Die Stechpalme – Baum des Jahres 2021

Erfreulicherweise ist es in vielen Ländern der Erde zu einer Tradition geworden, jedes Jahr einen Baum des Jahres auszurufen, um auf Bäume aufmerksam zu machen und zu ihrem Schutz anzuregen. In manchen Ländern handelt es sich dabei um einen konkreten Baum, in anderen, so auch in Deutschland, um eine ausgewählte Baumart. Der erste Baum des Jahres in Deutschland wurde 1989 gekürt, es war die allbekannte Stiel-Eiche (Quercus robur). Der Baum des Jahres 2021 ist die Gewöhnliche Stechpalme (Ilex aquifolium), auch Hülse oder Stechhülse genannt. Gewöhnlich ist an ihr eigentlich nichts. Es wird damit nur zum Ausdruck gebracht, dass diese europäische Art die in Deutschland einheimische und auch am häufigsten in Kultur anzutreffende Stechpalme ist (weltweit gibt es etwa 400 Arten der Gattung Ilex). Dabei ist sie keineswegs in ganz Deutschland verbreitet, ihr Areal reicht vom atlantisch beeinflussten, wintermilden Westeuropa bis in das westliche Deutschland, von hier über Niedersachsen bis Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, wo sie vor allem im Einflussbereich der Ostsee vorkommt.

Weiblicher, reich fruchtender Baum der Stechpalme Foto: P.A. Schmidt

Die immergrüne Stechpalme kann als Baum 10–15 m hoch und bis 300 Jahre alt werden, wächst aber auch strauchförmig. Auffällig sind die ledrigen, glänzend grünen, stechend zugespitzten Blätter, deren welliger Rand stachelig gezähnt oder ganzrandig sein kann. Nicht weniger ins Auge fallen die leuchtend roten Steinfrüchte, die aber nicht alle Bäume zieren, denn die Stechpalme ist zweihäusig. Es gibt also männliche und weibliche Pflanzen. Fruchtschmuck tragen natürlich nur die weiblichen Bäume, aber Voraussetzung für die Ausbildung samenhaltiger Früchte ist eine Pollen spendende männliche Pflanze in deren Umgebung. Die Früchte werden von Vögeln, vor allem Amseln, Sing- und Wacholderdrosseln, Rotkehlchen oder Mönchsgrasmücken verzehrt, die Steinkerne jedoch ausgeschieden und damit die Ausbreitung der Pflanze gefördert. Für den Menschen sind die Früchte und Blätter giftig. Die Stechpalme ist eine sogenannte Schattenbaumart, sie erträgt Schatten und wächst in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet im Unterwuchs von Wäldern. Wer gern an die Ostsee fährt, wird sie vielleicht schon im Waldschatten gesehen haben, so bildet sie im Ahrenshooper Holz (Darß) dichte Bestände unter dem Kronendach des Buchenwaldes. Sie kann aber auch auf lichten, sonnigen Standorten gedeihen, wobei es jedoch im Winter Probleme geben kann. Obwohl die Stechpalme Frost bis zu –15° C erträgt, kann es bei starker Sonneneinstrahlung im Winter zu Schäden kommen. Da die Blätter und die Rinde der jungen Zweige grün sind, wird die Photosynthese angekurbelt. Eine Zufuhr von Wasser aus dem gefrorenen Boden ist jedoch unmöglich, so dass Trockenschäden (Frosttrocknis) die Folge sind. Dies ist bei der Pflanzung von Stechpalmen zu beachten.

Zweig der Stechpalme mit Früchten und
stachelig gezähnten Blättern Foto: P.A. Schmidt

Warum heißt nun ein in Deutschland einheimischer Baum Stechpalme? Stechend erklärt sich leicht, da ein Teil der Blätter, meist die im unteren Teil der Krone, am Blattrand stechend spitze Blattzähne aufweist. Aber Palme? Die Blätter sind doch weder fächer- noch fiederförmige Palmwedel! Der Namen erklärt sich aus der christlichen Tradition, denn am Sonntag vor Ostern, dem Palmsonntag, wurde mit einer Prozession an den Einzug Jesu in Jerusalem, wo er mit Palmwedeln begrüßt wurde, erinnert. In Ermangelung von Palmen und überhaupt von grünen Zweigen zu dieser Jahreszeit in Mitteleuropa wurden Zweige der Stechpalme verwendet. Heute ist jedoch die Stechpalme weniger mit der Osterzeit verbunden, sondern findet eher Weihnachten Beachtung. Die in Großbritannien traditionelle Verwendung der grünen Zweige mit ihren roten Früchten zur Weihnachtszeit hat inzwischen auch bei uns Liebhaber gefunden. Die englische Bezeichnung der Stechpalme ist „holly“, ein Name, der auf einen gemeinsamen Wortstamm (althochdeutsch „hulis“) mit Hülse, dem vor allem in Nordwestdeutschland verwendeten Namen für die Stechpalme zurückgeht. Wer bei Holly an Hollywood denkt, liegt richtig, denn dieser weltbekannte Ort in den USA ist tatsächlich nach der Stechpalme benannt, heißt also übersetzt „Stechpalmenwald“.

Die wildwachsenden Vorkommen der Stechpalme stehen in Deutschland unter Naturschutz, denn es ist eine nach der Bundesartenschutzverordnung besonders geschützte Art. Sie wurde früher vielseitig verwendet, so das Holz für Tischler-, Drechsler- und Schnitzarbeiten, Spazierstöcke wurden ebenfalls daraus gefertigt. Auch Goethe soll einen Spazierstock aus dem Holz der Stechpalme besessen haben. In den ehemaligen Hutewäldern war die Art nicht beliebt, denn die Weidetiere mieden wegen der stacheligen Blätter die Pflanzen, wodurch sie sich ausbreiten konnten. Deshalb wurden sie von den Landnutzern zurückgedrängt. Zum Rückgang trug aber vor allem die Verwendung der attraktiven Zweige für Kranzbinderei, als Grabschmuck oder für Dekorationen bei. Heute wird dafür auf kultivierte Pflanzen zurückgegriffen.

Stechpalmen im Unterwuchs des Waldes Foto: P.A. Schmidt

In Sachsen ist die Stechpalme nicht einheimisch, wird aber gern als Zierpflanze in Gärten und Parks kultiviert. Heute begünstigen die meist milden Winter eine Ansiedlung außerhalb der Kulturstandorte, indem nach Vogelausbreitung in siedlungsnahen Wäldern natürliche Verjüngung aufkommt, so z.B. im Kapitelholz im Spaargebirge zwischen Meißen und Sörnewitz. Wesentlich häufiger aus Kultur verwildert tritt die ebenfalls immergrüne Stechdornblättrige Mahonie (Mahonia aquifolium) auf, die nicht mit der Stechpalme verwechselt werden darf. Sie besitzt Fiederblätter mit stachelig gezähnten Blättchen. Die Ausbreitung der in wintermilden Gebieten West- und Mitteleuropas und im Mittelmeerraum beheimateten Stechpalme ist vielerorts zu beobachten. Als Folge der Klimaerwärmung dehnt sich auch das natürliche Verbreitungsgebiet aus, so von bisherigen Arealrändern in Norwegen nach Norden oder im Ostseeraum nach Osten, wo sie sich von Dänemark bereits nach Schweden oder von deutschen Vorkommen nach Polen ausgebreitet hat.

Die Baumart Gewöhnliche oder Europäische Stechpalme ist nicht nur der Baum des Jahres 2021 in Deutschland, sondern ein Exemplar der Stechpalme ist auch der Rekordbaum oder Champion Tree des Jahres 2021 in Deutschland. Die Deutsche Dendrologische Gesellschaft und die Gesellschaft Deutsches Arboretum küren jedes Jahr einen Baum, der den stärksten Stamm seiner Art in Deutschland besitzt, als Champion Tree des Jahres. In diesem Jahr ist es eine 271 Jahre alte Stechpalme in Braunfels (Hessen) mit einem Stammumfang von 2,93 m (gemessen in 1,3 m Höhe über dem Boden). Dieser Baum wird anlässlich des Internationalen Tages des Baumes, der jedes Jahr am 25. April begangen wird, geehrt. Die Stechpalme mit dem stärksten Stamm in Sachsen (etwa 1 m Stammumfang) steht im Forstbotanischen Garten Tharandt.

Prof. Dr. Peter A. Schmidt, Ehrenpräsident der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft e.V., Am Wasserwerk 24, 01640 Coswig, OT Sörnewitz

Stilles Finale im Radebeuler Festbüro

Cornelia Bielig verlässt die Schaltzentrale (Teil 1)

Cornelia Bielig im Gespräch, Foto: Karin Baum

In der kulturellen Szene von Radebeul hatte es sich schnell herumgesprochen, dass Cornelia Bielig am 1. April 2021 in Rente geht. Einige ihrer Kollegen (w/m) fragten mich: Kannst du mal was über sie in der Vorschau schreiben? Na klar, das hatte ich doch ohnehin schon vor. Also trafen wir uns mit Mund- und Nasenschutz, redeten über die Sinnhaftigkeit von Kultur, über Illusionen und Ambitionen, verstrickten uns in gemeinsame Erinnerungen, tauschten uns aus über erfolgreiche und gescheiterte Projekte und wie das denn so sei, ein Leben ohne dienstliche Verpflichtungen im sogenannten Ruhestand.

Über Künstler, Preisträger, Politiker und A/B/C-Prominente schreiben sich Scharen von Journalisten die Finger wund. Aus dem Internet quellen unzählige Selfies und widersprüchliche Postulate. Doch über Cornelia Bielig habe ich im Netz nicht allzu viel gefunden. Und wenn, ging es zumeist um Eintrittspreise, Straßensperrungen, Gläserpfand, Besucherzahlen usw., usf. …
In der öffentlichen Wahrnehmung bediente sie den weniger angenehmen Part, den des Puffers zwischen Kreativität und Bürokratie. Wobei sich Letztere auf unergründliche Weise selbst zu befruchten schien. Denn der Verwaltungsaufwand wuchs von Fest zu Fest und nahm der Kultur die spielerische Leichtigkeit. Aus rein kommerzieller Sicht hätte es diese Art von kulturlastigen Stadtfesten ohnehin niemals geben dürfen.

In den Abschied von einem langen Arbeitsleben mischt sich wohl immer etwas Nostalgie. Und wann, wenn nicht jetzt, sollte man auch darüber sprechen oder schreiben, was sich zwischen und hinter den Kulissen der großen Stadtfeste ereignet hat?

Zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes 1990, auf der Bühne vor dem Magnetkaufhaus in Radebeul-Ost: Stadtrat Dr. Johannes Jacob, Bürgermeister Eberhard Schmidt, Direktor der Puppentheatersammlung Dr. Olaf Bernstengel als Weihnachtsmann (3., 4., 5. v.l.n.r.), Foto: Karin Gerhardt

Selbstinszenierungen waren nie „Connys“ Ding. Auf der Bühne standen immer Andere. Als ich fragte, ob sie das je gestört habe, winkte sie gleich lachend ab. Auf manche mag das vielleicht etwas altmodisch wirken, bei mir weckte das eher Sympathie. Was mich mit Cornelia Bielig verbindet, reicht über drei Jahrzehnte zurück. Die Rollen und Konstellationen sollten später noch mehrfach wechseln. Bis 1990 war sie mal kurz meine Chefin, dann ein paar Jahre ich die ihre und schließlich befanden wir uns beide auf der gleichen Ebene, in der sogenannten Sandwichposition als Sachgebietsleiterinnen der Radebeuler Stadtverwaltung im Amt für Bildung und Kultur. Die Dimension der Radebeuler Stadtfeste machte schon bald ein eigenes Sachgebiet erforderlich und Cornelia Bielig war nun zuständig für „Feste und Märkte“, ich wiederum für die Förderung von „Kunst und Kultur“.

Erstmals begegnet sind wir uns im Oktober 1987. Der damalige Stadtrat (heute Amtsleiter) für Kultur, Jugend und Sport, Hans-Georg Meißner (1947–2006), sollte eine andere Funktion übernehmen und fragte mich, ob ich seine Nachfolgerin werden wolle. Das löste bei mir keine allzu große Begeisterung aus, war ich doch mit meiner Tätigkeit als Leiterin der „Kleinen Galerie“ in Radebeul-Ost recht zufrieden. Kurze Zeit später meinte er: „Entspanne Dich, wir haben jemanden gefunden. Du wirst sie bald kennenlernen. Das ist so eine Kleine mit großer Brille und blondem Zopf.“ Die Zusammenarbeit gestaltete sich überwiegend unproblematisch, manchmal auch recht turbulent. Klein aber stur! Naja, schuldig sind wir uns beide nichts geblieben. Kulturleute sind von Natur aus robust. Cornelia Bielig kam vom Fach und erwies sich als Pragmatikerin, frei nach dem Motto „Geht nicht – gibt’s nicht“, was innerhalb der vorgegebenen Strukturen mal mehr und mal weniger gelang.

Ihr beruflicher Werdegang schien vorgezeichnet: In Meißen 1956 geboren, dort aufgewachsen und Abitur, unmittelbar danach Beginn eines Studiums (möglichst weit weg) an der Universität Greifswald. (Als Tochter von zwei Pädagogen, natürlich in der Fachrichtung Pädagogik.) Das Intermezzo währte allerdings nur kurz. Brav war gestern. Sie brach das Studium ab. Im zweiten Anlauf entschied sie sich für ein Studium an der Klubhausleiterfachschule in Siebeneichen. Sie gehörte zum 3. Jahrgang, der im Direktstudium zum staatlich geprüften Kulturwissenschaftler (Klubhausleiter) ausgebildet wurde. Dank der engagierten Dozenten erhielt sie von 1977 bis 1980 eine fundierte und praxisorientierte Ausbildung. Rückwirkend schätzt sie ein, dass sie dort sehr viel über die Methodik der Kulturarbeit gelernt habe, was für ihre spätere Arbeit eine wichtige Grundlage bilden sollte, aber nach 1990 keine offizielle Anerkennung fand.

Obwohl Meißen zusehends verfiel, galt diese kleine Stadt als ein spannender Ort. Zahlreiche Denkmalpfleger kämpften dort recht öffentlichkeitswirksam um den Erhalt der historischen Gebäudesubstanz. Und die Studenten bzw. Absolventen der Klubhausleiterschule prägten das kulturelle Leben nicht unwesentlich mit. Vom Jugendklub „Wendelsteinkeller“ und dem „Liedermarkt“ wird noch heute geschwärmt. Helmut Raeder, der in Siebeneichen einige Jahre später studierte, initiierte zum Beispiel im Rahmen seines Praktikums den Meißner „Kinderjahrmarkt“, welcher selbst in Radebeul als heißer Insidertipp galt. Auch Cornelia Bielig, die zu dieser Zeit bereits in der Meißner Kulturverwaltung tätig war, wurde auf ihn aufmerksam. Die besondere Atmosphäre dieser ungezwungenen Veranstaltung hatte ihr Interesse geweckt, so dass sie zu ihm Kontakt aufnahm. Damals ahnte sie nicht, dass das der Beginn einer über Jahrzehnte währenden Arbeitsbeziehung werden sollte.

Eingang des Grundstücks Altkötzschenbroda 50 zum Herbst- und Weinfest 1994, Foto: Privatarchiv

Die neue kulturelle Offenheit hatte allerdings auch Grenzen. Eines Tages bekam Cornelia Bielig in ihrer damaligen Dienststelle ominösen Besuch. Ihr wurden Fotos vorgelegt, auf denen man sie und ihren Ehemann als Besucher der provokanten „Intermedia I“ in der Coswiger „Börse“ identifiziert hatte. Die folgenreichen Zusammenhänge begriff sie erst viel später. Während die mitwirkenden Maler, Filmer, Performer, Tänzer, Free-Jazzer und Punks durch die Szene gefeiert wurden, traf den damaligen Klubhausleiter Wolfgang Zimmermann das wohl weniger populäre Schicksal von allzu experimentier- und risikofreudigen DDR-Kulturorganisatoren. Er wurde gefeuert.

Im Jahr 1985 erfolgte der Umzug nach Radebeul. Auf der Suche nach einer kulturell anspruchsvollen Tätigkeit, strandete Cornelia Bielig schließlich in der Abteilung Kultur und Soziales des Arzneimittelwerkes Dresden. Zuständig war sie dort für die Kultur- und Bildungspläne der Kollektive, organisierte Veranstaltungen zum Frauentag sowie zu sonstigen betrieblichen und gewerkschaftlichen Höhepunkten. Innovative Kulturarbeit hatte sie sich anders vorgestellt. Mit dem Stellenangebot der Radebeuler Stadtverwaltung bot sich eine neue Herausforderung. Auch hier trat sehr schnell Ernüchterung ein. Im Rathaus saß sie in einem kleinen Zimmer unterm Dach so „zwischen allen Stühlen“, die man sich überhaupt denken kann. Die vorrevolutionär gestimmten und sehr selbstbewusst auftretenden Leiter der unmittelbar nachgeordneten Einrichtungen von Weinbaumuseum, Stadtgalerie, Stadtbibliothek Ost und West befanden sich auf der einen Seite. Die Neue von der Kulturverwaltung auf der anderen. Zuständig war sie u. a. auch für die innerstädtische Zusammenarbeit mit den Kulturabteilungen ortsansässiger Betriebe, der Abteilung Kultur beim Rat des Kreises Dresden-Land, dem Kreiskabinett für Kulturarbeit, dem Pionierhaus, dem Klub der Intelligenz, den Kulturhäusern wie „Haus der Werktätigen“, „Völkerfreundschaft“, „Heiterer Blick“, „AWD-Klubhaus“ und dem Jugendklubhaus „Sekte“ (Nachfolgeeinrichtung des Jugendclubhauses „X. Weltfestspiele“) sowie den Filmtheatern „Freundschaft“ und „Union“.

Der Blick zurück in die „Vorwendezeit“ offenbart Gescheitertes und Gelungenes. Während die Aktion zur Rettung des Filmtheaters „Freundschaft“ im Jahr 1988 letztlich erfolglos blieb, wirkt eine ihrer Unterschriften bis heute nach. Die setzte sie, quasi in letzter Minute, noch als Stadträtin für Kultur, Mitte April 1990 unter ein sehr wichtiges Dokument. Dabei handelte es sich um den Antrag auf Rechtsträgerwechsel für das volkseigene Grundstück Altkötzschenbroda 21, zum Zwecke der künftigen Nutzung als städtische Galerie. Die Zustimmung hierzu wurde durch den damaligen Bürgermeister Dr. Volkmar Kunze und die Stadtverordneten erteilt. Das war knapp!

Festeinzug zum Herbst- und Weinfest 1992, Jürgen Karthe mit Bandoneon, Foto: Frank Hruschka

Nach den Kommunalwahlen am 7. Mai 1990 erfolgte die Ablösung des amtierenden Bürgermeisters. Etwas später wurden dann auch alle Stadträte von ihren Funktionen entbunden. Und so kam es, dass meine Chefin zu meiner Mitarbeiterin wurde. Der Weg aus der Kernverwaltung im Rathaus führte auf der Karriereleiter hinab in die „Kleine Galerie“ auf der Ernst-Thälmann-Straße 20 (heute Hauptstraße). In Ermangelung anderweitiger Räume mutierte diese bei laufendem Ausstellungs- und Veranstaltungsbetrieb immer mehr zu einer Art Basislager für Stadtteilkultur und bot Cornelia Bielig einen Interimsarbeitsplatz. Von hier aus wurde 1990 der erste Nachwende-Weihnachtsmarkt und 1991 das erste „echte“ Radebeuler Herbst- und Weinfest organisiert. Die Galerie wurde Treffpunkt für Initiativgruppen verschiedenster Art, wo auch die aus dem „Neuen Forum“ hervorgegangene Bürgerinitiative Kultur zusammenkam, welche schließlich den Verein Radebeuler Monatsheft „Vorschau und Rückblick“ gründete. Dass Cornelia Bielig am 12. November 1991 zu den sieben Gründungsmitgliedern gehörte, hatte ich längst vergessen.

Das neue Unterstellungsverhältnis war zunächst recht ungewohnt, wurde von der einstigen Stadträtin aber weniger als Degradierung, wohl eher als Erleichterung empfunden. Hatte sie doch zwei Kinder, musste nun nicht mehr ständig an endlosen Beratungen teilnehmen, an Abenden und Wochenenden auf Achse sein. Endlich konnte sie mal wieder praktische Kulturarbeit leisten. Hinzu kam, dass im Jahr 1990 ohnehin sehr Vieles durcheinander geraten war. Einstmals stabile Strukturen begannen sich allerorten aufzulösen. Das betraf auch die Handelsorganisation (HO), welche bisher (wohl gemeinsam mit dem Konsum) für die Organisation und Ausgestaltung des Weihnachtsmarktes auf dem Einkaufsboulevard in Radebeul-Ost zuständig war. Den Weihnachtsmarkt ausfallen zu lassen, war allerdings für uns Kulturleute keine Option. Doch bis zum „Budenzauber mit Lichterglanz“, dem Weihnachtsmarkt in Altkötzschenbroda, wie man ihn heute kennt, mussten noch einige Hürden genommen werden.

Den Vorgeschmack, wohin sich die Radebeuler Festkultur hätte entwickeln können, bot vom 21. bis 24. September 1990 ein Herbst- und Weinfest nach bayerischer Art auf der Radebeuler Vogelwiese mit bayerischem Bierzelt, Bierfassanstich, Schmankerln, Brillant-Feuerwerk, Westernmusik und Super-Bingo. Nach dem der Zusammenschluss beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990 vertraglich vollzogen war, gab es kein Halten mehr. Glücksritter witterten „fette Beute“. Doch das Heft wollten wir uns nicht so schnell aus der Hand nehmen lassen. Und so konzipierten wir ein erstes Herbst- und Weinfest nach eigenen Vorstellungen. Inspiration boten die „Bunte Republik Neustadt“ und das „Dresdner Elbhangfest“. Ob so etwas in Altkötzschenbroda funktionieren würde, war allerdings ungewiss. Cornelia Bielig und ich zogen auf dem Dorfanger gemeinsam von Hof zu Hof. Wir baten die Bewohner ihre Tore zu öffnen und bei einem städtischen Fest mitzuwirken. Die Reaktionen waren zunächst sehr harsch: „Mädels woher kommt ihr? Von der Stadt? Mit der Stadt machen wir gar nichts mehr. Die hat uns jahrelang verarscht!“

Doch wir ließen uns nicht beirren. Die Veranda einer Zillervilla auf der Dr.-Schmincke-Allee wurde Anfang Juli für einen Tag zur Ideenschmiede umfunktioniert. Wir kochten uns mehrere Kannen Kaffee und Conny hatte sich vorsorglich einen Zigarettenvorrat angelegt. Dann schrieben wir gemeinsam ein Festkonzept. Unsere Vorgesetzten, die Dezernentin für Soziales und Gesundheit, Bildung und Kultur Frau Dr. Ellen Brink sowie Herr Dr. Dieter Schubert (1940–2012), der im Januar 1991 seine Funktion als Amtsleiter für Bildung und Kultur angetreten hatte, ließen sich recht schnell überzeugen und sagten ihre tatkräftige Unterstützung zu. Zwei Monate mussten für das erste Radebeuler Herbst- und Weinfest, welches vom 27. bis 29. September 1991 stattfinden sollte, als Vorbereitungszeit reichen. (Fortsetzung folgt)

Karin (Gerhardt) Baum

Coronatorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wer mag es noch hören und lesen, das leidige C-Wort? Aber wussten Sie, dass inzwischen über tausend neue Worte, sogenannte Neologismen, in diesem thematischen Umfeld in der deutschen Sprache Eingang gefunden haben? Nicht alle sind bierernst, sondern von wohltuendem Humor geprägt. So sei Ihnen zum Amüsement ein kleines ABC auf den österlichen Weg gegeben:

Abstandsbier
Balkongesang
Coronasünder
Dauerhomeoffice
Ellenbogengruß
Fußgruß
Glühweinstandhopping
Helikoptergeld
Impfdrängler
Jo-Jo-Lockdown
Klopapierhysterie
Lockdownlockerung
Mundschutzmoral
Nullsemester
Onlinegottesdienst
Präsenzkultur
Quarantänekonzert
Risikotourist
Schnutendeckel
Todesküsschen
Verweilverbot
Wirrologe
Zoom-Party

Wir wünschen Ihnen trotz alledem frohe und besinnliche Ostertage! Und, halten Sie durch!

Im Namen der Redaktion

Sascha Graedtke

Interessantes aus Flora und Fauna

Der Eisvogel war Vogel des Jahres 1973 und 2009 Foto: Winfried Nachtigall

Wussten Sie schon, dass es neben dem bei uns schon mehrfach vorgestellten Vogel des Jahres oder auch dem Baum des Jahres weitere 31 Rubriken gibt, in denen von verschiedenen Organisationen jeweils ein Favorit des Jahres gekürt wird? So sind 2021 zum Beispiel der Fischotter Wildtier des Jahres, die Zauneidechse Reptil des Jahres, der Hering Fisch des Jahres, der Große Wiesenknopf die Blume des Jahres und der Grünling der Pilz des Jahres.
Weiter geht es mit der Wasserpflanze des Jahres über die Mikrobe des Jahres bis zum Waldgebiet des Jahres. Diese und alle weiteren »Jahreswesen« finden sie unter www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/aktionen-und-projekte/natur-des-jahres/ 2021.html. Schauen Sie doch mal rein und lassen Sie sich überraschen. Baum des Jahres 2021 ist übrigens die Stechpalme, über die im nächsten Heft berichtet werden wird. Die Entscheidung über den Vogel des Jahres ist noch nicht gefallen. In diesem Jahr gibt es erstmals eine Stichwahl unter zehn Kandidaten, an der auch Sie sich beteiligen können. Ca.130.000 Personen haben an der Vorauswahl teilgenommen. Folgende 10 von 307 Arten liegen an der Spitze:
1. Stadttaube (8937 Stimmen),
2. Rotkehlchen (5962 Stimmen),
3. Amsel (5088 Stimmen),
4. Feldlerche (5069 Stimmen),
5. Goldregenpfeifer (4772 Stimmen),
6. Blaumeise (4532 Stimmen),
7. Eisvogel (3764 Stimmen),
8. Haussperling (3734 Stimmen),
9. Kiebitz (3680 Stimmen),
10. Rauchschwalbe (3574 Stimmen).
Wenn Sie also Lust haben, können Sie bis zum 19. März beim Endausscheid mitmachen. Ich habe schon gewählt, verrate aber nichts!
Ilona Rau
Informationen beim NABU unter Telefon: 030 284984-0, E-Mail: nabu@nabu.de

Mit Bernhard Theilmann poetisch durch das Jahr

Altkötzschenbroda 70

Altkötzschenbroda 70

Das westliche Ende des Dorfangers von Altkötzschenbroda wird vom ehemaligen Hirten- oder Schäferhaus gebildet. Der Hirte war im Dorf ein Dienstleistender, der selbst keinen Bauernhof besaß und sich mit einem kleinen Bauernhaus begnügen musste. So hat dieses Haus eine Sonderstellung – nutzungsmäßig und städtebaulich – im Dorf. Da der Hirte, der nur die Schafe und Ziegen einiger Bauern betreute, kaum reich war, dürfen wir an seinem Haus keine baukünstlerischen Besonderheiten erwarten. Deshalb sind Sandsteingewände im EG schon etwas Besonderes und das Fachwerk im OG erfüllt allein eine statische Funktion.
Aber gerade in der Schlichtheit des verlassenen und verfallenden Gebäudes liegt nach der Sanierung von 1998/ 99 durch den neuen Eigentümer Andreas Dietze der besondere Charme, der noch eine Steigerung erfährt, wenn man über die Jahreszeiten hinweg den kleinen, immer schön bepflanzten Vorgarten betrachtet. Kerstin Dietze betreibt seit 2000 hier ein Beratungs- und Planungsbüro für Garten- und Landschaftsgestaltung. Die Raumerweiterung nach Südwesten ist als Neubau erkennbar, korrespondiert aber gleichermaßen gut mit dem um 1850 erbauten Altbau.
Dieses kleine Kulturdenkmal ist ein wichtiges Element innerhalb des Sanierungsgebietes Altkötzschenbroda.

Dietrich Lohse

Radebeuler Miniaturen

Selbstversuch mit Überraschung

Die vornehmste Aufgabe dieser Tage heißt Kontakt zu halten ohne Kontakt zu haben. Das Zauberwort dafür heißt: Videokonferenz.
Es gibt Menschen, sogar in meiner unmittelbaren Umgebung gibt es die, die schwören drauf wie früher auf die Bibel. Das spart Wege, sagen sie; da wird nicht mehr so viel palavert, sagen sie; da fallen die lästigen Handreichungen weg, sagen sie; da sparen die Gastgeber Mineralwasser, sagen sie; und sie sagen sonst noch so manches, wenn der Tag lang und die Konferenz vorbei ist.
Du kannst dich, sage ich schließlich zu mir selber, du kannst dich dem Fortschritt nicht auf Dauer verschließen, sonst sind eines Tages die anderen alle fort geschritten, und nur du bist, also ich bin noch hier – ganz alleine sozusagen, und die Kneipe ist auch zu. Also, sage ich mir, stell dich nicht so an, sage ich mir, nimm Anlauf und spring, so hoch ist sie vielleicht gar nicht, die Ekelschranke.
Gesagt getan.
Das erste Mal will gut vorbereitet sein. Da rufe ich also zuerst den Gastwirt meines Vertrauens an, um ihn in dasselbe zu ziehen. Ein virtuelles Treffen in deiner Kneipe, sage ich, als wir uns in gebührendem Abstand gegenüber stehen, nur eben am Fernseher. Du stehst, sage ich, wie früher hinterm Tresen und spülst Gläser. Ich komme rein, setze mich auf meinen Stammplatz ganz rechts, wie früher, und du stellst mir wie früher ein Bier hin – und alles virtuell im Fernsehn, und prost, sage ich.
Der Wirt, der mich schon so lange kennt, wie ich ihn, blickt mich lange an, ohne auch nur eine Minute an meinem Verstande zu zweifeln. Am Verstand der Schulämter, die Fernunterricht per dings für machbar halten, zweifelt schließlich auch keiner. Okay, sagt er dann, das machen wir – und gibt mir auch schon einen Zugangskot durch…

Drei Tage später ist es dann so weit.
Da ich, wie früher, ein paar Minuten zu früh bin, sehe ich noch eine Person auf meinem Platz hocken, ein Persönchen eher, das schnell zur Seite huscht, allerdings nicht, ohne mir einen neugierig vielsagenden Blick zuzuwerfen. Unvergeßlich, der Blick – die Augen, also, ich bin ja nicht so schnell, und ich hänge auch nicht am Detail, das Gesamte macht das Einzelne vollkommen – und umgekehrt.
Doppelt verwirrt – schließlich trete ich zum ersten Mal in meinem Leben durch den Fernseher in ein Lokal – grüße ich etwas verhalten den Wirt, die übliche Umarmung fällt natürlich auch weg, und dann tue ich so, als setzte ich mich auf den virtuellen Hocker. Da steht auch schon das Bier vor mir, ein schönes, frisch gezapftes – wie früher…
Nur – das trockene Gefühl unter der Zunge will nicht weggehen, und das virtuelle Bier läßt sich nicht mal virtuell wegnehmen: Es steht und steht und wird ganz real – schal.

Also, das ist nicht mein Weg. Sollen sie schreiten wohin sie wollen, die virtuelle Realität – schon der Begriff ist ein Monster, denn das eine schließt das andere aus – ist mir viel zu trocken. Wäre da, ja, wäre da Ulrike nicht, Ulrike mit dem neugierigen Blick. Es wäre einfach schade, wenn auch sie einfach fort schritte. Denn sie hat nicht nur schöne Augen, sie könnte es vielleicht sogar schaffen, daß Sonja irgendwann nicht mehr alleiniges Stadtgespräch ist …
Thomas Gerlach

Die ganze Glosse

Und die Moral von der Geschicht…?

Es gibt ja immer welche, die wissen „wie was geht“, die „gleich gesagt haben“… und was der Sprüche alle noch so sind. Erst neulich hat ein Intendant auf solche Verkünder hingewiesen. Aber wie eben das Leben lehrt, kommt man mit diesen Volksweisheiten nicht sehr weit, auch wenn man dazu den Friedrich Schiller bemüht. Denn, ein halber Schiller ganz oder halt ein ganzer Schiller halb, ist eben beides nichts Ganzes. Da weiß man noch lange nicht, was die Glocke geschlagen hat, mal abgesehen davon, dass heutzutage fast jeder glaubt, die Selbige schlagen zu können. Da herrscht ja auch kein Mangel …weder an Händen und noch an Glocken. Ein sehr guter Bekannter hat sich für diesen Fall folgende Richtschnur zurechtgelegt: „Erhalte ich für einen Tag mehrere Einladungen für irgendeine Sache, so bleibe ich zu Hause.“ Recht hat er! Schließlich leidet er an keiner Persönlichkeitsspaltung.
Heutzutage meinen ja auch alle zu wissen, was die Glocke geschlagen hat. Ich weiß nur, dass drei Pfund Fleisch…, aber lassen wir das. Das ist schon wieder eine andere Glocken-Geschichte.
Ein Blick in die Geschichte kann ja mitunter auch erhellend wirken. Da klingen einem in gewisser Weise regelrecht die Ohren vor Erkenntnis. Oder vor Einfalt…? Egal! Jedenfalls soll es im beginnenden 20. Jahrhundert an Verkündern und Propheten nicht gemangelt haben. Mit dem Ausrufen neuer Weisheiten, Lebensphilosophien und Weltuntergangsphantasien ist es damals zugegangen wie auf einem Basar. Etwa wie heute mit den Corona-Verschwörungstheorien, Moralappellen oder allgemeinen Aufrufen zur Freude und sonstigen Erscheinungen.

Natürlich sind Krisenzeiten immer belämmert. Und wer freut sich schon über eingeschränkte Kontaktmöglichkeiten, geschlossene Geschäfte und Kulturtempel? Nur die Fabrikhallen und Büros stehen allen offen, na und die Krankenhäuser – Gesunden wie Kranken. Ob die Altersheime jetzt noch Neuzugänge aufnehmen entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. Obwohl…? Die Spekulationen schießen ja gegenwärtig derart ins ins Kraut, dass man mit Richtigstellungen überhaupt nicht mehr hinterherkommt. Hier kann eigentlich nur eine Rückbesinnung auf Nietzsche helfen. Freilich auch nur auf die Gefahr hin, bei irgendwelchen Propheten anzuecken.
Aber mal ehrlich, bei so manchen Äußerungen könnte man glauben, die Leute haben nicht alle… Nein, ich werde, was mir gerade auf der Zunge lag, jetzt nicht zu Papier bringen. Man würde ja sonst von mir denken, ich hätte meine Contenance verloren.
Klar, Familie ist wichtig. Wie uns aber die Statistik zeigt, ist sie nicht das einzig Seligmachende. Rund 42 Prozent der Haushalte sind Singlehaushalte und es werden immer mehr. Weitere Überlegungen will ich hier nicht anstellen. Da sollten wir mal die Kirche im Ort lassen. Denn, auch eine ganze Kirche ist eben nur eine halbe Bevölkerung.
In schwierigen Zeiten könnte sich deshalb der Blick ruhig einmal weiten und das eigene Ego etwas zurückgestellt werden. Auch Schiller hat ja nicht nur mit Glocken gehandelt, sondern vielmehr Tacheles geredet, mehr noch geschrieben. Dabei waren seine Räuber keineswegs ein jugendlicher Fehltritt. Vielmehr folgte Schiller einer Grundüberzeugung, die bis in sein Spätwerk aufzufinden ist, auch wenn nachfolgende Kreise seine Werke für eigene Zwecke und Ziele vereinnahmten.
Das kennt man ja seit Ewigkeiten: Auf anderen Feuern die eigene Suppe kochen. Diese immer wieder nachwachsenden „Denkmalstürzer“ sind ermüdend, aber nicht ungefährlich, streuen sie doch Hass und Zwietracht. Nun soll der Mohr vom „Sockel“ geholt werden, dabei wurde er in europäischen Landen bereits im 16. Jahrhundert hoch verehrt. Andere wieder wollen vermeintliche Größen auf Selbigen stellen, wo sie nicht hingehören. Hier heißt es in Redaktionsstuben wachsam sein, auch das lehrt die Geschichte.
Wer jetzt nur noch Bahnhof versteht, kann getrost auch mal einen Blick auf die Webseite der Stadt Radebeul werfen.
Und die Moral von der Geschicht…? Man sollte immer wissen, was die Glocke geschlagen hat!

Euer Motzi

 

Zum Gedenken

Kurz nach Drucklegung des letzten Heftes erreichte uns nachfolgender persönlich-familiärer Beitrag in Ergänzung zum Nachruf für Dr. phil. Dr. sc. Manfred Altner, den wir auf Wunsch seiner Frau veröffentlichen.

Als Manfred Altner im Frühling 1977 mit seiner Frau und den beiden Söhnen das Grundstück in der Lindenauer August-Kaden-Straße begutachtete, war die Frage seiner Kinder: Wer war August Kaden? Da hatte er den ersten Forschungsauftrag für die später entstandenen »Sächsischen Lebensbilder« durch die Familie erhalten. Sie weiteten sich zu literarischen Streifzügen von der Lößnitz über die Lausitz bis zu Dresden und Leipzig (Edition Reinsch 2001). Und mit der Familie verbrachte Altner in Lindenau den Reisebeschränkungen zum Trotz die herrlichsten Sommertage. War doch das Bilzbad nebenan, der Dippelsdorfer Teich und Moritzburg nicht weit. Nach seiner Entlassung von der HfBK in der Wendezeit gelang es seiner Frau, durch Rückübertragung ihres Erbes für den Verkaufserlös, ein Haus im Grundstück für die ganze Familie zu bauen, in der ihre Mutter noch 13 Jahre bis zum 94. Lebensjahr mit leben konnte. Tatkräftig unterstützte Altner sie zuletzt bei der Pflege der Mutter.
Manfred Altner brauchte neue Herausforderungen. Seine alte Kollegin Gertrud Haupt, die er zufällig in Radebeul wiedertraf, machte ihn auf die monatlich erscheinende »Vorschau & Rückblick« aufmerksam. Ihr Mann hatte sie mitgegründet. Sie lebten seit Anfang der 50er Jahre auf dem Prof.-Wilhelm-Ring, nachdem sie mit Martin Andersen-Nexö ihre Wohnung auf dem Weißen Hirsch in der Kollenbusch-Straße tauschten, weil Nexö die vielen Stufen bis zum Haus nicht mehr steigen konnte. Durch Frau Haupt lernte Manfred Altner die Schriftstellerin Tine Schulze-Gerlach kennen, der er in dem Buch «Das Lächeln der Lößnitz« (den Titel hatte Altner gefunden). Edition Reinsch, 1999, ein Porträt zum 80. Geburtstag widmete. Ein weiterer Aufsatz im ››Lächeln…« war der zu unrecht vergessenen Lyrikerin Maria Marschall-Solbrig gewidmet, deren sensiblen Gedichte über die Landschaft der Lößnitz noch unveröffentlicht und unbeachtet auf mit der Schreibmaschine geschriebenen Blättern im Radebeuler Stadtarchiv schlummern. Es fehlt nur ein Geldgeber, um diesen Schatz zu heben. Heute muss der Autor Druckkosten beim Verlag bezahlen, damit sein Werk veröffentlicht wird:

„Land der braunen Rebenhügel, lieblich- heiter schönes Land,
lösest was die Seele band mit des Frohsinns leichtem Flügel.
Blumenbunter Erdengarten, sanfte Hügel, sonnensatt,
jede Blüte, jedes Blatt, nur auf unsere Sinne warten.
Leicht und heiter scheint das Leben,
holder Traum und Hoffnung winkt,
wenn des Landes Schöne sinkt in den goldnen Saft der Reben.
Mit der süßen Trauben Blut trinken Sonne wir und Glut.“

Außerdem gibt es im „Lächeln“ noch ein Porträt von Manfred Altner: „Leben und Leiden der Martha Hauptmann, geborene Thienemann“. Der zweitältere Bruder von Gerhart Hauptmann, Carl, später promovierter Schriftsteller, lernte, wie seine Brüder, die jüngste der drei Thienemanntöchter, Martha, aus dem großbürgerlichen Zitzschewiger Hohenhaus schätzen und lieben. Die drei Brüder Hauptmann heirateten drei Schwestern Thienemann, die ihnen durch ein beträchtliches Erbe eine sorgenfreie Entwicklung ermöglichten. Nur der Älteste, Georg, blieb seiner Frau treu. Nachdem sich die beiden, Carl und Gerhart, im Leben etabliert hatten, wandten sie sich jüngeren, unverbrauchten Gefährtinnen zu.
2003 erschien im Hellerau-Verlag „Gerhart Hauptmann in Dresden und Radebeul“ mit einem handschriftlichen Faksimile vom Gedicht „Goldene Zeiten“ im Umschlag des Einbandes sowie eine Parkskizze am Ende des Umschlags. Altner entdeckte im Nachlass der Marie Thienemann, der sich wiederum im Nachlass ihres Sohnes Ivo in Hamburg befand, den Trauschein von Marie und Gerhart Hauptmann, den Altner als Ablichtung ins Buch einbringt. Daraus ist ersichtlich, dass die standesamtliche Trauung in Kötzschenbroda in der Harmoniestr. 3 stattfand und die kirchliche Trauung nicht in der Frauenkirche, wie Hauptmann im „Abenteuer meiner Jugend“ beschreibt, sondern in der Johanneskirche, dort wo sich heute das Benno-Gymnasium in Dresden be?ndet.
Manfred Altner gab 2000 die „Schwestern vom Hohenhaus“ von Hans-Gerhard Weiß mit einem Vorwort heraus. Das Buch gibt einen Einblick in die Geschichte vom Hohenhaus und der Geschichte der sechs Thienemann-Kinder: fünf Töchter und ein Sohn. ln den 1990er Jahren schreibt Altner mehrere Artikel für „Vorschau & Rückblick“, die in den Jahresinhaltsverzeichnissen nachzulesen sind.
Für den Creutz-Verlag schreibt er für die Tischkalender 2008 und 2010 die geschichtliche Dokumentation. Manfred Altner gehörte zum Freundeskreis Hohenhaus und unterstützte den neuen Besitzer Torsten Schmidt mit seinen Vorträgen, zum Beispiel, als die Hauptmann-Gesellschaft ihre Jahreshauptversammlung 2003 im Hohenhaus abhielt oder als Nachkommen von Vertriebenen aus Schlesien auf ihrer Rundreise das Hauptmann-Haus in Agnetendorf. das hiesige Hohenhaus und auf Hiddensee „Haus Seedorn“ besuchten. lm Lindenauer Senioren-Club sowie in der Radebeuler Bibliothek-Ost sprach Altner über Hauptmann und die Thienemanntöchter, wo er auch eine Brieffreundin aus seiner Kinderbuchforschung noch aus DDR-Zeiten persönlich kennenlernte: Erika von Engelbrechten aus der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek München. Sie „habe noch viel von ihm geIernt“. Altners Arbeiten zeichneten sich durch gründliche und zuverlässige Recherchen und gute Lesbarkeit aus. Sie ist wiederum Erich Kästner noch begegnet, als sie ihm zu seinem 75. Geburtstag eine Ausstellung in der Blutenburg in München ausrichtete. ln den letzten zehn Jahren war sie im Kästner-Museum auf dem AIbertplatz in Dresden sonntags freiwillige Führungskraft.
Als das Pl Dresden 1968/69 Pädagogische Hochschule wurde, erhielt sie als Forschungsauftrag die Kinder- und Jugendliteratur. Altner schloss seine Habilitation auf diesem Gebiet erfolgreich ab. Zuvor verteidigte er 1967 seine Promotionsarbeit mit „Summa cum laude“ in Jena. Altner erhielt von der Universität Regensburg den Auftrag, die ostdeutschen Kinder- und Jugendbuchautoren, Illustratoren und Verlage in das Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur miteinzubringen, welches seit 1995-2011 aus nunmehr 13 ständig erweiterbaren Ordnern besteht und dadurch immer auf den neuesten Stand gebracht werden kann. Altner erhielt für seine Mitarbeit am Lexikon in Volkach, wo der Sitz der Akademie war, eine Auszeichnung, die er 2004 persönlich in Begleitung seiner Ehefrau und Frau von Engelbrechten entgegennehmen konnte.
Seit 1973 arbeitete Altner an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und brachte das Buchprojekt „Von der Königlichen Kunstakademie zur Hochschule für Bildende Künste“ als Leiter des Autorenkollektivs in Gang. Von Cheflektor Ehrhard Frommhold erhielt Altner den Auftrag für das erste Kapitel: „Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Tode Hagedorns“. Er setzte sich beim Kulturministerium für das Buch ein und erhielt grünes Licht. In zehnjähriger gemeinsamer Arbeit nahm das Buch Gestalt an. Und das alles ohne Computer und Internet in mühseliger Schreibmaschinenarbeit. Dazu in wochenlanger Übersetzung der in Sütterlin-Schrift aller Schüler-und Lehrerlisten ins Lateinische Alphabet auf Karteikarten! Davon dürfte das Archiv der Hochschule heute noch profitieren.
1990 erschien schließlich das 684 Seiten umfassende, wunderschön mit Fotos und Bildern ausgestattete Buch, fand jedoch wenig Beachtung, weil durch die Wende und interne Querelen die Hochschulleitung wechselte und sich keiner mehr für das Autorenkollektiv einsetzte. Mit 63 Jahren musste er die nun zweimal gekürzte Rente beantragen, obwohl er sich noch nicht zum alten Eisen zugehörig fühlte. Wie Viele konnte er diese Ungerechtigkeit nicht ertragen. Er widmete sich dem Thema: Frauen in der Exilliteratur: Hermynia zur Mühlen, Ruth Körner und Auguste Lazar in England, Lisa Tetzner aus Zittau in der Schweiz und Annie Geiger-Gogh im inneren Exil. Mit James Krüss war er befreundet und besuchte ihn Anfang der 90er Jahre auf Gran Canaria gemeinsam mit seiner Frau zweimal. Ab 2010 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurück. Er ertrug alle Unbilden tapfer und gab sich nicht auf. Aber seine Schöpferkraft ließ immer mehr nach. Er half dem jungen Tobias Günther, dessen schöne Radebeul-Kalender durch Texte zu den Bildern noch interessanter zu machen bis 2019. Altner hing sehr an Radebeul. der lieblichen Elbtal-Landschaft und ihren Seitentälern. Als dann die Aussicht am Wasserturm mit Eisentoren versperrt wurde, konnte er den weiten Blick im Sitzen auf der Alberthöhe nicht mehr genießen. Das tägliche Training bergauf und die Ruhepause fehlten dem fast 90jährigen. Und so ließen die Kräfte immer mehr nach. lm vergangenen Jahr war jeder Tag ein kleiner Abschied. Die 27 Jahre in Radebeul waren die schönsten seines Lebens. Am 27.11.2020 schlief er einen Monat vor seinem 90. Geburtstag am 26.12.2020 bei den Klängen von Tschaikowskys „Pathetique“ daheim ein.

Christine Schäfer

Da fehlt was …

Notwendige Anmerkungen zum Beitrag „Mit Schweiß gedüngt“

„Ein gewisser ernsthafter Idealismus erfaßt uns in unserer Jugend, deshalb sind so viele Freiwillige achtzehn – und tot.“
Sue Crafton soll das irgendwann geschrieben haben, vielleicht finde ich die Originalquelle noch irgendwo. Die Worte kamen mir in den Sinn beim Lesen des o.a. Beitrags von Burkhard Zscheischler im letzten Heft Vorschau und Rückblick (Heft 2/2021, S. 19ff), in dem der Autor in Erinnerungen seines Vaters kramt. Der war, wie zu lesen ist, 1936 einundzwanzig Jahre alt und hat als Dienstverpflichteter – also nicht ganz „freiwillig“ aber mit viel Spaß – Lößnitzer Weinberge „mit seinem Schweiß gedüngt“. Und sicher nicht ohne Idealismus, aber ganz bestimmt ohne nachzudenken hat er es im nachfolgenden Weltkrieg, wie berichtet wird, „bis zum Hauptmann“ gebracht. Nun, andere sind direkt in den Himmel gekommen. Das ist je bekannt: Wen der Barras erstmal in den Klauen hat, den läßt er so leicht nicht wieder los.
Über hier referierten den Radebeuler Tagen aber lag ganz offensichtlich nichts als jugendliche Romantik. Die für den Abschied zusammengestoppelte Reimerei spricht da für sich.

Was die jungen Leute damals nicht wußten – und was sie, hätten sie es gewußt, in ihrer pangermanischen Fröhlichkeit auch nicht beeinträchtigt hätte, war folgendes:
Der Bürgermeister Heinrich Severit, der auf dem beigegebenen Foto die uniformierten jungen Leute verabschiedete, hatte als strammer „Parteigenosse“ erst kurz vorher gemeinsam mit dem „Gauleiter“ Mutschmann den Zusammenschluß der Städte Radebeul und Kötzschenbroda betrieben und sich an die Spitze der nun größer gewordenen Gemeinde gesetzt. Dr. Wilhelm Brunner, der Bürgermeister von Kötzschenbroda, war in diesen Prozeß nicht einbezogen worden – er war kein Parteimitglied. Stattdessen stand ein Fahrzeug bereit ihn nach Hohnstein ins KZ zu bringen. Dank einer gezielten Indiskretion war er nicht zu Hause, als er „abgeholt“ werden sollte.
Zudem ist B. Zscheischlers Beitrag zu entnehmen, daß die Dienstverpflichteten im „Lager Immelmann“ untergebracht waren. Laut dtv-Lexikon (Brockhaus1995 Band 8) war der Namensgeber Max Immelmann 1890 in Dresden geboren. Abermals dürfte es „ein gewisser (ernsthafter) Idealismus“ gewesen sein, der ihn Offizier und Kampfflieger hatte werden lassen. Zudem wird ihm ein großer Anteil an der Entwicklung „deutscher Luftkriegstechnik“ zugeschrieben. Nach, wie es heißt, „15 Luftsiegen“ (was gewiß keine Luftnummern waren) ist er 1916 in Nordfrankreich ums Leben gekommen. Er hat es somit auf stolze sechsundzwanzig Lebensjahre gebracht und eignete sich dadurch ganz hervorragend als Vorbild für eine neue Kriegergeneration. Selbst von einen fatalen Idealismus erfaßt, haben das die jungen Leute damals nicht durchschauen können oder wollen. Anscheinend haben sie auch später keine weiterreichenden Schlüsse daraus gezogen.

Es ist gut, daß Burkhard Zscheischler ans Licht brachte, was es in „unserem schönen Radebeul“ so alles gegeben hat. Doch so ganz unkommentiert wollte ich die Sache nicht lassen. Das gehört auch zur Erinnerungskultur.
Thomas Gerlach

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