Gasthaus Grundmühle

Dreißig Jahre Gastlichkeit

Vielleicht beginne ich diese Zeilen etwas pessimistisch, aber der Niedergang der alten Radebeuler Gaststättenkultur ist nicht von der Hand zu weisen. Da sind ehrwürdige Gasthäuser abgerissen (ich erinnere stellvertretend an die „Rosenschänke“ und den „Heiteren Blick“), es sind liebgewordene Lokalitäten umgenutzt („Gasthof Serkowitz“ oder das „Weiße Roß)“. Oder aber es wurde ganz einfach der Betrieb eingestellt wie z.B. „Zur guten Quelle“ oder die „Kleine Einkehr“.

Gastwirtin Christine Schenkel
Bild: C. Grün


Umso mehr ist es mir an dieser Stelle ein Bedürfnis, meine Reverenz einer jener fleißigen und unermütlichen Wirtinnen zu erweisen, die sich jahrein jahraus dem leiblichen und seelischen Wohl ihrer Gäste annehmen.

Dreißig Jahre bewirtschaftet Frau Christine Schenkel das idyllisch am Eingang des Lößnitzgrundes gelegene „Gasthaus Grundmühle“, so dass man sie mit Fug und Recht als dienstälteste Gastwirtin Radebeuls bezeichnen kann. Ob man zur Weihnachtszeit im üppig dekoriertem Schankraum seinen Glühwein genießt oder in der Sommerhitze im schattigen Biergarten beim Gezwitscher zahlloser Sittiche sein Frischgezapftes zu sich nimmt (wahlweise darf es auch der „Schenkel-Wein sein), stets ist man willkommen. Nicht zu vergessen ist auch die typisch sächsische Hausmannskost, die selbst dem verwöhntesten Gaumen Rechnung trägt. Und für Events und Gesellschaften gibt es den Gastraum und die urige Kutscherstube, an deren Fenstern in schöner Regelmäßigkeit der Lößnitzdackel vorüberschnauft.
 
Dreißig Jahre nun sind eine lange Zeit für uns Menschen, in der Geschichte des alten Hauses jedoch nur eine kurze Spanne

Denn schon 1471 wird die heutige Grundmühle erstmals urkundlich als „Mühle unter Wahnsdorf“ genannt. Auch ist sie als eine der sieben Mühlen entlang des Lößnitzbaches in der Karte des Landvermessers Georg Oeder 1570 verzeichnet. Ob sie damals als Carlowitzmühle oder Urban Genzers Mühle bezeichnet wurde, darüber können sich Heimatforscher noch heute streiten; bekannt wurde sie im neunzehnten Jahrhundert als Grundmühle.

Im Gastraum hängt ein altes Bild, welches das Anwesen in alten Zeiten zeigt; nichts davon ist mehr erkennbar. Denn schon 1878 setzte eine muntere Bautätigkeit ein, was Wunder, wenn der Besitzer des Grundstückes Eisold hieß, der bekannte Bauunternehmer aus Serkowitz. Das Gasthaus an der Mühle wurde errichtet, 1881 wurde die Veranda angebaut. Mühle, Bäckerei und Gastwirtschaft florierten.

1905 wurde das Gebäude komplett aufgestockt und 1908 das hölzerne Mühlrad durch eine Turbine ersetzt.

In der DDR-Zeit war der Niedergang nicht mehr aufzuhalten. 1960 gaben die Wirtsleute auf (dieselbe Zeit, derselbe Grund wie auch meine Großeltern im „Weißen Roß“ kapitulierten) und seitdem verfiel der Gebäudekomplex mehr und mehr, so dass schon an Abriss gedacht wurde.

Herrn Roland Galle ist es zu danken, dass er sich dieses Kleinodes annahm und Stück für Stück wieder aufbaute. Zusammen mit Rainer und Christine Schenkel, die schließlich am 5. Dezember 1992 Ihr Gasthaus „Zur Grundmühle“ im alten Bäckereigebäude eröffneten. Und dies (Ich muss auf meine Eingangszeilen verweisen) in alter Radebeuler Schanktradition.

Nun hat Christine Schenkel zwar schon das Rentenalter erreicht, jedoch ans Aufhören denkt sie nicht, trotz widriger Zeiten. „Ohne das würde mir die Decke auf den Kopf fallen“, meint sie und verweist auch mit auf die Stammgäste, die sich dann eine neue Bleibe suchen müssten.

Das der Gastwirtsberuf kein leichter ist, kann man bei größeren Gesellschaften oder gar beim Karl-May-Fest sehen, wenn sich die Menschen am Ausschank drängen. Dass er auch Spaß machen kann, das sieht man an Christine Schenkel.

Und so wollen wir der dienstältesten Wirtin Radebeuls noch viele schaffensfrohe Jahre wünschen. Denn in der Grundmühle kann man sich nicht nur wie zu Hause fühlen, da ist man zu Hause.

Christian Grün
 
 

Wünsche, Wünsche…

Zu allen Zeiten haben Wünsche die Menschen begleitet. „Je mehr man hat, je mehr man will“, vermerkt warnend dazu ein Sprichwort. Das Hoffen auf deren Erfüllung, das wussten schon die Alten, ist aber meist trügerisch. Der Spruch „Hoffen und Harren macht manchen zum Narren“ hat sich nur allzu oft bewahrheitet.

Ob deshalb in der Europäischen Union das traditionelle Bleigießen mit dem Schwermetall zu Silvester seit 2018 verboten ist, weil als Hokuspokus erkannt, ist aber eher zu bezweifeln. Hier mag vermutlich der gesundheitliche Fakt eine Rolle gespielt haben.

Das Geschäft mit der Esoterik aber blüht wie seit langem nicht mehr, vergleichbar mit der Zeit vor etwa hundert Jahren. Ein überdeutlicher Fingerzeig auf die krisenhafte Gegenwart, in der die Menschen immer mehr in Notsituationen gedrängt werden, das Vertrauen in die Gesellschaft verloren haben und gar die Hoffnung an eine bessere Zukunft. Beschwörungsformeln wie „Wir sollten zusammenstehen und darauf achten, dass uns gemeinsam Errungenes nicht wieder aus der Hand gleitet.“ wirken dabei wie hilflose Wunschvorstellungen. Da sind die Beschlüsse des Radebeuler Stadtrates zur Aufrechterhaltung der Schwimmhalle trotz steigender Kosten und zur Anpassung der Förderung der Vereine an die Inflation, hingegen begrüßenswerte praktische Schritte.

Der Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist einer ausschließlichen Gegenwartsbezogenheit gewichen. Für den „Fortschritt“ lohnt es, sich nicht mehr anzustrengen, wird er doch eher als eine Bedrohung empfunden. Kein Wunder, dass der Klimaschutz nicht vorankommt. Früher sollten mit dem Feuerwerk zu Silvester die bösen Geister vertrieben werden. Heute gewinnt man eher den Eindruck, dass sie dadurch herbeigerufen werden.

Bleibt die Frage, wie es zu diesem Wandel kommen konnte. Wie bereits vor hundert und mehr Jahren, rufen auch heute Krisenzeiten, Kriege, Dürren, Hungersnöte, Katastrophen oder Teuerungen irrationale Reaktionen und Erklärungsformeln hervor, befördern sie Sündenböcke und Aberglauben. Mehr als ein Drittel der bundesdeutschen Gesellschaft neigt gegenwärtig dazu, die Wirkung von „Glücksbringern“ und „Heilsteinen“ für möglich zu halten. Ja, selbst einige Krankenkassen bezahlen verordnete homöopathische Präparate nach dem Motto „es kann ja nicht schaden“. Glaube soll also doch Berge versetzen. Vom Absturz der Leichtgläubigen liest man allerdings eher seltener.

Aber es sind nicht nur die unsicheren Verhältnisse, die die Menschen verwirren. Vielmehr werden aus egoistischen, macht-politischen sowie gewinnorientierten Interessen diese Verwirrungen erst bewusst herbeigeführt. Aus den Ängsten der Menschen lässt sich eben wunderbar, im eigentlichen und übertragenen Sinne, Profit schlagen. Da die Vorgänge in der Welt vielfältiger und differenzierter geworden sind, reichen einfache Erklärungsmuster oftmals nicht mehr aus. Da kommen die Quacksalber, Handaufleger und Hasardeure zum Zug, die über pseudowissenschaftliche Abhandlungen Heilsversprechungen und andere Hilfen aus prekären Lebenslagen anbieten. Es geht also immer ums Geschäft, aber eben nicht nur. Mitunter geht es auch einfach nur um die Durchsetzung einer Meinung, Position oder Machtdemonstration. Wer eine Kunstpreis-Jury zu einem hohen Grad mit Vertretern aus Verwaltung und Politik besetzt, will kein künstlerisches Urteil abgeben. Wer fachliche Argumente einfach vom Tisch wischt, weil er meint, auf der Hierarchie-Leiter ganz oben zu stehen, verhindert jede sachliche Problemlösung. Selbst die hellsichtigen Erkenntnisse des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ wurde vor fünfzig Jahren in den „Giftschrank“ eingeschlossen. Bleibt zu hoffen, dass der Erkenntnis nunmehr die Taten folgen.

Aberglaube hat mit dem Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertsein zu tun. Der Mensch aber verliert nicht gern die Kontrolle über sich und seine Umwelt. Deshalb hat der Aberglaube in Krisenzeiten Konjunktur. Er ist letztlich der Versuch, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen, Einfluss auf das eigene Schicksal zu nehmen. Der Aberglaube ist aber nicht nur in den klassischen Bereichen der Wunderheiler, Gespenster und magischen Kräften anzutreffen. Vielmehr ist er im Alltag gegenwärtig und auch im angeblich so rational aufgestellten Wirtschaftsleben. Die Handlungen an der Börse sind ein einziges Gemisch aus Neigung, Glaube, Spekulation und Erwartung, welches sich sachlich kaum begründen lässt. So erzielen die Unternehmen an der Börse beispielsweise am Freitag, dem 13. deutlich geringer Gewinne! Diese auch als Paraskavedekatriaphopie bekannte Angst kann man heute auch in anderen Lebensbereichen der angeblich doch so aufgeklärten Gesellschaft antreffen.

Wünsche aber können auch Triebfedern sein, etwas in Bewegung zu bringen, vielleicht auch zum Besseren. Unerlässlich allerdings dafür ist eine Kommunikation auf Augenhöhe.

kuba

 

Editorial

Nach nunmehr fast drei Jahrzehnten der Tristesse scheint es in der Causa „Villa Kolbe“ nun endlich einen veritablen Lichtblick zu geben.
Der langjährige Rechtsstreit zwischen den Eigentümern und der Stadt Radebeul wurde nun zugunsten der Stadtverwaltung aufgegeben, sodass das inzwischen stark sanierungsbedürftige Gebäude einem Bieterverfahren zugeführt werden kann.
In der Tat hatte das Objekt schon seit langer Zeit unter der Rubrik lost places im Netz einen bemerkenswerten Kultstatus entwickelt, zählte doch einst die Villa nach dem Entwurf des Berliner Architekten Otto March und von den Baumeistern Gebrüder Ziller im Stil eines deutschen Renaissanceschlosses errichtet, zu den schönsten und prunkvollsten Häusern der Stadt.
Ab 1892 wohnte der Chemiker und Arzneimittelunternehmer Carl Kolbe hier, einige Eigentümerwechsel folgten, und über einem langen Zeitraum wurde die Villa als chirurgische Klinik genutzt.
In den Nachwendejahren führte der Leerstand dann zu all seinen unerfreulichen Folgen. Das verwaiste Haus lockte viele ungebetene Besucher, zum äußeren Verfall gesellte sich Vandalismus an der reichen und kostbaren Innenausstattung.
Schon bald wird sich vielleicht zeigen, welche Nutzung das einstige Kleinod mit dem stattlichen parkähnlichen Garten wieder erfahren kann.
Es bleibt zu hoffen, dass die bedeutsame historische Anlage zukünftig wieder der Öffentlichkeit erhalten bleibt. Ein Ärztehaus ist schon allein aus wirtschaftlichen Gründen gut vorstellbar.
Wünschenswert, wenngleich wohl zu träumerisch, wäre, wenn ein Teil der repräsentativen Räumlichkeiten erlesenen künstlerischen Formaten, ähnlich wie in der „Villa Teresa“ in Coswig, künftig einen würdigen Platz bieten könnten.

Sascha Graedtke

 

Verkürzt geöffnet, länger geschlossen

Über Gaststätten als gefährdete touristische Infrastruktur

Bild: B. Kazmirowski


Die “Vorschau”-Hefte des Jahres 1993, also vor genau 30 Jahren (!), setzten einen Schwerpunkt, der aus heutiger Sicht auf den ersten Blick etwas befremdlich anmuten mag: Wir stellten unter der Rubrik „Stiftung Gaumentest“ Gaststätten in Radebeul und Umgebung vor. Diese thematische Reihe wurde sogar schon 1990 begonnen und bis 1994 fortgesetzt, aber der Jahrgang 1993 sticht hervor, weil tatsächlich in jedem Heft eine Restauration beschrieben und im Hinblick auf Gastlichkeit und Preis-Leistungs-Verhältnis beurteilt wurde. Warum die „Vorschau“ damals dieses Thema setzte? Weil mit der Erfahrung aus den Jahren der DDR, in denen man in den Gaststätten zumeist warten musste, bis man „platziert“ wurde, die Erkenntnis reifte, dass eine gut ausgebaute gastronomische Infrastruktur zu jeder Kulturlandschaft gehört. Auf Dauer funktioniert Tourismus nur mit Möglichkeiten zur Einkehr. Und über die damals stetig wachsende Vielfalt solcherart Örtlichkeiten in unserem Verbreitungsgebiet wurde eben berichtet, was den Lesern unseres Kulturheftes gut gefiel. Besonders auffällig an dieser Reihe war, dass für den Leser unklar blieb, wer eigentlich die Gaststätte inkognito besucht und anschließend im Heft besprochen hatte, denn als Autor stand immer nur „Ihre Stiftung Gaumentest“ unter den Beiträgen. Interessant an den besprochenen Lokalen des Jahres 1993 ist aus der Sicht von heute auch, dass einige der traditionellen Gasthäuser noch immer existieren, gleichwohl gastronomisches Konzept und/oder Betreiber inzwischen mitunter gewechselt haben, z.B. „Spitzhaus“ (1/93), „Zu den Linden“ (2/93), „Börse Coswig“ (3/93), „Grundmühle“ (4/93) oder „Zum Bürgergarten“ (11/93). Andere der damals aufgeführten Einrichtungen haben längst geschlossen und dürften z.T. nur noch einem kleinen Teil der Leserschaft bekannt sein, wie etwa das „Café Noteingang“ (ebenfalls 4/93) oder „Pauls Bierstuben“ (5/93). Die räumliche Verteilung der gastronomischen Einrichtungen im Stadtgebiet hat sich seit den frühen 1990ern natürlich insoweit verändert, als dass mit der Sanierung des Dorfangers Kötzschenbroda ein weit über die Stadtgrenzen hinaus bekanntes und beliebtes Zentrum entstanden ist, in dem sich verschiedene Restaurants, Cafés und Bars aneinanderreihen und die Auswahl entsprechend groß ist. Das hat(te) auch Auswirkungen auf andere Teile Radebeuls, in dem praktisch keinerlei ganzjährig geöffnete Gaststätten mehr existieren, z.B. in Lindenau (wenn man von der saisonabhängig geöffneten „Welle“ im Bilzbad absieht) oder auch in Serkowitz (der traditionsreiche „Gasthof Serkowitz“ gibt seit 2012 wenigstens dem Lügenmuseum eine Heimat). Kein Geheimnis aber ist auch, dass nicht erst durch die Pandemie die Herausforderungen für die Gastronomen weiter gewachsen sind und es schwieriger geworden ist, den Betrieb aufrecht zu erhalten, was Auswirkungen auf die Öffnungszeiten hat. Zwei Beispiele aus eigenem Erleben seien genannt. Im August 2022 sah sich der Betreiber eines Weingutes mit Gastbetrieb unterhalb der Oberlößnitzer Weinberge gezwungen, die gastronomische Ausgestaltung eines seit mehreren Monaten für September geplanten 50. Geburtstag wegen Personalmangels kurzfristig abzusagen. Schaut man sich zu Jahresbeginn 2023 auf den Websites einiger Restaurants um, wird klar, wie leergefegt der Markt an Fachkräften sein muss. „Zu den Linden“ und das „Spitzhaus“ suchen aktuell Restaurantfachkräfte, Köche und Küchenhilfen und die „Lößnitztalschänke“ einen Koch bzw. eine Köchin. Anderswo wird es wohl ähnlich aussehen. Zweites Beispiel: Im September 2022 standen zwei bierdurstige Freunde gegen halb Neun am Abend vor der Lößnitztalschänke, die eigentlich bis 22 Uhr geöffnet hat, aber wurden aus Mangel an Gästen wieder weggeschickt, denn man wollte lieber eher schließen. Mangel an Gästen? In Zeiten, wo alles teurer wird, überlegt man sich eben zweimal, ob man sich mit Freunden auf einen Happen oder ein Bier in einer netten Gaststätte trifft oder sich doch lieber zu Hause selbst kümmert. Hier verbinden sich also zwei ungünstige Faktoren zu einer Gemengelage, die seit einiger Zeit das auswärtige Essen und Trinken weniger planbar macht als es wünschenswert wäre. Hinzu kommt als neueste Sorge noch, dass die Auswirkungen von Inflation und gestiegenen Energiepreisen die Betreiber dazu zwingen, Öffnungszeiten (noch mehr) einzuschränken, weil man sich nicht leisten kann, in besucherarmen Zeiten Küche und Gasträume betriebsbereit zu halten. Ein in dieser Hinsicht bestürzender Befund ergibt sich, wenn man einen Restaurantbesuch an Werktagen zur Mittagszeit ins Auge fasst. Touristen, die jetzt zu Jahresbeginn in der Oberlößnitz unterwegs sind, können sich nur entscheiden, ob sie sich im Asia-Schnellimbiss auf der Meißner Straße/Ecke Schildenstraße etwas zum Mitnehmen holen, sich im Asia Restaurant Ha Long Ecke Meißner Straße/Rosenstraße versorgen oder in die Lößnitztalschänke einkehren. Von den „Linden“ über den „Römer“ und das „Atlantis“ bis hin zum „Spitzhaus“ haben alle einschlägigen Restaurationen oberhalb der Meißner Straße wochentags zur Mittagszeit geschlossen. Und die hoteleigenen Restaurants „Nizza“ im Radisson Blue bzw. das Sterne-Restaurant im „Haus Sorgenfrei“ eignen sich wenig für Touristen, die im moderaten Preissegment speisen möchten. Mit dieser Zustandsbeschreibung verbinde ich keine Kritik an den Gastronomen, vor deren Arbeit unter den genannten Umständen ich Respekt habe und den Hut ziehe. Es ist nachvollziehbar, dass man so wirtschaften muss, dass am Ende des Tages auch Gewinn erzielt wird, die Löhne in der Gastronomie sind ohnehin schon nicht sehr hoch, ohne Selbstausbeutung ist ein Betrieb kaum aufrechtzuerhalten. Es bleibt nur zu hoffen, dass die gegenwärtig trübe Lage sich im Frühling und Sommer wieder aufhellt, wenn die Tourismussaison Fahrt aufnimmt. Denn eines ist doch klar: Eine Stadt mit der landschaftlichen Schönheit und den touristischen Ambitionen wie Radebeul sollte seinen auswärtigen Gästen (und den Einheimischen!) mehr bieten können als nur einen eng umgrenzten Bereich in Kötzschenbroda, an dem zu allen Tageszeiten hungrigen und durstigen Gästen geholfen wird. Was kann man tun? Ein Gedanke ist, dass jeder von uns auch Gaststätten fairerweise im weitesten Sinne zu den Kultureinrichtungen zählen sollte, denn das gepflegte Mahl begleitet von passenden Getränken in ansprechendem Ambiente ist Ess-Kultur, wie vor 30 Jahren auch die „Stiftung Gaumentest“ meinte. Aber anders als die „normalen“ Kultureinrichtungen bekommen Gaststätten keine Fördermittel oder Subventionen der öffentlichen Hand, sondern leben schlichtweg vom Zuspruch der Kundschaft. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie leben von uns allen und davon, dass wir mit jedem Restaurantbesuch auch ein kleines Stück dazu beitragen, dass die noch existierenden Restaurationsbetriebe auch weiterhin bestehen und im besten Fall ihre Öffnungszeiten guten Gewissens wieder ausdehnen können. Auch wenn wir Einheimische womöglich nicht zwingend an einem Werktag zur Mittagszeit in der Oberlößnitz essen gehen müssten: unsere nächsten Hochzeiten, runden Geburtstage und Konfirmationen kommen bestimmt. Und wer ist da nicht froh, eine Auswahl an geeigneten Einrichtungen wohnortnah vorzufinden?

Bertram Kazmirowski
 

Zum Titelbild


Radebeul in historischen Ansichten

Weinbergstraße 10, Meínholdsches Turmhaus

Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus einer Grafik von Johann Adolph Darnstedt um 1810. Die Anfänge des Weinguts sind schon zu Beginn des 17. Jh. nachweisbar. Der historische Name des Weinguts in der Überschrift bezieht sich auf den Dresdner Hofbuchdrucker und Verleger Carl Christian Meinhold (1740-1327), der 1792 den Weinberg in der Lößnitz mit dem Weingut erwarb. Danach gab es noch verschiedene weitere, hier nicht genannte Eigentümer. Als heutiger Name hat sich neben dem historischen der Namen Weingut Aust eingebürgert. Karl Friedrich Aust setzt die Arbeit zur Erhaltung des Weinguts und der Bewirtschaftung der Weinberge seiner Eltern Ulrich (1942-1992) und Elisabeth Aust fort. Er errichtete 2021/22 ein neues Kellereigebäude, da die alten Weinkeller inzwischen zu klein und zu eng geworden waren. Was für Veränderungen gab es seit Darnstedts bildlicher Darstellung von um 1810 noch? Da hatte der Turm noch zwei Abstufungen nach oben; 1844 taucht dann ein Bild auf mit nur noch einer Abstufung, der Turm war umgebaut worden. So zeigt sich der Turm mit Wetterfahne, einer vergoldeten Fortuna, noch heute. Östlich vom Weingut kam 1853 an Stelle des Nebengebäudes eine Villa in der Art der Schweizerhäuser (Arch. C.E. Johne) hinzu.
Dietrich Lohse

 

Mit Dieter Beckerts Gedichten und Geschichten durch das Jahr

Beckert – der Brachialromantiker

 

Der Mensch ist nicht gern allein. Wer Beckert sagt, muss in diesem Fall nicht nur Jürgen B. Wolff erwähnen, sondern mindestens auch Peter Till anfügen, der sicher nicht nur den Radebeulern als Duo „Herr Beckert & Vergissmeinnicht“ noch bekannt sein dürfte. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an ihren Auftritt zum Künstlerfest 2008 im Rahmen des Sommerprojektes „ArbeitsWelten“, veranstaltet von der Stadtgalerie Radebeul. Aber auch Solo ist Peter Till mit seinem „Universal Druckluft Orchester“ bestens bekannt. Für Tills Geburtstag 1991 verfasste Beckert u. a. diese Zeilen:

Mit übler Rede schlimmster Sorte –
Im Gehirnsaft gut gegart
Lallten druckreif aus ihm Worte –
Wein und Veritas gepaart

Darum freilich geht es in diesem Beitrag nicht, wenngleich hier die Richtung schon etwas angedeutet werden soll. Es geht auch nicht so sehr um das „Duo Sonnenschirm“, deren Protagonisten Dieter Beckert und Jürgen B. Wolff sind, als vielmehr um Dieter Beckert selbst. Wer aber Beckert sagt, kann zumindest die beiden anderen nicht links liegenlassen. Aber der Reihe nach.

Buchcover Rückseite:Ballhornsche VerlagsAnstalt Leipzig/Dresden 1997

Beckert und Wolff sind gewissermaßen ein Paar. Also nicht im herkömmlichen Sinne. Sie sind vielmehr Vollblutmusiker mit vielseitigen Begabungen, die sich bereits 1986 zum „Duo Sonnenschirm“ zusammenfanden, welches sie auch als „brachialromantisches Kabarett“ verstehen. In Daniil Charms (1905–1942), Lene Voigt (1891–1962) und den polnischen Dichter Konstanty Ildefons Ga?czy?ski (1905–1953), der behauptete, ein „Haus ohne Käse ist wie ein Hund ohne Grammophon“, sieht u. a. die Musik-Formation als ihre „Ahnen“. Gemeinsam haben Beckert und Wolff im Laufe der Jahre viele Musikprojekte verwirklicht, für die sie mehrfach mit dem „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ ausgezeichnet wurden. Die Wurzeln des Duos liegen in der Folkmusikbewegung der 1970er Jahre in der DDR. Man könnte sie auch als etwas eigenartige „Liedermacher“ bezeichnen.
Aber beide musizieren nicht nur miteinander. Ihre selbstverfasste Musik braucht natürlich auch Texte und die stammen größtenteils von Dieter Beckert. Schade wäre freilich, wenn diese nur zu den Konzerten zu hören wären. Was also tun? Ganz einfach: Man schreibt ein Buch! Und so erschien im TOM VERLAG LEIPZIG 1993 DIE LIEBE IN DEN ZEITEN DER KOHLÄRA. EIN BRETTLBUCH. Die Herausgeber: Dieter Beckert & Jürgen B. Wolff vom „Duo Sonnenschirm“. Es umfasst auf annähernd 200 Seiten Texte, Gedichte, ein kleines Stück, Grafiken (Wolff) sowie zwischen all den Köstlichkeiten auch ein wenig zur Geschichte vom „Duo Sonnenschirm“, angereichert mit Fotos. Der Tagespiegel (Berlin) schätze damals ein: „Da kann man noch so lange suchen – andere Kleinkünstler, die mit vergleichbaren oder ähnlichen Darbietungen wie das Dresdner Duo Sonnenschirm ins Rampenlicht treten, sind derzeit auf der gesamtdeutschen Brettl-Szene nirgends auszumachen.“.
Ganze zwei Jahre später brachten die Beiden mit dem Roman Das Hanebuch von 1984. DIE BRACHIALROMATISCHE URFAUS oder DAS ENDE DER LEBERTRANEN-DYNASTIE heraus, eine hanebüchende Geschichte, die dem Leser in das XXXV. Jahr der Lebertranen-Dynastie führt. Die Illustrationen und Schaubilder stammen wieder von Jürgen B. Wolff.

Buchcover Rückseite: Connewitzer Verlagsbuchhandlung Leipzig 1995 und dem »Igel-Verlag

Das dritte Buch dieser Art kam 1997 unter dem Titel ZuverSicht Ist | Des | Schiffers UferLicht in der Ballhornschen Verlags Anstalt heraus und enthält neben den Texten auch Fotos, Grafiken und Collagen.
Beckert’s Texte folgen nicht dem Tradierten. Vielmehr strotzen sie vor eigenen Wortschöpfungen, Verballhornungen bis ins Obskure gehend, bleiben aber eng am alltäglichen Leben. Man sollte sie nicht bierernst nehmen, sich vielmehr am Fluss des Textes und dessen Wendungen erfreuen.
Für die zwölf Ausgaben von Vorschau & Rückblick des Jahres 2023 werden Geschichten und Gedichte aus allen drei Bänden ausgewählt.

Karl Uwe Baum

Radebeuler Miniaturen

1623-2023: Vierhundert Jahre Haus Möbius

I
Haus und Grund

Wer’s nicht kennt, wird das unscheinbare Putzrelief unterm wuchernden Wein schwer finden: Eine ursprünglich weiße Platte von etwa 17 auf 35 cm, trägt eingeritzt und ehemals schwarz eingefärbt die Jahreszahl 1623: das älteste Baudatum unseres Hauses in der Winzerstraße. Von wohl floral gemeinten Bogenwülsten eingerahmt, krönt es schlußsteinartig das mit drei Putzrillen angedeutete ehemalige Bogenportal.
Vierhundert Jahre! Ulrike staunt immer wieder aufs Neue. Wir wohnen nun schon so lange hier, doch jetzt erst beginnt sich mir die zeitliche Dimension richtig zu erschließen.
Naja, sag ich, vierhundert Jahre, das sind gut und gerne sechzehn Generationen.
Und, fragt sie, du mit deiner Fantasie, hast du Vorstellungen, was sich in der Zeit alles abgespielt hat?
Vorstellungen? Freilich hab ich Vorstellungen – auch wenn nicht viel Greifbares überliefert ist. Es sind ja gerade mal fünfundvierzig Jahre, als ein reichliches Zehntel, was wir überblicken.
Ulrike zündet ein Kerzlein an in der Dämmerung, setzt sich im Großmutterstuhl zurecht, blickt mich erwartungsvoll an und sagt: na los, erzähl schon!
Also: Am Anfang – –

Am Anfang kaufte der „Doktor der Heiligen Schrift Ägidius Strauch“ zwei nebeneinanderliegende Weinberge „im Mittelgebirge von Kötzschenbroda“, den einen von Hans Mehlich aus Wahnsdorf, den anderen von Caspar Schulz und seiner Schwester. Das war im Jahre 1622.
Die Weinberge lagen an der Hausgasse (heute Winzerstraße) und reichten bis zur Hangkante hinauf, dorthin etwa, wo heute die Obere Bergstraße verläuft. Sie umfaßten mindestens das Areal zwischen der heutigen Karlstraße und der Horst-Viedt-Straße. Die aktuelle Parzellierung ist eine relativ junge Erscheinung aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Es gibt Grund zu der Annahme, daß damals zumindest schon ein Pressenhaus auf dem Grundstück vorhanden war. Bald nach Erwerb ließ der neue Besitzer unmittelbar daneben ein neues Haus errichten, das im Jahr 1623 fertiggestellt wurde.
Modernsten Anforderungen entsprechend wurde das Erdgeschoß in massivem Bruchsteinmauerwerk aufgeführt. Ein Fachwerkobergeschoß folgte. Für die Ausfachungen wurden vermutlich von Anfang an Ziegelsteine verwendet. Das Gebäude wurde durch ein einfaches steiles Zeltdach geschützt. Das im Untergrund befindliche Kellergewölbe ist von der östlichen Außenseite her zugänglich.
Hier hast du eine Ansicht von damals, wie sie von Mike Maderer in einer Studienarbeit an der TU Dresden 1997 angefertigt worden ist.

Ich reiche das Bild rüber, und greife nach meinem Weinglas. Darauf dürfen wir schon mal anstoßen …
Thomas Gerlach

Eine Glosse

Gartenstadt kontra Händler

Wie sagte meine Mutter immer: „Man kann nicht gleichzeitig beides haben.“ In heutigen Zeiten hat sich das allerdings etwas gewandelt. Die Leute wollen meist immer alles. Mitunter schiebt man das auf die schwere Kindheit von Einzelkindern. Die mussten ja nie teilen! Ob die Lenker und Leiter in unserer Gesellschaft Einzelkinder sind, entzieht sich meiner Kenntnis, aber teilen wollen sie offensichtlich auch nicht gern – zumindest nicht ihre Meinung mit anderen. Auch der Radebeuler OB hat unlängst verkündet, sich auch künftig nicht ändern zu wollen.
Und so ist es wohl beschlossene Sache, dass auf dem mittleren Teil der Radebeuler Bahnhofstraße künftig eine innerstädtische grüne Oase entstehen soll, denn statt Parkplätze sollen nun Bäume gepflanzt werden. Wenn man dann, die beiden in jüngster Zeit zur Abstimmungen gelangten Sanierungsvarianten für die nun endgültige Verschönerungskur der Bahnhofstraße zusammenrührt, könnte mit den 27 vorgesehenen Bäumen gar ein richtiger kleiner Wald entstehen. Und nun lassen wir mal – nur so zum Spaß – unsere Phantasie schweifen, etwa so wie damals in der Bahnhofshalle die CDU-Granden unserer Stadt – was da noch so alles möglich sein könnte! Neue und vor allem mehr Bänke sollen sowieso aufgestellt werden, obwohl die neu-alten auch erst ca. fünf Jahren auf ihren Lehnen haben. Aber was soll’s, wir haben‘s ja. Wenn schon Oase, dann aber richtig! Auf der Fahrbahn könnte eine Wiese mit schönen Forsythia-Gewächsen und Schmetterlingsfliedern angelegt werden. Da lassen sich gleich noch einige Punkte für den Artenschutz sammeln. Und wenn dann die letzten verbliebenen Händler Nistkästen für die Vögel spenden, entwickelt sich mit der Zeit in der Bahnhofstraße ein richtiges kleines Paradies. Vielleicht wäre auch noch ein niedlicher kleiner plätschernder Bach im Sanierungsbudget drin, womit wir auch gleich noch etwas gegen das aufgeheizte innerstädtische Klima tun könnten. Und eines steht dann felsenfest fest: Die Touristen aus aller Herren Länder werden strömen, das Beherbergungsgeschäft wird blühen und auch die letzten freien Flächen können dann, der Konjunktur und den ewigen Meckerern zum Trotz, nun endlich mit modernen Mehrfamilienhäusern zugebaut werden. Nachahmenswerte Beispiele haben wir ja in unserer Stadt zur Genüge.
Auch mich würde das sehr erfreuen, und an so manchen Tagen würde ich gern in der Bahnhofstraße, die dann von jedem stinkenden Motorverkehr endlich befreit wäre, die Beine baumeln lassen und das eine oder andere öffentliche Nickerchen machen.
Klar, die „Klasse der Radfahrer“ können wir bei diesem Vorschlag nicht so einfach ignorieren. Ein separater, eingegrenzter Schnell-Radweg müsste da doch noch drin sein, und die dazu notwendigen Fußgängerampeln dürften ja auch kein Problem darstellen.
Ehrlich gesagt, fände ich so eine Anlage im Herzen unserer Stadt einfach toll. Und wenn dann noch das ohnehin nur halb belegte SZ-Haus abgerissen wird, kann auch der Apothekerpark wieder zu neuem Leben erweckt werden, der durch die Abtrennung des Spielplatzes jetzt eher ein mickriges Dasein fristet.
Endlich könnte Radebeul-West mit Radebeul-Ost mithalten, wenn auch nicht im Einzelhandel (eine Gedenktafel könnte ja an einstige Zeiten erinnern). Wir hätten dann etwas, was sicher keine Gemeinde in Sachsen aufzuweisen hat und zukunftsweisend für den Umbau der Städte zu klimafreundlichen Zonen sein könnte. Das wäre auf alle Fälle ein Beispiel für eine innovative Stadtsanierung, von der auch die Bürger etwas hätten.
Nun ja, man wird halt mal träumen können. Selbst wenn ich jetzt vielleicht als Pessimist verschrien werde, kann ich nicht glauben, dass es nach der Sanierung zu einer Belebung der Bahnhofstraße kommen wird. Der Bahnhof wird weiter verkommen, der Vorplatz wird zugestellt, die Autofahrer werden sich um die Stellplätze in der Güterhofstraße streiten und die Nummer mit dem Wochenmarkt ist auch vom Tisch. Welch ein Geschrei…! Erst alle Bäume umsägen und nun so viel Bäume pflanzen wollen, wie nur möglich! Ein seltsamer Wandel. Das klingt wie, „wir haben zwar keinen Plan, fangen aber erst mal an“. Meine Mutter hatte schon recht, als sie mich vor Leuten warnte, die immer alles wissen und sich angeblich nie irren, meint
Euer Motzi

 

RADEBEULER FIRMENGESCHICHTE

Arevipharma GmbH
Ehemaliges Arzneimittelwerk  – 25 Jahre TBA

Turm mit der thermischen Behandlungsanlage (TBA) Foto: S. Graedtke

Jährlich im Frühjahr findet man im Radebeuler Amtsblatt den „Öffentlichkeitsbericht der Thermischen Behandlungsanlage [TBA)“. Das ist eine recht unspektakuläre Sache und selbst Interessierte brechen sicher nach dem ersten Satz mit Lesen ab. Der erste Satz vermittelt nämlich stets Stabilität und umweltgerechten Betrieb. Da es diese Anlage seit nunmehr gerade 25 Jahren gibt, hierzu folgenden „historischen“ Hintergrund. Das Arzneimittelwerk Dresden mit seinem Hauptwerk auf der Meißner 35 war nicht nur ein wichtiger hiesiger Arbeitgeber, sondern als Kombinats-Hauptwerk Kern der Arzneimittelproduktion der DDR. Mit den Wurzeln in den 1870igern (von Heyden ) machte es in seiner Entwicklung natürlich alle Umweltsünden weltweiter chemisch-pharmazeutischer Produktion mit. Das waren vor allem die unbehandelte Abwasserentsorgung in die Elbe und der freie Ausstoß von Abluft und Abgas in die Atmosphäre. Mit aufkommendem Umweltbewusstsein begann man in der westlichen in die Welt ab den 60íger Jahren massiv mit der Abstellung solcher Missstände. Man fixierte das auch gesetzgeberisch. Es war ein schlimmes Versäumnis der DDR-Führung, Umweltschäden bis zum Ende 1989 nicht ernst genug zu nehmen. Die Elbe war entsprechend verseucht und Radebeul roch lax gesagt entsprechend herb. Es gab zwar durchaus punktuelle Verbesserungen; mit dem Bau einer großen Mehrzweckanlage (1977-78) auch eine „Abluftentsorgung“ über einen 165m hohen Schornstein aber auch aus Geldmangel keine umweltgerechte Lösung. Folgerichtig kam es dann nach der Wende Ende April 1990 zur Werksbesetzung durch Greenpeace. Vor allem wurde hier das Abwasserproblem thematisiert und eine sofortige Werksschließung gefordert.
Ab diesem Zeitpunkt bekamen Ab-Wasser und -Luft die gebührende Aufmerksamkeit. Mit der nachfolgenden Werksübernahme durch Asta-Medica, Pharmasparte der DEGUSSA, mit höchster Priorität. Im Rahmen der umfassenden Umstrukturierung dieses Konzerns war es damals Zielstellung, Radebeul zum einzigen Wirkstoffhersteller des Konzerns auszubauen. Dabei war unbedingt zu beachten, dass für eine weiter Betriebserlaubnis alle geltenden Umweltgesetze der BRD ab dem 1.1.1995 einzuhalten waren.
Als Sofortmaßnahme wurde daher eine Abwasserleitung, sehr teuer, doppelwandig mit Leckageüberwachung, zum Klärwerk Kaditz gebaut. Hier ließen sich die chemietypischen in Mischung mit den kommunalen Abwässern Dresdens gut und umweltgerecht abbauen.
Mit Abluft und Abgasen war das völlig anders . Bis auf eine gewisse Entsorgung, nicht Behandlung, über den Schornstein, lagen sie völlig konfus vor; an hunderten Stellen in den Produktions- und Technikbereichen des Werkes verteilt. ln Summe handelte es sich um etwa 100.000 m3/ Stunde.
Relativ schnell war klar, dass hier nur eine gebündelte Erfassung und angepasste Verbrennung zielführend war. Der Mehrzweckcharakter der Anlagen sowie der ständige Produktwechsel hätten eine eher populäre biologische Abgasreinigung absolut überfordert. Also Verbrennung, welch Teufelszeug! ln der Bevölkerung gärte es. Im AWD soll eine Abfall-Verbrennungsanlage gebaut werden! Hier musste zum Vorantreiben des Projektes diplomatisch vorgegangen werden. Da in der Flamme, bei hoher Temperatur, alle Schadstoffe unschädlich gemacht werden können, kann man von einer thermischen Behandlung sprechen. Von nun an wurde nur noch von thermischer Behandlung gesprochen. Das verbleibende Kürzel TBA führte letztlich zur nötigen Ruhe bei der Weiterbearbeitung. Zur damals vorliegenden unde?niert großen Abluftmenge muss gesagt werden, dass alle üblichen in großem Maßstab in der pharmazeutischen Produktion eingesetzten Lösemittel mit Luft explosive Gemische bilden. Nur mit großen Luftmengen umging man dauerhaft der Explosionsgefahr. Mit so großen Luftmengen konnte man aber keine wirtschaftliche Entsorgung betreiben.
Die ingenieurtechnische Aufgabe war daher folgendermaßen zu umreißen:
1. Konzeption des Aufbaus und Dimensionierung der Behandlungsanlage
2. Erfassung und Fortleitung sämtlicher Abluft bzw. Abgas
3. Gleichzeitige Lösung des Explosionsproblems
4. Absolute Minimierung Abluft/ Abgas.
Die Leistung derTBA wurde damals, das war ingenieurtechnisch fortschrittlich, mit 1500m3/h Abluft / Abgas und gleichzeitiger Verbrennung von 350 kg/h flüssiger Abfallstoffe der eigenen Produktion festgelegt und bei den zuständigen Behörden beantragt.
Projektierung und Bauausführung erfolgte durch das Ingenieurwesen der DEGUSSA. Dem technischen und verfahrenstechnischen Team AWD verblieben neben der Projektbetreuung und dann parallel zum Anlagenaufbau eine wahre Mammutaufgabe. Das gesamte Werk musste entsorgungsgerecht umgebaut und anschlussbereit gemacht werden. in erfreulicher Zusammenarbeit gab man uns im Rahmen eines sogenannten „Öffentlich rechtlichen Vertrages“ behördenvertraglich dafür Zeit bis Mitte 1997.
Die Bearbeitung erfolgte von diesem Zeitpunkt an durch ein Trio. Zum Umbau des Werkes soll nur soviel gesagt sein, dass es seitdem auf dem Gebiet der Abgasentsorgung ein völlig anderes Werk gibt. Auch die Belegschaft musste an eine neue, geänderte Bedienung herangeführt werden, Der Umbau erfolgte „auf Sicht“ mit täglichen Abstimmungen zwischen Projektteam, Produktion und einer sehr kreativ ?exiblen Rohrbaufirma. Nur so konnte ein „?otter“ Baufortschritt ohne Produktionsstillstand und damit Umsatzausfall gewährleistet werden. Ein Teil der Technik (Reaktoren, Trockner, Trenntechnik, Vakuumtechnik… ) wurden auf entsorgungstechnisch neuen Stand gebracht. So manches wurde ausgesondert und durch neue Apparate ersetzt. Ansonsten erfolgte eine konsequente Kapselung der Ausrüstungen bei gleichzeitiger Dauerinertisierung (Hinzufügung) mit Stickstoff. Die sichere Anwesenheit von Stickstoff verhindert eine explosive Atmosphäre innerhalb der Apparate. Allein schon diese Voraussetzung erforderte den Aufbau einer eigenen Infrastruktur mit weitverzweigten Rohrleitungsnetzen.
Nach von atemloser Spannung begleiteter Zuschaltung des neuen als ASA bezeichnetem Gesamtsystems an die TBA im Juni 1997 konnte folgende erfolgreiche Bilanz gezogen werden:
– restloser Anschluss sämtlicher Abluft und Abgasquellen bei gleichzeitiger Mengenreduzierung auf etwa 1% der früheren Werte
– enorme Einsparungen bei der Beheizung der Produktionsstätten
– drastische Reduzierung der Abwassermenge soweit, dass heute das Werk deutlich abwasserärmer arbeitet (das waren ursprünglich 60-70 m3 pro Stunde)
– Ertüchtigung der TBA zwecks zusätzlicher Entsorgung beladenen Wasserstoffs einschl. spez. Erfassungs- und Fortleitungssystem
– Entschärfung evtl. Sicherheitsentspannungen im Havariefall über Dach; dabei Anschluss einer solchen mit besonderer Brisanz an die TBA mit spez. Anschlusssystem.
Seit Mitte 1997 läuft nun die TBA erfolgreich. In ihr werden in einer Brennkammer bei über 1000″ C Abluft, Abgas und flüssige Abfallstoffe unter Erdgaszufuhr sicher verbrannt. Anschließend werden diese Rauchgase mit Wasser extrem schnell abgeschreckt, nun erst unter Verwendung von verdünnter Natronlauge, dann mit vollentsalztem Wasser gewaschen, erneut erwärmt, mit Ammoniak versetzt über einem Katalysator denoxiert (vgl. Dieselmotoren-Adblue), abgekühlt und nach Messung aller relevanten Emissionskennwerte über Dach ausgestoßen. Die Überwachung erfolgt hinsichtlich evtl. Ausfallzeiten, der Einhaltung der Verbrennungstemperatur, des Ausbrandes , Schwefeldioxid, Stickoxid, Salzsäure und Staubgehalt kontinuierlich. Dioxine sind einer kontinuierlichen Messung nicht zugänglich. Hier erfolgt turnusmäßige Probenahme und Auswertung durch ein unabhängiges Prü?abor. ln der TBA wird Abwärme zur Dampferzeugung genutzt. Allerdings nicht umfassend, da ansonsten mit Dioxinbildung gerechnet werden musste.
Aus heutiger Sicht ist der Betrieb der TBA eine Erfolgsgeschichte. Ohne sie wäre das Werk nicht betriebsfähig. Abweichungen in Verfügbarkeit und Nichteinhaltung von Ernissionsgrenzwerten waren kaum erwähnenswert. Nach der anlagentechnischen Erneuerung des Prozessleitsystems 2021, in die auch die gebündelte Betreibererfahrung zweier Jahrzehnte einfloss, kann fast von einem Idealbetrieb gesprochen werden. Das konzipierte Entsorgungskonzept war gut gewählt. Auch zwischenzeitliche Verschärfungen der Emissionsgesetzgebung waren unproblematisch erreichbar. Jährlich zulässige Schadstofffrachten nach der 17. Bundes-lmmissionsschutzverordnung werden nur zwischen 0 und 34% ausgeschöpft!
Durch Abwanderung der Wirkstoffproduktion im Rahmen der Globalisierung, konnte das Potential der TBA bisher nicht wirksam werden; sie war für eine Erweiterung des Produktionsstandortes vorbereitet. Allerdings ist der hohe Gasbedarf der TBA (einige 100.000 m3 pro Jahr) gerade jetzt Anlass zu großer Sorge denn ohne TBA keine Produktion. Hier kann man nur hoffen und der TBA mit dem traditionsreichen Werk eine weitere erfolgreiche Zukunft wünschen.
Am 2. Januar 1874 nahm der Firmengründer am Standort die „Salicylsäurefabrik F.v.Heyden“ in Betrieb. Also vor fast 150 Jahren! Auch sollte in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass vor 80 Jahren in den Laboren dieses Werkes Epochales entwickelt wurde. Der Chemiker Richard Müller erfand die Grundsynthese der Silikonchemie, bekannt als Müller-Rochow-Synthese was wären wir heute z.B. ohne Mikro-Chips!
Der Autor wagte einen sehr persönlichen Rückblick auf einen wichtigen Teil Werksentwicklung der jetzigen Arevipharma in Radebeul Ost, an dem er im letzten Jahrzehnt seiner Berufstätigkeit teilnahm, Prägend waren dabei Konzipierung und Dimensionierung der TBA und daraus folgernd die Projektverantwortung bei entsorgungsgerechtem, mengenreduziertem Werksumbau. Unbedingt müssen aber dabei die Herren Peter Dethloff, Radebeul sowie Jürgen Müller, Meißen genannt werden.
Peter Gühne

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