuhe an den Händen zu halten, aber wir machen es trotzdem, und wir nehmen uns immer wieder vor, dass wir mutig genug sind um im Dunkeln ohne Angst durch den Wald zu laufen. Doch sind wir erst einmal darin, wird uns wieder bewusst wie gruselig es dort eigentlich ist. Also rennen wir doch den Berg hinunter bis zur Straße. Manchmal fängt es auch an zu schneien, und plötzlich ist es da: das Weihnachtsgefühl. Es ist ein ziemlich spezielles Gefühl, es ist seit Jahren immer das gleiche. Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Wie beschreibt man Gefühle? Wenn ich darüber nachdenke kommt es mir vor, als wäre dieses Gefühl genau für den Tag reserviert, wenn meine beste Freundin zu mir kommt. Ich kann dieses Gefühl kaum erwarten, aber gleichzeitig fürchte ich mich davor, dass es wieder vorbei geht. Es ist ein ähnliches Gefühl wie beim Geburtstag, damals in Kinderzeiten. Aber Weihnachten ist nicht das gleiche wie Winter, dieser gibt Weihnachten ja nur einen Rahmen, er ist so viel mehr. Und also liebe ich den Winter dafür, dass wir jedes Jahr „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ schauen. Ich liebe den Winter dafür, dass wir Schlittschuhlaufen gehen und ich jedes Jahr von neuem anfange es zu lernen. Ich liebe den Winter dafür, dass wir auf den Weihnachtsmarkt gehen und Punsch trinken und gebrannte Mandeln essen. Ich liebe den Winter auch dafür, dass der beste Tag im Jahr jener ist, wenn zum ersten Mal wieder Schnee fällt. Ich liebe den Winter dafür, dass es Weihnachtslieder gibt und ich wie jedes Jahr gezwungen werde etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Ich liebe den Winter dafür, dass man öfter ins Kino geht und das warme Popcorn viel besser schmeckt als im Sommer. Ich liebe den Winter auch dafür, dass es abends früh dunkel wird und man statt mit Freunden draußen zu sein sich zu Hause einkuschelt und einen Spieleabend macht, bei dem man sich mal wieder ärgert, dass man „Mensch ärgere dich nicht“ doch nicht gespielt hat. Und ich liebe den Winter dafür, dass man sich nicht mehr so unwohl fühlt in kurzen Klamotten, sondern in einem großen Pulli wie eine graue Maus in der letzten Reihe des Klassenzimmers sitzen kann. Ich liebe den Winter auch noch dafür, dass man in Moritzburg auf dem See spazieren kann. Und, ja doch, ich liebe den Winter dafür, dass ich ihn ohne Weihnachten nicht denken kann. Winter und Weihnachten gehören einfach zusammen! Ich kann keinen Text schreiben ohne diese Worte zu verbinden. Vielleicht ist deshalb der Winter meine Lieblingsjahreszeit. Vielleicht bin ich auch einfach nur voreingenommen, da mein Geburtstag in den Winter fällt. Egal wie man es sieht, für mich ist der Winter eine der vier schönsten Jahreszeiten.

Antonia Ubbelohde, Lößnitzgymnasium (Kl. 9)

Die „Wiederentdeckung“ der Hoflößnitz

1924 war für die Lößnitz ein bedeutsames Jahr: Im Frühling stiegen die großen Landgemeinden Radebeul und Kötzschenbroda in den Kreis der sächsischen Städte auf, und das kleine Oberlößnitz nahm selbstbewusst den Titel Kurort an. Letzteres war ein Grund dafür, dass das »Heimathaus Hoflößnitz« am 8. Juni jenes Jahres als erstes Museum der Lößnitz feierlich eröffnet wurde. In einer kleinen Serie wollen wir im Vielfach-Jubiläumsjahr die Geschichte des Sächsischen Weinbaumuseums beleuchten.

Frontispiz aus J.P. Knohll, Viniculturbüchlein, 1667 Archiv Hoflößnitz

Die Geschichte des heute von der Stiftung Hoflößnitz getragenen Museums im Herrenhof des einstigen kurfürstlichen und königlichen Weingutes beginnt mit der Gründung des Hoflößnitz-Vereins am 20. März 1912. Die Vorgeschichte der in diesem Verein gebündelten Anliegen reicht aber noch einige Jahre weiter zurück. So soll schon der russische Generalmajor Gavriil Gavriilovich Sukhanov-Podkolzin (1850-1900), der das Schlossgrundstück Ende des 19. Jahrhunderts erwarb und einige drastische Umbauten beauftragte, – nach Bekunden seiner Erbin, Gräfin Anna von Zolotoff (Brief an Dr. Georg Haase vom 24.02.1912, Stadtarchiv Radebeul, OL 1767) – vorgehabt haben, im Lust- und Berghaus, das er „vom Abbruch gerettet“ hätte, ein Museum einzurichten, wozu es durch seinen frühen Tod aber nicht kam.
Während das Spitzhaus, das einstige Belvedere der Hoflößnitz und seit 1902 Gaststätte, schon lange als sehenswerte touristische Attraktion galt, war über das äußerlich eher unscheinbare Lusthaus bis dahin wenig bekannt. Die ersten gedruckten Wanderführer für die Lößnitz erwähnen sein Inneres nur kurz und am Rande. Genaueres über die künstlerischen Schätze, die das Gebäude barg, erfuhr die interessierte Öffentlichkeit erstmals durch eine Vortragsveranstaltung des Vereins für Geschichte Dresdens am 18. Februar 1903 im dicht gefüllten Entreesaal der Dresdner Stadtbibliothek im vormals Loß’schen Palais, Kreuzstraße 10. Referent war der Staatsarchivsekretär Dr. Hans Beschorner (1872–1956), sein Thema »die Hoflößnitz bei Dresden«.
Das Dresdner Journal (Nr. 41, S. 323) fasste das Dargebotene am nächsten Tag so zusammen: »Dem durch zahlreiche Prospekte und Risse und durch ein dem Stadtmuseum gehöriges Ölgemälde des Malers J. C. Jünger vom Jahre 1746 sowie durch zahlreiche photographische Aufnahmen einer Meißner Firma illustrierten Vortrage überaus reichen Inhalts entnehmen wir das folgende: Das am Preßhofe gelegene, neuerdings von dem späteren Privatbesitzer Grafen v. Zolotoff durch ein Türmchen und eine nach Süden gelegene Terrasse mit Treppenvorlage geschmückte ›Herrenhaus‹ zeigt noch den an der Hofseite angebauten Treppenturm und die ursprüngliche Raumeinteilung im Erd- und Obergeschoß, auch noch fast den sämtlichen originellen malerischen Schmuck der Decken und Wände der Herrschaftsetage. Erbaut wurde dieses Herrenhaus seit 1655 durch die Kurfürsten Johann Georg I. und II. Im ›Kleinen Vinikulturbüchlein‹ des Winzermeisters Joh. Paul Knoll vom Jahre 1667 ist auf der Titelansicht das Herrenhaus bereits abgebildet. Das auf der Bergeshöhe, über einer 1747 bis 1750 erbauten Treppe von 325 Stufen stehende Berggebäude (das Spitzhaus) dürfte der Wolfframsdorfschen Besitzzeit und dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts entstammen. Umgebaut wurde es 1749. Friedrich der Große besuchte dieses sogenannte ›hohe Haus‹ 1758 und 1760, übernachtete auch in ihm.
Die Hoflößnitz als kurfürstliches Weingebirgsgelände wird erst im 17. Jahrhundert erwähnt. Sie wurde mehrfach von Mitgliedern der kurfürstlichen Familie zur Zeit der Weinlese, u. a von August dem Starken 1715 und 1727 zweimal besucht. Sehr interessant war die Beschreibung mehrerer von der Landesherrschaft ausgeführter Winzerfeste und Aufzüge. Der letzte von ihnen fand am 25. Oktober 1840, veranstaltet von der sächsischen Weinbaugesellschaft statt und ist in einem langen Festzuge vom Maler Moritz Retzsch im Bilde festgehalten worden. Nach Einstellung des Weinbaues wurde die Hoflößnitz 1889 veräußert, parzelliert und ging an mehrere Privatbesitzer über. Das Spitzhaus wurde ebenfalls umgebaut und das Herrenhaus ›Schloß Hoflößnitz‹ steht gegenwärtig zum Verkauf. Der Vortrag fand lebhafte Anerkennung durch reichen Beifall.« (Fortsetzung folgt.)
Frank Andert, Museumsleiter

 

2024 – eine Stadt jubiliert, feiert und … reflektiert

100 Jahre Stadtrecht Radebeul, 100 Jahre Stadtrecht Kötzschenbroda
und viele andere Jubiläen

„Der Gedanke, Monographien zur Geschichte Radebeuls, der Stadt der Gärten, der Reben und der Industrie herauszugeben, reifte an einem wunderschönen Septembertage des Herbstes 1958, als vom blauen Himmel die Sonne auf die reich behangenen Rebstöcke unserer Weinberge schien. …“

Egbert Herfurth:
Exlibris für Hellmuth Rauner, 1973, Holzstich

Johannes Thaut: In der Bücherei, um 1960, Holzschnitt

Der diese poetischen Worte schrieb, war Hellmuth Rauner (1895-1975), Vorsitzender der Radebeuler Ortsgruppe des Deutschen Kulturbundes, politisch Verfolgter des Naziregimes, engagierter und zeitweise in Ungnade gefallener Kommunal- und Kulturpolitiker, Mitbegründer des kulturellen Monatsheftes „Die Vorschau“, praktizierender Kenner der hiesigen Weinkultur und Ehrenbürger der Stadt Radebeul.

Als sich die Rasselköppe von der Käthe-Kollwitz-Straße zum gerade vergangenen Jahreswechsel jenseits und diesseits des Schlagbaumes versammelten, der sich punkt Mitternacht zwischen Kötzschenbroda und Niederlößnitz öffnete, stießen sie mit einem Glas Sekt auf das Neue Jahr an und gedachten auch Hellmuth Rauner, der einstmals auf der Käthe-Kollwitz-Straße gewohnt hatte. Parallel dazu startete am 01.01.2024, um 00.01 Uhr ein ungewöhnliches Langzeitprojekt: Das Radebeuler Alltagsbuch.

Das offizielle Startsignal zum Festjahr ertönt jedoch am 26. Januar 2024 in der „kulturellen Mitte“ zwischen Kötzschenbroda und Radebeul, wo sich das Stammhaus von Deutschlands zweitgrößtem Reisetheater befindet. Die repräsentativen Theaterräume bieten den würdigen Rahmen für die Neujahrsansprache des Radebeuler Oberbürgermeisters Bert Wendsche, zu der auch im Jubiläumsjahr wieder zahlreiche Vertreter aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Einwohnerschaft persönlich eingeladen sind. Dass es dem vorausschauenden Wirken des Kommunalpolitikers Hellmuth Rauner zu verdanken ist, dass sich das Stammhaus der Landesbühnen Sachsen seit 1950 im ehemaligen Ballsaal des Gasthofes „Goldene Weintraube“ in Radebeul befindet, werden nur die wenigsten wissen. Dass es einmal eine Stadt Kötzschenbroda gegeben hat, löste mitunter ebenfalls großes Erstaunen aus. Doch diese und so manch andere irritierende Tatsache, die sich mit unserer Stadtgeschichte verbindet, wird im Verlaufe des Jahres 2024 sicher Aufklärung erfahren.

Die frohe Kunde, dass es sich bei dem Jahr 2024 um ein besonderes Festjahr handelt, verbreitete sich in Windeseile per Amtsblatt, Tagespresse, Bürger-App, Flaschenpost, Lastenrad, Flugblatt und von Mund zu Mund. Allein das Doppeljubiläum 100 Jahre Stadtrecht Radebeul und 100 Jahre Stadtrecht Kötzschenbroda böte Grund genug zum Feiern. Doch es stellte sich recht schnell heraus, dass es noch viele andere große und kleine, runde und unrunde Jubiläen zu feiern gibt. 140 Jahre „Lößnitzdackel“, 125 Jahre Wahnsdorfer Feuerwehr, 100 Jahre Museum Hoflößnitz, 50 Jahre Traditionsbahnverein, 30 Jahre Radebeuler Autorenkreis „Schreibende Senioren“, 25 Jahre Förderkreis der Radebeuler Stadtgalerie, 5 Jahre Radebeuler Kultur e.V.

Aus Anlass des 100. Geburtstages des Sächsischen Weinbaumuseums, welches 1924 als „Heimathaus Hoflößnitz“ eröffnet wurde, beginnt in „Vorschau & Rückblick“ eine Beitragsfolge zu dessen wechselvoller Geschichte. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch ein Beitrag des damaligen Museumsleiters Werner Lugenheim aus dem Jahr 1961, in dem er sich zum Anliegen und zur Konzeption des „Heimatmuseums Haus Hoflößnitz“ äußert (Monografien zur Geschichte der Stadt, Heft 5). Darüber hinaus können wir uns auf eine große Sonderausstellung freuen, die im Mai eröffnet werden soll.

Das „Heimathaus Hoflößnitz“ blieb nicht die einzige öffentlich zugängige museale Einrichtung bzw. thematische Sammlung, die in den Lößnitzortschaften eröffnet wurde. Schon 1928 folgte das Karl-May-Museum, unmittelbar nach Kriegsende, bereits im Juni 1945, das Haus der Kunst, 1949 das Hauptmann Archiv, 1958/1960 das Stadtarchiv, 1960 die Puppentheatersammlung (1985 als Museum), 1982 die Stadtgalerie (ab 1992 mit Städtischer Kunstsammlung), 1993 die Heimatstube Naundorf, 2005 das Schmalspurbahnmuseum, 2006 das DDR-Museum Zeitreise, 2006 die Heimatstube Kötzschenbroda, 2010 das Stadtmuseumsdepot, 2012 das Lügenmuseum und 2014/2023 das Bilzmuseum. Die Träume von einem Radebeuler Stadtmuseum, einem kleinen Pharma-Museum oder einem Korbmachermuseum blieben unerfüllt. Und nicht alle, der hier aufgezählten Einrichtungen sind bis heute existent. Die Ursachen sind vielfältiger Natur. Sich damit einmal ohne Vorurteile auseinanderzusetzen, das könnte eine aufschlussreiche Projektarbeit sein.

Der Aufforderung des Radebeuler Kulturamtes, dass sich jeder mit seinen Ideen und Initiativen in das Jubiläumsjahr einbringen kann, wurde in überwältigendem Maße gefolgt. Und so wächst und wächst das Festprogramm beständig. Neben den Veranstaltungen der Stadtverwaltung, Museen, Galerien, Theater, Schulen, Kindertagesstätten, Soziokulturellen Zentren, ortsansässigen Unternehmen sowie der zahlreichen Vereine, wird es darüber hinaus einen überraschenden Cocktail aus spontanen Aktionen von Bürgern und Künstlern geben. Das kulturelle Monatsheft „Vorschau & Rückblick“ wird davon berichten.

Übers ganze Jahr verteilt kann man in den Radebeuler Ursprungsgemeinden Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Vorträge, Festivals, Preisverleihungen, Fest- und Winzerumzüge, Performances, Filmvorstellungen, Straßen-, Figuren-, Sprech-, Musik- und Tanztheater erleben. Aber auch an den Sgraffitiführungen oder Lese-, Bilz- und Bauherrenpreiswanderungen kann man sich beteiligen.

Wo musiziert und gesungen wird, das ist erstaunlich: Musik in Kirchen, Singen an Schwarzes Teich im Waldpark, Treppensingen vorm Kulturbahnhof, musikalische Wanderungen durch die Weinberge, Open-Air-Sommerbühne für jedermann.
Recherchiert wird zu Radebeul und Kötzschenbroda in der Literatur, Musik und Bildenden Kunst. Viele Aktionen laden zum Mitmachen und Mitdenken ein. Überregional bekannte Persönlichkeiten wie Karl May, Ernst Edler von Schuch, Friedrich Eduard Bilz, Hans Stosch-Sarrasani oder die Gebrüder Ziller werden würdigende Beachtung finden. Aber auch an die Bürgermeister Robert Werner und Dr. Wilhelm Brunner, an den Bauern Karl Reiche, den Maler und Grafiker Johannes Thaut, die Schriftstellerin Tine Schulze-Gerlach, die Archivare Paul Brüll und Lieselotte Schließer u. v. a. m., soll im Verlaufe des Festjahres erinnert werden.

Die Lößnitzstadt ist ein zerrissenes Konglomerat aus zehn Ursprungsgemeinden, welche sich in mehreren Intervallen (wohl nicht immer ganz freiwillig) zusammengefunden hatten. Was im Verlaufe des Jahres ans Tageslicht kommt, bleibt spannend. Fragen sind erwünscht und könnten sein:
Wie kommt es, dass Radebeul nicht ein, sondern zwei städtische Zentren hat? Wie werden die einstigen Repräsentationsbauten in heutiger Zeit von der Stadtgesellschaft genutzt? Wie kam es, dass es in Radebeul-Ost einen „Kulturbahnhof“ und in Radebeul-West einen „Naturbahnhof“ gibt? Wie wirken sich die drei Sanierungsgebiete „Altkötzschenbroda“, „Zentrum Radebeul-Ost“ und „Zentrum Radebeul-West“ auf die Lebensqualität der Radebeuler aus? Wird sich der Kasper mit den Indianern vertragen? Wer wird in Zukunft die Baumallee auf der Bahnhofstraße beleben? Wann ertönen die ersten musikalischen Klänge im ehemaligen Postgebäude?

Dass das Stadtarchiv, die Kunstsammlung und das Stadtmuseumsdepot, zu den Radebeuler (Um)Zug(s)vögeln gehören, so wie die Kasperiade oder der Film Club Mobil, das ist zugegebenermaßen ein seltsames Phänomen. Da die Lößnitzstadt seit jeher die (Wahl) Heimat der musisch Ambitionierten, der Erfinder und Genießer, der Nachdenklichen und Kritischen, der Nostalgiker und Pragmatiker, der Lügner und Fantasten, der Jungen und Alten, der Schuldner und Millionäre, der Optimisten und Pessimisten, der Stillen und der Lauten… ist, sollte man in jeder Hinsicht recht zuversichtlich sein.

Schwerpunktthemen sind im Festjahr Musik, Literatur, Kunst, Kultur, Landwirtschaft, Industrie, Weinbau, Tradition, Festkultur, Sozialstruktur, Architektur, Kommunalpolitik…
Zum Bereich Architektur und Stadtentwicklung wird es Veranstaltungen verschiedenster Art geben: Schüler gestalten das Ausstellungsprojekt „Meine Stadt“, der Film Club Mobil präsentiert den DEFA-Film „Die Architekten“ aus dem Jahr 1989 mit einem themenorientierten Zusatzprogramm über „verhinderte, sanierte, abgerissene Plattenbauten in Radebeul“. Zum großen „Stadtfestjahr mit fast ohne Geld“ öffnen sich Denkmale, Nischen, Aussichtspunkte, Gärten, Häuser, Kreativräume, Sinne und Herzen. Die Stadtverwaltung, Volkshochschule, Stadtbibliothek, Sternwarte, Musikschule und Tourist-Information stellen ihre Potenziale vor. Wissensschätze, die in Archiven, Museen und Sammlungen ruhen, gilt es zu heben und zu erforschen.

„Vernetzung“ ist das Zauberwort, welches in aller Munde ist. Wenn der Lößnitzgrund ruft, ruft das Lügenmuseum zurück, denn der Lößnitzbach verbindet Radebeuls Mitte. Die Elbe und der Elbradweg wiederum verbinden Radebeul mit der Welt und die Meißner Straße verbindet das Bauamt mit der Radebeuler Stadtgesellschaft. Und was verbindet nun die Radebeuler miteinander? Das ist vor allem die Kommunikation. Gelänge es nun, traditionelle und aktuelle Formen der Kommunikation generationsübergreifend zu verknüpfen, wäre das doch ein guter Zukunftsplan.

Jubilare, wohin das Auge schaut: In diesem Jahr feiern die Ursprungsgemeinden Naundorf 880 Jahre, Radebeul 675 Jahre, Niederlößnitz und Oberlößnitz 185 Jahre ihres Bestehens. Im Jahr 2021 konnte Kötzschenbroda auf 750 Jahre zurückschauen, was aber leider keinerlei Beachtung fand. Jubiläen bieten den Anlass zum Innehalten, Recherchieren und Reflektieren. Der Zeitraum von 1924 bis 2024 ist geprägt durch die Inflation, den Zweiten Weltkrieg, die Bombardierung Dresdens, durch Gesellschaftssysteme wie Faschismus, Sozialismus und Kapitalismus, was nicht ohne Auswirkungen auf die Stadt Radebeul und deren Bewohner blieb.

Wenn die Radebeuler Ursprungsgemeinden ein Ortsjubiläum begehen, beziehen sie sich auf ihre urkundliche Ersterwähnung. Die zentralen Stadtfeste wiederum orientierten sich an der namensgebenden Ursprungsgemeinde Radebeul, die 1349 erstmals urkundliche Erwähnung fand, und demzufolge in den Jahren 1949 und 1999 festlich begangen wurden. Ein Novum war es dann, als man im Jahr 2010 den 75. Stadtgeburtstag feierte, welcher sich auf den Zusammenschluss der Städte Kötzschenbroda und Radebeul im Jahr 1935 bezog. Demzufolge steht spätestens 2035 in Radebeul der nächste 100. Stadtgeburtstag an. Der Countdown läuft. Die Alten sind mit am Start, wer das Ziel erreicht, das kann keiner voraussagen. Wichtig ist, dass Alte und Junge einen Teil der Strecke gemeinsam absolvieren.

„Dass es möglich ist, ein Stadtjubiläum auf derart ungewohnte Weise zu begehen, spricht für die Offenheit, Experimentierfreude und herzliche Lebensart der Radebeuler Einwohnerschaft. Sie verbindet das wache Interesse an ihrer Heimatstadt und darin liegt wohl das größte Potenzial. Denn Zukunft braucht Herkunft, aber auch Inspiration und eine Vision.“

Die Feststellung im Geleitwort der Festbroschüre zum 75. Stadtgeburtstag von Radebeul im Jahr 2010 trifft auch für das Jubiläumsjahr 2024 vollumfänglich zu.

Karin (Gerhardt) Baum

Die Monografienreihe (Heft 1-9), wurde im Auftrag des Kulturbundes als Sonderausgabe des kulturellen Monatsheftes „Die Vorschau“ herausgegeben. Das lesenswerte und faktenreiche Zeitdokument zu Geschichte, Kultur, Industrie, Wein- und Gartenbau der Stadt Radebeul ist im Stadtarchiv einsehbar.

 

rempe & nagel

Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Stadtgalerie Radebeul

Diese Ausstellung, liebe Freundinnen der Kunst, liebe Frunde der Künstlerinnen, ist kein Streichelzoo. Sie führt uns heraus aus der Komfortzone mit ihren Wohlfühloasen und in die raue Wirklichkeit unserer Tage hinein. Schon der Titel räumt auf mit einem seit Jahrzehntausenden gepflegten und immer wieder kolportierten Klischee: Das schier unausrottbar scheinende, sich aber auch stetig auf seltsame Weise selbst bestätigende

Anita Rempe: Portraits (1-2), ohne Jahresangabe, verschiedene Stifte auf Papier

Repros K. (Gerhardt) Baum

Vorurteil, Frauen seien „geschwätzig“, wird hier mit

zweieinhalb Worten eindrucksvoll und dauerhaft widerlegt: rempe & nagel – da ist kein Wort zu viel, und doch ist alles gesagt: Die Künstlerinnen Maja Nagel und Anita Rempe reden Klartext und sparen sich den heißen Brei für wirklich kalte Tage.

Majas Zeichnungen stammen aus ihrer Serie „na kromje – an der Kante“. Vordergründig wird damit auf die Tagebaukante angespielt, die Linie also, die die noch vorhandene Landschaft von der großen Leere trennt, die ihre endgültige Zerstörung bedeutet.
Anitas Portraitzeichnungen zeigen das Werden eines Menschen und sein Sichverlieren im Chaos in sich vielfach überlagernden Ebenen, als wären sie Landschaften. Parallel stellen sich ihre Öl-Landschaften als verknappte Portraits täglich neuer Verluste dar. Beinahe körperlich empfindet die Künstlerin die vom Geschwindigkeitsrausch verursachte Flucht aus der Landschaft.
So treffen sich beide Künstlerinnen dort, wohin es niemanden zieht: „na kromje, an der Kante“, und sie sprechen von Dingen, die wir eigentlich gar nicht hören wollen und die uns deshalb umso mehr bedrängen.

Maja Nagel, Anita Rempe und Hartmut Dorschner zur Vernissage, Foto: K. (Gerhardt) Baum

Maja ist in Bautzen geboren. Sie wurzelt im Sorbischen. Unter diesem Blickwinkel erhalten ihre Arbeiten zu Lausitzer Themen, insbesondere dem der Landvernichtung zu Gunsten des braunen Goldes, nochmal eine deutlich andere Dimension. Jenseits aller Klimadiskussionen wird hier nicht einfach nur Gelände weggebaggert, hier wird Lebensraum einer traditionell ländlich orientierten nationalen Minderheit liquidiert – sollte das Absicht sein? Die Frage zumindest darf gestellt werden.
Maja hat in Dresden Malerei und Grafik studiert, längere Zeit in Berlin, Dresden und Strehla gelebt und ist nun in Eula bei Nossen folgerichtig in dörflicher Umgebung angekommen. Beim Käthe-Kollwitz-Haus in Moritzburg betreut sie seit Langem die Grafikwerkstatt. „Sie ist“, wie Gregor Kunz bemerkt, „in Zeichnung, Malerei, und Collage, mit Performance und Installation und ihren bewegten Figuren in Animationsfilmen erfolgreich, wenn Qualität der Maßstab ist.“

Maja Nagel: „schnellweg“, 2023, Kohlezeichnung Repro K. (Gerhardt) Baum

In jedem Fall ist die Zeichnung ganz und gar Majas Metier. Die Linie verlangt und schafft Klarheit. Sie steht auf dem Blatt als „entweder-oder“ – ein Vielleicht ist ausgeschlossen.
Mit ihren Arbeiten steht Maja mitten in der Welt. Sie sieht nicht nur ihre Lausitzer Landsleute, nicht nur die sorbische Minderheit „na kromje – am Abgrund“ steht die Menschheit als Ganze.

„Fluchtlandschaft“; „Zusammenbruch“ …ihre Landschaften, freut sich Anita, wirken gemeinsam mit Majas Zeichnungen wie Erzählungen – Erzählungen, die ohne gutes Ende auskommen müssen. Das unterscheidet sie etwa von den Grimm‘schen Märchen. Die hatten eins – dürfen sie deshalb den heutigen Kindern nicht mehr zugemutet werden?!

Anita ist in Magdeburg geboren. Im Gauernitzer Fischerdorf hat sie sich hochwassersicher im Überschwemmungsgebiet etabliert. Sie studierte Illustration und Gebrauchsgrafik und später noch Kunsttherapie. Sie war Trickfilmzeichnerin und arbeitete beim Puppentheater. Eine Zeit lang gehörte sie zur Künstlergemeinschaft Atelier Oberlicht hier gleich nebenan. Lange Jahre arbeitete sie sehr segensreich als Kunsttherapeutin. In diesem Geschäft hat sie es kennengelernt, das „Leben an der Kante“.
Das hat ihr auch den Blick bewahrt für die verlorenen, die Fluchtlandschaften, und für die Unfähigkeit der Gegenwart, Landschaft als eigenständigen Wert wahrzunehmen. Mit ihren Wasser-Ölfarben setzt sie ihre eigene Unfähigkeit dagegen: die Unfähigkeit, etwas schön zu malen, das nun mal nicht schön ist.
Darin allein wird schon die Seelenverwandtschaft offenbar, die Anita mit Maja verbindet. Sie wuchs aus einer langen persönlichen Freundschaft, die weit über ein kollegiales Miteinander hinausgeht. Die Kunst ist ein einsames Geschäft, umso mehr braucht die Künstlerin den Austausch. Und auch ihren Arbeiten tut das Miteinander gut. In schöner Gemeinschaft breiten sie es vor uns aus, das Narrativ von der verlorenen Landschaft. (leicht gekürzt)

Thomas Gerlach

Editorial 1-24

All unseren treuen Leserinnen und Lesern sei von dieser Stelle aus ein freud- sowie friedvolles neues Jahr bei bester Gesundheit gewünscht!
Wie Sie sehen, erfolgte in bewährter Tradition auf dem Titelbild alternierend wieder der programmatische Wechsel zur Grafik. Diesmal begleiten uns Holzschnitte vom Radebeuler Künstler Michael Hofmann, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiern wird und dessen Werke von Thomas Gerlach kommentiert werden.
Mit dem Jahreswechsel bricht ebenso für unsere Lyrikseite ein neues Kapitel an. Für dieses Jahr konnten wir den Schriftsteller und Liedermacher Stephan Krawczyk gewinnen, der sich in den 1980er Jahren insbesondere als DDR-Bürgerrechtler und Oppostioneller einen Namen gemacht hatte.
2024 wird für unser Heftprofil dahingehend interessant, da es eine ungewohnte Ballung von Jubiläen gibt, die über das ganze Jahr hinweg maßgeblich inhaltliche Akzente setzen werden.
An erster Stelle sei das Doppeljubiläum 100 Jahre Stadtrecht Radebeul und 100 Jahre Stadtrecht Kötzschenbroda genannt. 140 Jahre „Lößnitzdackel“ gesellt sich ebenso dazu.
Zudem feiert das Sächsische Weinbaumuseums seinen 100. Geburtstag, welches 1924 als »Heimathaus Hoflößnitz« eröffnet wurde. Museumsleiter Frank Andert hat uns hierfür bereits eine Reihe von Textbeiträgen in Aussicht gestellt.
Einen Vorgeschmack auf weitere Jubiläen und fundierte Hintergrundinformationen finden Sie im ausführlichen Beitrag „2024 – eine Stadt jubiliert, feiert und…reflektiert“.
Freuen Sie sich mit uns auf ein Jahr mit vielen kulturellen sowie gesellschaftlichen Höhepunkten!

Sascha Graedtke

Petition gegen Gebührenpolitik der GEMA

Die Stadt Radebeul hat eine open petition an die GEMA gegen horrende Gebühren für Veranstaltungen im Freien gestartet und wirbt für breite Unterstützung, damit die Kultur besonders im ländlichen Raum erhalten werden kann. Wir bitten Sie, diese online zu unterstützen und auch andere potentielle Mitstreiter zu aktivieren, damit wir eine maximale Öffentlich – keitswirksamkeit erhalten. Für den Radebeuler Weihnachtsmarkt 2022 erließ die GEMA u.a. eine Rechnung von rund 13.000 € im Vergleich zu den bisher üblichen 1.000 €.
www.openpetition.de/petition/seite2/kultur-in-gefahr-gegen-horrende-gema-gebuehren-fuer-veranstaltungen-im-freien

Gabriele Lorenz

Mit den Texten der brachialromantischen Hausapotheker Dieter Beckert und Jürgen B. Wolff durchs Jahr

Kulturentwicklungskonzeption für die Stadt Radebeul 2024-2030

Im Auftrag des Stadtrats entsteht aktuell unter der Federführung des Kulturamts eine Kulturentwicklungskonzeption für Radebeul. Sie soll die Richtung für die kommenden Jahre bis 2030 weisen. Dies ist für eine Stadt wie Radebeul enorm wichtig, denn hier haben Kunst und Kultur traditionell einen hohen Stellenwert. Renommierte Einrichtungen wie die Landesbühnen und Museen, jährliche Höhepunktveranstaltungen, wie die Karl-May-Festtage oder das Herbst- und Weinfest mit Internationalem Wandertheaterfestival, und über 60 ortsansässige Bildende Künstlerinnen und Künstlern sind Teil der Kulturszene und Markenzeichen unserer Lößnitzstadt.

Zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern sollen nun Strategien und Maßnahmen entwickelt werden, um Kunst und Kultur in Radebeul fit für die Zukunft zu machen. In diesem Prozess sollen Herausforderungen benannt und Lösungsmöglichkeiten diskutiert werden, um daraus Ziele und Maßnahmen abzuleiten. Wie wichtig ist uns Kultur und was sind wir bereit, dafür zu geben? Wie können wir kreative Potentiale fördern und unsere reiche Kulturlandschaft erhalten? Jetzt gilt es, konzeptionell und strategisch die Weichen zu stellen!

Am 24. Oktober 2024 fand im Radebeuler Kultur-Bahnhof das erste „Kulturforum Radebeul“ statt. Diese öffentliche Gesprächsrunde richtete sich gezielt an Kulturvereine und –gruppen. Von Astroclub bis Zentrum für Urbane Kultur reichte das Spektrum der Teilnehmer und belegte ebenso wie die intensiven Gespräche das große Interesse der ehrenamtlich Tätigen. Mitgliederentwicklung, Raumkapazitäten, Nachwirkungen von Corona waren dabei nur einige der diskutierten Themen. Bereits nach dieser ersten Runde kann man den Wunsch nach stärkerer Vernetzung und Austausch der einzelnen Akteure festhalten. Nach der zweiten Runde am 16. November 2023 unter dem Thema „Radebeul – Raum für Kultur“, steht im Dezember die Jugend im Mittelpunkt.

Das Kulturamt lädt herzlich ein:

3. Kulturforum Radebeul: Junge Kultur in Radebeul
11. Dezember 2023, 18 Uhr, Radebeuler Kultur-Bahnhof
Vorschau
4. Kulturforum Radebeul
11. Januar 2024, 18 Uhr, Radebeuler Kultur-Bahnhof

Im Mai 2024 soll dann der Stadtrat das Kulturentwicklungskonzept für Radebeul beschließen.

Radebeuler Miniaturen

1623 – 2023: 400 Jahre Haus Möbius

Noch ist es nicht so weit, doch ich sehe schon wieder Ulrike durch die Tür spähen und höre sie mit besorgter Stimme flüstern, kannst du mir mal helfen …
Dann also werde ich mit ihr in den Garten gehen und eine der heimlichen kleinen Fichten um einen oder zwei Äste bitten, die dann stellvertretend für den ganzen Baum die Zimmerdecke schmücken.

Anfangs, als die Kinder klein waren, hatten wir immer ein richtiges Weihnachtsbäumchen an der Decke hängen. Nein, natürlich nicht mit der Spitze nach unten, wie die Spötter gleich wieder witzeln, sondern richtig aufrecht, nur sozusagen mit „etwas mehr Luft nach unten“. Die Räume waren eng, aber der Baum schaukelte nur ein wenig, wenn eins dagegen stieß – umkippen konnte er ja nicht.

Als es möglich wurde, in den neunziger Jahren, haben wir Dach und Fassaden erneuern lassen und auch in den Innenräumen weithin dem Fachwerk wieder zu seinem Recht verholfen. Es konnten an vielen Stellen interessante Farbfassungen beobachtet werden. Besonders angetan hatte es uns das schöne Ziegelrot an den Balken, dem wir versuchten Dauer zu verleihen. Später haben wir die Südwand mit einer Verbretterung versehen lassen – es war für alle (das Haus wie für uns) klimatisch besser.

Schließlich war mit der Neugestaltung auch ein neuer Anbau verbunden, dem wir die Möglichkeit verdanken, erstmals eine Badewanne in dem Haus unterzubringen. Es gab ja alles, damals …

Herr Alfred Möbius (die damalige Stadtarchivarin Lieselotte Schließer hatte ihn zum Namensgeber für unser Haus erkoren) hatte es da fünfzig Jahre früher deutlich schwerer, als er kurz vor Kriegsende noch Toiletten einbauen ließ. Er starb zu Anfang des Jahres 1989, nach einem erfrischenden, letzten Glas Wein. Er war bis zur letzten Minute an den Tagesereignissen interessiert, wollte aber der Deutschen Einheit wegen, die ja unmittelbar bevorstehen müsse, wie er im Februar (!) schon ahnte, nicht länger leben.

Diesmal füllt Ulrike die Gläser.

Auf die Erinnerung, sagt sie, auf den alten Herrn, den hängenden Weihnachtsbaum und die nächsten vierhundert Jahre.

Thomas Gerlach

Glosse

Schöne Bescherung

Eigentlich schaue ich nie zurück. Was soll‘s auch. LKW-Fahrer wollte ich ohnehin nicht werden. Meine Lebensmaxime ist eher „Vorwärts immer – rückwärts nimmer!“. Was soll mich auch mein „Geschwätz von gestern“ heute noch interessieren? Manchmal aber denke ich, könn’mer dieses verka… Jahr nicht noch mal von vorn beginnen?! Nochmal so ganz unschuldig und jungfräulich…?

Hier hat unser Urvater aber wirklich einen Fehler gemacht. Jeder muss doch eine zweite Chance bekommen. Schließlich durften wir Ostdeutschen 1989/1990 auch nochmal ganz von vorne beginnen. Die drübigen Brüder und Schwestern haben uns neue Bundesbürger*innen geduldig an die Hand genommen. Und das war auch gut so! Wir hätten uns doch in dem bereits schon damals etwas abgenutzten Wunderland überhaupt nicht zurechtgefunden! Allein die vollen Regale in den neuartigen Verkaufseinrichtungen hatten für reichlich Verwirrung gesorgt und leider auch zu dramatischen Veränderungen geführt! Seither ist durchschnittlich die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig. Aber unsere Indianer*innen aus Nah und Fern sind ob der vielen anderen Möglichkeiten doch erst so richtigen aufgeblüht.
Von diesem schweren Aufbruch in ein zivilisiertes Lebens will doch heute keiner mehr was wissen! Da sollte man aber schon etwas dankbarer sein! Auch Ludwig Richter, der Dresdner Maler aus dem 19. Jahrhundert, hatte das für sich damals schon richtig erkannt und deshalb täglich seinem Herrn gedankt. Da müssen wir wieder hin und zurück zum 1. Januar 2023!

Erst jetzt, im 12. Monat wurde mir so richtig klar, dass 2023 ein regelrechtes Schicksalsjahr für die Radebeuler*innen war. Das konnte man freilich im Januar niemals verkünden. Angsteinkäufe und Panikattacken hätten das gesamte öffentliche Leben lahm gelegt und nicht nur den Verkehr von und nach Dresden beeinträchtigt. Das Radebeuler Stadtarchiv wäre von den Hobby-Historiker*innen regelrecht gestürmt worden, wenn die gewusst hätten, dass ab Herbst (vermutlich für Jahre) nur noch ein Notschalter als Archiv zur Verfügung stehen würde, wo doch „in 2024“ das große Stadtjubiläum ansteht. Aber zum Glück wusste das da noch keiner.

Dieses Jahr bin ich aus dem Staunen überhaupt nicht mehr herausgekommen, was alles so urplötzlich über einen oder eben auch über eine Stadt hereinbrechen kann. Wegen der gestiegenen Energiekosten haben meine Frau und ich schon schmerzhafte Einschnitte hinnehmen müssen. Jede zweite Lampe wurde bei uns aus dem Verkehr gezogen. Hat aber auch wieder sein Gutes. Nicht alle Winkel stehen jetzt im grellen LED-Licht.

Auch in der Stadt Radebeul lief nicht alles nach Wunsch. Da flog eine städtische Einrichtung plötzlich ganz unerwartet aus dem Mietverhältnis raus. Da wurde die Stadt quasi über Nacht zum Bauträger eines millionenschweren Objektes, etwa so als wie einst die Jungfrau Maria zum Kinde gekommen sein soll. Aber zu guter Letzt wurde der mittlere Teil der Radebeuler Bahnhofstraße doch noch rechtzeitig vor dem Weihnachtsgeschäft gesperrt. Und alles wegen de Bäume! Also, kapieren tut das keiner. Erst hieß es: „Bäume weg – Stellplätze her!“ Nun lautet die Parole: „Bäume her – Stellplätze weg!“ Wo bei der ganzen Kasperei der angeblich unverzichtbare Wochenmarkt für die Belebung der Bahnhofstraßen nun hinsoll, bleibt weiter ungeklärt und ist offensichtlich ganz in Vergessenheit geraden. Wen interessiert schon das Geschwätz von gestern.

Wie sich das aber alles damit vereinbart, dass die Mobilität weiter steigt, die PKW-Zulassungen in Radebeul bisher über dem Bundesdurchschnitt liegen, jede Familie mit mittlerem bis sehr hohem Einkommen im Schnitt mindestens ein Auto besitzt und die Verkehrswende noch lange nicht in Sicht ist, weiß der Kuckuck. Und da habe ich die E-Mobilität noch überhaupt nicht auf’s Korn genommen.
Ach ja, ein schönes Fest und gutem Rutsch wünscht

Euer Motzi

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