Radebeuler Miniaturen

Kanaris Valetus in Alltagsmaske
(für A.)

Die Tage werden wieder länger. Dennoch ist es Fast Nacht, als wir endlich ankommen. Geht schon mal rein, ruft Susanna, die Cremedose in der Hand, aus dem Bade, ich muß nur noch schnell meine Alltagsmaske auflegen.

Alltagsmaske? Sonja lacht. Das ist die, die du aufsetzt, wenn du nicht erkannt werden willst. Ich weiß schon, sag ich, freundlich, umgänglich, hilfsbereit und das offene Messer in der Tasche. Hätten wir uns nicht für heute auf eine andere einigen können, die Flirtmaske zum Beispiel?

Das laß mal lieber, lacht Sonja, da siehst du so albern aus, daß die Dame vor lauter Lachen nicht zum Kuß kommt.

Macht euch schon mal bekannt, ruft uns Susanna noch nach.

Dem Anlaß entsprechend leuchtet nur ein kleines Licht im Salon. Bei der Finsternis, sagt Sonja, sind ja die Ziffern kaum zu erkennen. Auch das ist Absicht, erklärt die Gastgeberin, die uns, aufrecht stolz und schön gefolgt ist, da fallen die Dunkel Ziffern nicht so auf. Sonja lächelt und läßt die Blicke über die Köpfe schweifen. Es fehlen ja noch zwei, sagt sie dann.

Die sind draußen, sagt Susanne, nach den aktuellen Vorschriften müssen immer Zwei das Haus Halten bei dem Wind.

Dann beginnt die Vorstellungsrunde.

Pan Dorra ist mit seiner Frau Panna Cotta aus dem slawischen Sprachraum angereist. Dort, erläutert Susanna, heißt Pan einfach Herr. Also reiche ich Herrn Dorra und Frau Cotta die Hand und bringe beiläufig meine Freude zum Ausdruck, daß Pan Tau die Reise doch nicht angetreten hat. Seine feuchte Kühle verursacht mir immer Schnupfen, und das ist nicht gesund in diesen Tagen. Kaum hustest du, schon wirst du von bösen, besorgten oder einfach nur neugierigen Blicken durchbohrt. Das schmerzt auf die Dauer.

Pan Dorra läßt sich nicht beirren, spricht von seiner Büchse und davon, daß er sich die Hoffnung nicht nehmen läßt. Ich hoffe, der meint mit Büchse nicht seine Frau, flüstert Sonja betroffen. Panna Cotta lächelt süßlich, aber durchaus nicht unangenehm. Sie wirkt überhaupt sehr anziehend.

Etwas abseits finde ich Pan Demi, der irgendwie allumfassend bocksfüßig daherkommt. Das wird, meint er selbstkritisch, an der Alltagsmaske liegen – jeder zeigt sich so, wie er gern gesehen werden möchte. Während ich mich frage, ob es mir Spaß machen würde, mich bocksfüßig zu zeigen, spielt er sehr ergreifend eine schöne Weise auf der Hirtenflöte. Leider sieht seine Frau Epi bei allem doch ziemlich daneben aus.

Da aber sorgt Pan Tarei für einen fließenden Übergang und Susanna bittet zur großen Majonaise. In ihrer Alltagsmaske ist sie wirklich kaum zu erkennen, flüstert Sonja, zum Glück sitzt sie auf dem Einhorn.

Die Musik setzt ein und – ab geht die Fahrt…

Thomas Gerlach

Fast eine Glosse

Wie jedes Jahr…

… oder auch nicht?

Zugegeben, diesmal war alles etwas anders, wie sonst üblich. Das hat den Deutschen regelrecht aus der Bahn geworfen. Nein, nicht aus dem „Lößnitzdackel“, viel schlimmer: Er musste seine Gewohnheiten umstellen! Eigentlich geht das gar nicht! Es ist ihm auch ungeheuer schwer gefallen. Rückfälle waren da unvermeidlich. So umarmte mich neulich eine Frau gleich zweimal, nur weil wir uns nach zwanzig Jahren unverhofft wiedergesehen hatten. Zu allem Unglück hatte sie ihren Impfausweis nicht dabei, und nun sitze ich unverschuldet in Quarantäne. So gern ich mich umarmen lasse, aber heutzutage grenzt das ja schon an Körperverletzung. Eine Anzeige habe ich aber nicht erstattet. Denn, was kann die arme Frau schon für ihre Reflexe? … Und wer weiß, wann mich das nächste Mal eine umarmt?! Bei der gegenwärtigen Lage kann ja alles das letzte Mal gewesen sein. Ob mein Friseur oder meine Stammkneipe je wieder aufmachen, weiß der Teufel. Oh…, mit dem will ich mich lieber nicht anlegen.

Die Ostdeutschen sollen ja erfinderisch sein, sagt man. Daran hat sich offensichtlich selbst 2020 nichts geändert. Auch wenn offiziell keine Feuerwerksraketen verkauft wurden, waren seltsamerweise nicht nur zu Silvester ausreichend Knallkörper vorhanden. Wenigstens in dieser Zeit ist Nachbars Hund das Bellen vergangen.

Ungewohnt war diesmal auch, dass die Radebeuler Bürger schon vorfristig in den Genuss einer Art Neujahrsrede ihres obersten „Dienstherrn“ gekommen sind. Auf diese unverhoffte Freude waren sie natürlich überhaupt nicht vorbereitet. Dies führte begreiflicherweise zu einer gewissen Ratlosigkeit.

Ich merk schon… jetzt bin ich dem Nicht-Radebeuler Lesern eine Erklärung schuldig.

Also, Neujahrsreden haben sich seit Jahrzehnten eingebürgert. Das wurde bisher auch so in Radebeul praktiziert. Zu Beginn eines jeden Jahres hatte der Oberbürgermeister in den Landesbühnen Sachsen an die großen Taten des vergangenen Jahres erinnert und die noch größeren kommenden Taten verkündet. Auch wenn das nur ein kleiner handverlesener Kreis vor Ort erleben konnte, gab es wenig später die Rede als PDF-Datei auf der Homepage der Stadt zum Nachlesen.

Doch diesmal, Pustekuchen! Der Empfang wurde aus verständlichen Gründen gestrichen! Stattdessen bekam der Bürger das altvertraute „Liebe Radebeulerinnen und Radebeuler, sehr geehrte Damen und Herren“ im ersten Amtsblatt des neuen Jahres, ein Interwiev des OB in der Sächsischen Zeitung mit der aufmunternden Überschrift „Die Haushaltslage trübt sich spürbar ein“ und als Novum: eine Video-Botschaft auf der Internetseite der Stadt. Das hat natürlich Verwirrung gestiftet. Guter Rat war da teuer. Was anschauen, was weglassen? Oder sind alle Beiträge wichtig?

Als Augenmensch habe ich mich selbstverständlich für die Videobotschaft entschieden. Den Oberbürgermeister im rosa Hemd neben einem weihnachtlichen Strauß und einem rauchenden Räuchermännchen in seinem Dienstzimmer zu erleben, wie er zu den Bürgern spricht, schien mir verlockend. Bedacht hatte ich allerdings nicht, dass mein PC erst noch auf dem neusten Stand der Technik gebracht werden müsste. Der verfügt über keinen Lautsprecher! Dennoch war für mich der 16-minütige Streifen auch ohne Ton ein Genuss. Schließlich fand ich neben dem Videoclip noch einen Text, der aber außer den ermunternden Grußworten des OB eine Art Information zur Sachlage darstellte. Wirklich schade, gern hätte ich noch eine frohe Botschaft vernommen.

Neujahrsbotschaften, so wenigstens mein bisheriges Verständnis, berichten darüber was war und was kommen könnte und vermitteln in der Hauptsache Aufmunterndes und Hoffnungsfrohes für künftige Zeiten. Die Botschaft aus dem Interview des OB mit der Sächsischen Zeitung könnte man mit den Worten „Gürtel enger schnallen“ zusammenfassen. Wo aber der OB die „positiven Überraschungen“ hernehmen will, die sich nach seiner Meinung die Menschen verdient haben, hat er schließlich dort nicht verraten. Seine Antworten auf die vielen von Silvio Kuhnert angesprochene Probleme fallen recht bescheiden aus. Da könnte es sein, dass die Meißner Straße noch vor Wald- und Weintraubenstraße saniert wird. Auch der innovative Teil des Sanierungsgebietes Radebeul-West wird wahrscheinlich mit den möglichen Parkplätzen in der Güterhofstraße und einem plötzlich aufgenommenen Spielplatz im Apothekerpark bescheidener ausfallen als geplant, zumal dafür an anderer Stelle Parkplätze und ein Spielplatz wegfallen sollen. Die Verhandlungen über die Nutzung von Post und Bahnhof laufen ja auch schon über Jahre.

Neben mahnenden Worten, Verhaltenshinweisen und der Aufforderung „sich an Regeln zu halten“ – schließlich tue dies die Verwaltung ebenso – hatte der OB aber doch noch eine frohe Botschaft für seine Bürger: Jeder sollte „sich selbst nicht ganz so wichtig nehmen“.

Euer Motzi

Waldesruh

Unweit und südlich der Baumwiese gibt es einen Ort der Stille. Nein, keine Kapelle, kein Epitaph, nicht einmal ein Wegekreuz. Wir sind ja nicht in der Lausitz oder in Bayern. Und doch würde ich ihn als einen Ort der Stille bezeichnen, der insbesondere jetzt im Winter die Zeit für einen kurzen

Foto: B. Kazmirowski 2013

Moment still stellt, wenn man sich auf ihn einlässt. Eine Futterkrippe. Jahr um Jahr ging ich früher in winterlichen Tagen dort mit meinen damals kleinen, staunenden Kindern hin, um ihnen zu sagen: Seht ihr, es gibt diese Rast- und Ruheplätze nicht nur in den Kinderbüchern oder in Märchenfilmen, es gibt sie wirklich. Inzwischen sind meine Kinder schon ziemlich groß und das Staunen darüber hat sich gelegt, aber etwas ist uns geblieben: Die stille Freude beim Anblick von Stroh, Möhren, Äpfeln, Kastanien, Eicheln, auch Maiskolben und Brotstückchen. Beim Gedanken daran, dass in frühen und späten Stunden, wenn die Spaziergänger die Junge Heide ihrem natürlichen Tagesrhythmus überlassen, dort das Rotwild in ungestörter Ruhe äsen kann. Welch ein unverhofftes Glück, wenn wir, wie erst jetzt wieder Anfang des Jahres, in der Nähe tatsächlich ein Reh erblicken wie es mühelos den Wald durchschnellt. Das Auge heftet sich an die springende Grazie, verfolgt sie durch das Unterholz, bis sie mit einem eleganten Satz die Böschung herabjagt und uns eigentümlich verzaubert, berührt zurücklässt. Futterkrippe, Reh, Stille: Der

Foto: B. Kazmirowski, 2021

Motorenlärm des nahen Autobahnzubringers kommt nicht an gegen den Frieden dieses Ortes, den Ortskundige wohl finden würden, gingen sie vom Katzenhuckel schräg durch den Tann zum Eichgartenweg. Wer aber bringt das Futter, wer bessert die Krippe aus?

Hatte ich früher Sorgen, dass das Dach irgendwann einmal einem Herbststurm oder Schneeabbruch nicht standhalten würde (siehe Foto von 2013), so beruhigt der Zustand von Anfang 2021 immerhin, denn das Dach ist kreativ ausgebessert worden. Ein Dank an alle, mir unbekannten Menschen, die mit wenig Aufwand, aber reichem Ertrag, diesen Ort als ein Stück stille Heimat erhalten. Für die Tiere. Für meine Kinder. Für mich.

Bertram Kazmirowski

Radebeul hat ein neues Kunstobjekt

Haben sie die Plastik „Wende“ von dem Künstler Reinhard Dietrich aus Ribnitz-Damgarten schon entdeckt? Radebeul lag bisher nicht in seinem künstlerischen Betätigungsfeld, er hat zahlreiche Plastiken und baukünstlerische Arbeiten in Städten und Orten an der Ostsee hinterlassen. So z.B. Wandmosaikgestaltungen an Neubauten in Rostock oder eine künstlerische Gestaltung eines Bootes neben dem „Teepott“ in Warnemünde. Im Laufe seines Lebens hat er oft mit dem bekannteren Künstler Jo Jastram zusammen gearbeitet. Bei dem vor den Landesbühnen aufgestellten Objekt handelt es sich um eine kubisch geprägte, männliche Bronzefigur, die den Kopf um 180° dreht und in zwei Stahlträger eingespannt worden ist.

Bild: D. Lohse


Auf diese Weise will sie uns an die Wende von 1989 erinnern. Diese Plastik konnte aus dem Nachlass des Künstlers, der 2015 verstorben ist, erworben werden. Er konnte also nicht ahnen, dass seine Plastik einmal in Radebeul stehen würde. Die Idee, diese künstlerische Arbeit nach Radebeul zu holen, stammt von Robert Bialek, der hier ein Baugeschäft unterhält und in Kontakt zur Witwe des Künstlers, Frau Magdalena Dietrich, stand.

Bild: D. Lohse


Zur Realisierung der Idee formierte sich eine Dreiergruppe – das Kulturamt der Stadtverwaltung Radebeul, die Landesbühnen Sachsen und der Verein Denkmalpflege und neues Bauen. Seit dem 3. Oktober 2020 steht diese kleine Figur auf dem Fußweg der Meißner Straße vor den Landesbühnen und bereichert so den öffentlichen Raum in künstlerischer Weise.

Bild: D. Lohse


Dietrich Lohse

Mit Schweiß gedüngt

„Der Wein ist mit meinem Schweiß gedüngt“, sagte mein Vater, als ich ihm bei einem seiner ersten Besuche in meiner neuen Heimat Radebeul einen Schoppen aus der Lößnitz kredenzte. Der Bäckermeisterssohn aus Dresden-Strehlen, der es im Krieg bis zum Hauptmann in der 24. Panzerdivision brachte, hatte sich nach Kriegsende aus Furcht, für längere Zeit in Sibirien zu landen, in die amerikanische Zone abgesetzt, wo er neue Wurzeln schlug. Weil seine Eltern in Dresden blieben sowie eine weitreichende Verwandtschaft in und um Dresden herum, fuhr er, so oft es ging, in die DDR und sorgte dafür, dass seine Kinder, wiewohl bayerisch geboren und assimiliert, den Kontakt zur Ur-Heimat nicht verloren. Als Journalist, für den unmittelbar nach der Wende die Geschichten buchstäblich „auf der Straße“ lagen, war ich im April 1990 nach Dresden gekommen und bin geblieben. Von einer Generation zur nächsten wurde der Spieß umgedreht: Meine drei in Bayern geborenen Kinder, 1990 zwischen drei und sechs Jahre alt, sind heute sächsisch assimiliert.

Baustelle unter dem Spitzhaus
Bild: Archiv Zscheischler


Mittlerweile ist mein Vater gestorben und mir blieb eine Kiste voller Erinnerungen, nach dem Ausräumen des elterlichen Hauses nach Radebeul gebracht und auf dem Boden deponiert. Beim Umräumen fiel mir einiges in die Hände: Fotoalben, Tagebücher, Notizen, aufgeschriebene Erinnerungen. Und, ja es stimmt, unser Radebeuler Wein ist mit meines Vaters Schweiß gedüngt.

Vorausschicken muss ich, dass mein Vater dem seltenen Jahrgang 1915 angehörte. Selten? Nun, die 15er waren 1935 20 Jahre alt. Was war damals? Hitler rüstete für den Krieg. Dieser Jahrgang, einmal in eine Uniform gesteckt, sollte sie zehn Jahre nicht mehr ablegen dürfen: Reichsarbeitsdienst, Wehrdienst, Krieg. Angesichts von Millionen von Kriegstoten ist schon rein statistisch kaum zu erwarten, dass allzu viele des 1915er Jahrgangs diese zehn Jahre unbeschadet überstanden.

Die Geschichte, die ich erzählen möchte, beginnt im März 1936, im 260 Hektar Rittergut in Kleinförstchen bei Bautzen. Der 21-Jährige, frisch gebackene Landwirtschaftsgeselle Johannes Oskar ließ, inmitten des Misthaufens stehend, drei Ochsen um sich herum laufen, damit sie den Mist festtraten, getreu dem Motto: „Feucht und fest, das ist das Allerbest“. Hier erreichte ihn der Postbote mit dem Einberufungsbefehl. Am 1. April war Dienstantritt im Reichsarbeitsdienst-Lager, Abteilung 9 der Gruppe 150, genannt „Immelmann“. In Radebeul.

Der Oberbürgermeister von Radebeul verabschiedet sich
Bild: Archiv Zscheischler


Das schmeckte meinem Alten ganz und gar nicht. Ein wenig weiter weg von der Heimat hätte es schon sein können. Damit man etwas sieht von der Welt. Aber so konnte er das Lager in einer ehemaligen Schuhfabrik unmittelbar an der Eisenbahnstrecke in Radebeul-West gelegen, mit der Straßenbahn von der elterlichen Wohnung in Dresden-Strehlen erreichen. Mein Vater wurde dem Trupp 6 unter Truppführer Wintrich zugeteilt. Dazu gehörten junge Männer aus ganz Deutschland. Ein Schwabe aus Baden-Württemberg war darunter sowie ein waschechter Wiener, der bald auf den Spitznamen „Negus“ hörte. Namentlich erwähnt mein Vater die Kameraden Herbert Petzold und Heinz Reps, beide ebenfalls Dresdner und Abiturienten wie er.

Die Abteilung hatte die Aufgabe, die seit etwa 50 Jahren brach gelegenen ehemaligen Lößnitz-Weinberge unterhalb des Bismarckturms und des Spitzhauses einen Meter tief zu „rigolen“. Mit Spitzhacke und Schaufel wurde der Boden umgegraben. Während sich die jungen Männer in der Frühstückspause an den Vesperbroten labten, ließen sie die Blicke übers Elbtal schweifen. Ende Mai konnten sie ihr Frühstück mit frischen Erdbeeren verfeinern, die halb wild auf den aufgelassenen Rebhängen wuchsen. Da waren ihre Tage in Radebeul allerdings bereits gezählt. Denn am 19. Juni 1936 wurde die Fahne eingeholt und das Immelmann-Lager aufgelöst.

So kurz der Aufenthalt in Radebeul gewesen war, so schwer fiel der Abschied. Deshalb konnte er nur mit ausgiebigem Feiern versüßt werden. Ein Elbdampfer wurde gechartet und ab gings bei einem rauschenden Bordfest bis nach Pillnitz und zurück.

Das Immelmann-Lager in Radebeul
Bild: Archiv Zscheischler


„Beim Anblick der letzten Flusspiraten von der Elbe“, berichtet mein Vater, „bemächtigte sich der zivilen Passagiere ein panikartiger Schrecken. Ohne einen Schuß Pulver zu vergeuden, erstürmten die wilden Gesellen des blutigen Jakobs das unglückliche Schiff, fielen über die wehrlosen Fahrgäste her und hissten ihre zerlumpte Piratenflagge. Anschließend wurden wilde Schwert- und Kokosnusstänze aufgeführt.“

Es waren eben noch halbe Kinder.

Der Abschied war sogar dem Radebeuler Amtsblatt einen längeren Bericht wert. „Unter Vorantritt der Gruppenkapelle zogen die Arbeitsmänner zum letzten Male, den blitzenden Spaten geschultert, voran die Fahnengruppe mit den Traditionsfahnen, durch unsere Straßen. Vor dem Rathause in der Adolf-Hitler-Straße brachte man dem Oberhaupt der Stadt, Oberbürgermeister Parteigenosse Severit, einen musikalischen Abschiedsgruß.“ Den Dank der Scheidenden überbrachte der bereits erwähnte Heinz Reps mit folgender Ode:

Wir müssen nun vom schönen Radebeul uns trennen
und wollen heute offenen Herzens Euch bekennen:
Es waren schöne Zeiten, die wir hier verbrachten;
zur zweiten Heimat ist uns Radebeul geworden,
wenn wir marschierten, dann hat Euer Aug‘ gelacht
und Euer Frohsinn galt uns aller Orten.
Als Dank nehmt nun die Früchte unsrer Arbeit.
Was wir erreichten, ist nicht unsre Tat allein,
für jedes Werk muss auch ein Meister sein:
der Gau und uns’re Gruppe war’n es eben,
die helfend stets zur Seit‘ uns standen.
Die Zahl 9/150 wird zwar nicht mehr leben
so fern von unsern schönen Lößnitzlanden,
doch „Immelmann“ wird auch im Osten siegen.
Wir ziehen freudig nach dem deutschen Osten
und werden dort auf vorgeschob’nem Posten
fortführen einen großen Krieg,
den mutig einst der Alte Fritz begonnen;
wir fechten um den letzten Sieg
und halten das, bis wir die Schlacht gewonnen,
als Pioniere unsres jungen Volks!

Marschierend und singend („Wir fahren nach Ostland“, „Muss I denn“) ging es zum Bahnhof. Mit einem Sonderzug, der noch eine weitere RAD-Abteilung aus Zittau-Hirschfeld transportierte, wurde der 350 Mann starke Trupp über Berlin nach Swinemünde gebracht und auf den 2.400 Tonnen-Dampfer „Kaiser“ verfrachtet. Mit 15 Knoten ging es über einen Zwischenstopp im Danziger Vorhafen Zoppot nach Pillau, wo die jungen Männer von Generalarbeitsführer Eisebeck empfangen wurden. Als junge Deutsche seien sie an den östlichsten Vorposten des Reiches gekommen, schwor dieser sie ein, um den Bauern neue Gebiete zu erschließen. Als RAD-Abteilung 8/13 machten die ehemaligen Radebeuler nun in Mehlauken (Liebenfelde) im Kreis Labiau ihren Dienst im Großen Moosbruch. 1.800 Arbeitsdienstler waren hier im Einsatz. In einem 1935 aufgelegten und auf 15 Jahre angelegten Programm sollte ein 17.000 Hektar umfassendes Kulturland für 1.000 Bauernfamilien gewonnen werden, mit Entwässerungsgräben, Sielen, Deichbauten, Poldern und Pumpwerken.

Mittlerweile war Sommer, die Sonne brannte unbarmherzig und schattenlos und die Mücken hatten ihre helle Freude am soeben eingetroffenen „Frischfleisch“. Bereits nach wenigen Tagen sehnten sich die jungen Leute zurück an die grünen Lößnitzhänge im gemütlichen Sachsenlande. Wie gern hätten sie dort den Wein der nachfolgenden Generationen noch eine Weile mit ihrem Schweiß gedüngt.

Burkhard Zscheischler

Vergangenes sichtbar machen

Förderpreis Heimatforschung für Karl Uwe Baum

Bereits im November vergangenen Jahres erhielt das Redaktionsmitglied von Vorschau und Rückblick Karl Uwe Baum den vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus und vom Landesverein Sächsischer Heimatschutz e. V. vergebenen Förderpreis des „Sächsischen Landespreises für Heimatforschung 2020“ zugesprochen. Mit Karl Uwe Baum sprach Karin (Gerhardt) Baum.

Zunächst möchte ich dir im Namen der Redaktion für die Auszeichnung herzlich gratulieren. Nun sind seit der Ehrung schon einige Monate vergangen. Hat sich die Freude bereits gelegt?

Die Auszeichnung hat mich natürlich schon überrascht, auch wenn man mit der Teilnahme an so einem Wettbewerb dies erhofft. Mein eigentliches Ziel aber war, das Thema „Geschichte des nichtprofessionellen Theaters“ besser in die Öffentlichkeit zu bringen. Das ist gelungen und insofern hält die Freude auch heute noch an.

Kannst Du uns das genauer erklären?

Gern. Ausgezeichnet wurde ja die von mir seit 2017 betriebene Homepage www.amateurtheater-historie.de. Bis Oktober vergangenen Jahres haben im Schnitt rund 1.800 Nutzer monatlich auf die Seite zugegriffen. Nun ist ja die Geschichte des nichtprofessionellen Theaters kein besonders populäres Gebiet. Man kann es eher als ein „Orchideenfach“ bezeichnen. Regelrecht unzufrieden war ich also nicht. Aber es lag mir schon daran, mein Anliegen stärker bekannt zu machen. Nach der Veröffentlichung der Auszeichnung stiegen die Zugriffe auf die Seite mit weit über 11.000 auf das Sechseinhalbfache im Monat. Darüber hinaus haben sich auch Bürger gemeldet, die mir Informationen und Material angeboten haben.

Szene aus Des Teufels goldene Haare von Gernot Schulze, gespielt vom Arbeitertheater der Bauarbei-ter Dresden mit Karin Bräuer als Hexe Igittigitt und Uwe Baum als Räuber Bums 1980
Bild: Archiv Baum


Dein Anliegen ist es also, Material zur Geschichte des Amateurtheaters zusammenzutragen. Warum und was steckt dahinter?

Das Verrückte ist, dass dieses Theater in der Freizeit zu allen Zeiten in großer Zahl, besonders auch in Sachsen, gepflegt wurde und wird, aber in der Geschichtsschreibung der letzten 30 Jahre wie auch in Archiven und Museen nur in geringem Maße anzutreffen ist. Das hängt auch mit der Besonderheit des Metiers zusammen. Ein Theater, und sei es nur ein Amateurtheater, zu betreiben, ist teilweise kostenintensiv sowie ungeheuer zeitaufwendig und verlangt auf vielen unterschiedlichen Gebieten Kenntnisse. Für die Dokumentation bleibt dann oft keine Zeit und Kraft mehr. Auch haben Kriege, Katastrophen sowie gesellschaftliche Umbrüche den Archivbeständen stark zugesetzt.

Wer sich aber mit diesem Gebiet einmal näher beschäftigt hat, wird feststellen, dass dieses nichtprofessionelle Theater über Jahrhunderte hinweg eine große kulturelle Leistung in der Gesellschaft vollbracht und so wesentlich zu deren Funktionieren und Herausbilden beigetragen hat. Sachsen kann man als ein „Mutterland des nichtprofessionellen Theaters“ bezeichnen.

Mit meiner Homepage aber auch mit meiner Sammlung will ich ein wenig dazu beitragen, dass das Wissen und die Kenntnisse um diese Freizeitbeschäftigung nicht verloren gehen.

Auf deine Antwort fallen mir jetzt sehr viele Fragen ein… Du hast Sachsen als das „Mutterland des Amateurtheaters“ bezeichnet, wie muss man das verstehen?

Die Geschichte des nichtprofessionellen Theaters ist ja noch nicht erforscht. Da tut sich die Wissenschaft schwer. Sicher auch aus den von mir genannten Gründen. In Sachsen sind wir erfreulicherweise in der Lage, diese Geschichte bis ins 14. Jahrhundert konkret zurückverfolgen zu können. So weiß man, dass 1322 in Eisenach – damals noch zu Sachsen gehörig – das geistige Schauspiel von den klugen und unklugen Jungfrauen durch Mönche und Schüler zur Aufführung gelangte. Mindestens seitdem ist das Theaterspielen durch Menschen aus dem Volk in Sachsen nicht mehr wegzudenken. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich dieses Bedürfnis dermaßen, dass die nichtprofessionelle Theaterszene zu den stärksten im Deutschen Reich und der Weimarer Republik zählte. Auch in der DDR führten die drei sächsischen Bezirke das Feld der Amateurtheater nicht nur zahlenmäßig an.

Du hast dich offensichtlich gründlich mit diesem Gebiet beschäftigt. Wie bist du dazugekommen?

Der DNN-Beitrag ist darauf schon ausführlich eingegangen, deshalb nur eine kurze Antwort. Ich habe natürlich vor langer Zeit selbst in einem Amateurtheater gespielt und von 1990 bis 2013 den sächsischen Verband für Amateurtheater geleitet. Von daher war ich schon länger auch an deren Geschichte interessiert. So konnte ich u.a. im Neuberinmuseum in Reichenbach (Vogtl.) Anfang der 1990er Jahre ein Archiv für Amateurtheater initiieren. Der eigentliche Auslöser aber folgte reichlich 10 Jahre später. Im Landesverband war die Überzeugung gereift, selbst eine Publikation zur Geschichte des sächsischen Amateurtheaters herausgeben zu müssen. An diesem Unternehmen, an dem ich maßgeblich beteiligt war, haben wir fünf Jahre gearbeitet. Herausgekommen ist dann die Publikation Auf der Scene 2013, die heute in vielen Hochschulbibliotheken gelistet ist. Mit dieser Arbeit ist mir die Situation auf diesem Gebiet so richtig bewusst geworden und so habe ich begonnen, das über die Jahre bei mir angesammelte Material aufzuarbeiten.

Und wie bist du auf die Idee mit der Website gekommen?

Hanna Rosemann und Volkmar Weitze, die Darsteller von Christine und Egon aus der Inszenierung Egon und das achte Weltwunder durch das Jugendtheater Radebeul 1967 bei einem Gastspiel an der Jugendhochschule Bogensee
Bild: Archiv Baum


Ehrlich gesagt, das weiß ich gar nicht mehr so genau. Durch meine ehrenamtliche Arbeit im Landesverband war mir der Umgang mit derartigen Seiten natürlich vertraut. Also nicht von der technischen Seite her, mehr von der Sinnhaftigkeit und vom Inhalt. Das Technische besorgte ein mit allen atlantischen Wassern gewaschener IT-Spezialist. Der Dresdner Mike Bormann hatte in den USA studiert und betreute u. a. auch die Homepage des Verbandes. Daraus hatte sich eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Ihm habe ich die Website letztlich zu verdanken. Ohne Mike also kein Preis!

Du hast sicher eine große Menge an Material zu Hause. Wie muss man sich das vorstellen?

Nach dem ich 2013 meine Funktion im Verband niedergelegt hatte, habe ich mit der Sichtung und Systematisierung des Materials begonnen. Daraus hat sich dann langsam ein Archiv geformt, welches heute weit über 10.000 Artefakten enthält. Im Wesentlichen ist das sogenannte „Flachware“, bestehend aus Dokumenten, Programmheften, Plakaten, Abbildungen, Fotos, Beiträgen aus Printmedien aber auch Filmen. Dazu kommt noch die Bibliothek, die gegenwärtig über 800 Bände und Zeitschriften umfasst.
Das Material befindet sich größtenteils in meinem Arbeitszimmer. Der Rest musste leider an anderen Stellen gelagert werden. Zum Glück konnte ich Ende des vergangenen Jahres knapp 20 Ordner dem Deutschen Archiv der Theaterpädagogik an der Universität Osnabrück übergeben.

Osnabrück, liegt das nicht im Bundesland Niedersachen?

Ja, leider. Der theaterwissenschaftliche Bereich an der Universität Leipzig schien offensichtlich nicht interessiert. Seit 2017 stand ich mit dem dort neugegründeten CCT (Centre of Competence for Theatre) in Verbindung. Zu einer konkreten Vereinbarung ist es leider nicht gekommen, so dass ich mich Ende 2019 entschlossen habe, nach neuen Partnern zu suchen. Mit dem in Lingen ansässigen Archiv kam es dann sehr schnell zur Übergabe einer ersten Charge. Ehrlich gesagt bin ich froh, einen interessierten Partner gefunden zu haben, wo durch die Anbindung an den Studiengang Theaterpädagogik auch die Chance besteht, dass mit meinem Material wissenschaftlich gearbeitet wird. Genau darin sehe ich den Sinn meines Tuns.

Sammelst du das Material nur oder arbeitest du auch damit?

In der Hauptasche trage ich Materialien und Informationen zusammen. In der wissenschaftlichen Arbeit liegt sicher nicht meine Bestimmung. Der Mangel an wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet begründet sich gerade in einem Mangel an Quellenmaterial und der Unkenntnis über deren Lagerungsorte. Deshalb sehe ich neben dem Zusammentragen dieser Materialien meine Aufgabe auch in deren Aufbereitung. So habe ich beispielsweise eine Erfassung aller mir bekannten Inszenierungen des nichtprofessionellen Theaters von 1821 bis 1990 mit Quellenangaben erstellt. Auf meiner Website befinden sich sogenannte Zeittafeln, die Ereignisse rund um das nichtprofessionelle Theater von 1300 bis 1990 dokumentieren. Die Zeittafel 1944 bis 1990 enthält beispielsweise auch über 60 Eintragungen zu Radebeul. Hier kann der Nutzer ebenfalls auf die Quelle zurückgreifen. Für die Forschung ist das eine „wahre Fundgrube zur Geschichte des sächsischen Amateurtheaters“, wie die Jury des Sächsischen Heimatpreises einschätzte.

Einige kleine Aufsätze habe ich schon verfasst. Aktuell arbeite ich mit meinem Leipziger Freund Roland Friedel unsere Erinnerungen an die gemeinsame Zeit im Landesverband Amateurtheater Sachsen auf. Auch habe ich hin und wieder Studenten bei der Erstellung ihrer Abschlussarbeiten beraten.

Wir haben uns deine Website angesehen. Da sind ja tatsächlich eine Unmenge von interessanten Daten zu finden. Woher kommen die alle?

Der größte Teil stammt aus meinem Archiv. Natürlich führe ich auch ständig weitere Recherchen durch. Erst neulich bin ich auf zwei Theatergruppen in Cunewalde (Lausitzer Bergland) gestoßen, die nur etwa 20 Jahre existierten. Darüber hinaus halte ich auch Kontakte zu Kollegen und bin Sprecher des Bundesarbeitskreises „Geschichte, Kultur und Bildung“ im Dachverband „Bund Deutscher Amateurtheater“. Außerdem schreibe ich ja auch hin und wieder für Vorschau und Rückblick.

Die Redaktion dankt für das Interview und wünscht dir weiter viel Kraft für diese interessante Tätigkeit.

Erinnern ist Wissen, Denken und Fühlen

Ein Gespräch mit Ingrid Lewek zum 27. Januar

Erinnern kann vieles sein: der Versuch, angenehme Gefühle zurückzuholen, eine Person zu würdigen, Vergessenes aufleben zu lassen. Nicht immer ist es leicht. Am 27. Januar gedenkt Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus. Ganz groß im Bundestag, kleiner in Radebeul.

Ingrid Lewek und Wolfgang Tarnowski an den Ehrensteinen vor dem Radebeuler Rathaus. Beide erhielten 2017 den Preis des Couragevereins Radebeul
Bild: privat


Frau Lewek, das, woran wir jährlich am 27. Januar oder auch am 9. November erinnern, ist nun schon über 70 Jahre her. Die moderne Gesellschaft ist nicht dafür bekannt, sich lange mit der Vergangenheit zu befassen. Offiziell gibt es Gedenkfeiern im großen Rahmen. Warum ist es Ihnen dennoch wichtig, der Opfer des Nationalsozialismus hier in Radebeul zu gedenken?

Ingrid Lewek | Die großen Feierlichkeiten sind wichtig, aber sie gehen ins Weite. Wenn man aber der Menschen an dem Ort gedenkt, wo das schreiende Unrecht geschah, entsteht ein eigener Bezug.

Fünf Stolpersteine an der Moritzburger Straße 1 in Radebeul leuchten mehr oder weniger gegen das Vergessen an. Jedes Jahr am 9. November kommen hier Menschen zusammen, um an zwei Familien zu erinnern, die von den Nazis verschleppt und umgebracht wurden. Sie kannten das Mädchen Irmgard Zeitler, das diese Familien besucht hat.

Ingrid Lewek | Irmgard wohnte im Hinterhaus, und ihre Familie hat ihr erlaubt, sich um das jüdische Mädchen Marion zu kümmern – bereits das ein Wagnis. Ich erzähle immer wieder gern davon und freue mich, wenn jedes Jahr ein paar mehr Menschen zum Gedenken kommen und zuhören. Sich in der Nazizeit um jüdische Menschen zu kümmern, war gefährlich. Deren Isolation war damals das Normale. Kontakte zwischen jüdischen und nicht jüdischen Menschen waren sehr gewagt, für beide Seiten. Das Mädchen, das das dennoch tat, wurde selbst diskreditiert, auch von ganz normalen Leuten. Ihrer Familie sagte man nach, sie sei „tüchtig rot“. Allein das war eine Gefährdung. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Nachdem Marion Freund als jüdisches Kind nicht mehr zur Schule gehen durfte und auf dem Hof andere Kinder nicht mit ihr spielten, ging Irmgard zu ihr, brachte ihr Hausaufgaben, spielte mit ihr und sie machten gemeinsam Handarbeiten mit ihrer Großmutter. Wenn die „Kontrollen“ kamen, wurde sie schnell im Wandschrank versteckt, damit nicht auch sie in den Fokus der Gestapo geriet. So sorgten sich die Verfolgten um andere!

Immer wieder haben Sie jungen Menschen von ihnen und ihrem Schicksal erzählt. Leugner gibt es immer noch.

Ingrid Lewek | Den ewigen Leugnern kann man nichts erzählen. Die hören gar nicht hin. Sie haben ihre Anschauung und bleiben dabei. Wichtiger finde ich, dass inzwischen viele Jüngere sich fragen, wie ihre Eltern und Großeltern damals gelebt haben. Ob sie auch nichts sahen, vielleicht weil sie weggeschaut haben? Oft bekommen sie keine Antworten. Es ist ja kein angenehmes Thema, das eigene Unvermögen einzugestehen. Die meisten bleiben dabei, sie hätten nichts gewusst. Ich weiß aber, dass es auch in Radebeul Nachbarn gab, die sich beklagt haben, sie wollten nicht mit Juden unter einem Dach leben. Und wenn die Menschen deportiert wurden, gab es oft genug Plünderungen ihrer Wohnungen. Die Nachbarn warteten hinter ihren Wohnungstüren, und sobald die Gestapo mit den festgenommenen Menschen das Haus verlassen hatten, fielen sie über die Habe der Deportierten her. Es gab Prügelszenen um die Dinge. Das Wort „Schnäppchenjagd“ fiel in diesem Zusammenhang. Ich kann es nicht mehr hören! Sehr viele haben sich so verhalten. Aber in der Moritzburger Straße 1 soll das nicht so gewesen sein.

Sie haben das hilfreiche Mädchen, Irmgard Zeitler, später noch am Telefon gesprochen?

Ingrid Lewek | Ja, als schon ältere Frau. Als ich an unserem Buch schrieb, bekam ich ihre Telefonnummer und konnte viel mit ihr über Marion und ihre Familie sprechen. Irmgard lebte in Thüringen. Sie war gerührt und dankbar dafür, dass es hier ein Erinnern gibt. Marion war ihre einzige Freundin geblieben. Inzwischen lebt auch Irmgard nicht mehr.

Frau Lewek, ist Ihnen jemals erklärlich geworden, warum jüdische Menschen immer wieder gehasst, oft auch einfach abgelehnt werden?

Ingrid Lewek | Ich denke, ein Motiv war von jeher der Neid auf Bildung und Besitz. Bei den Juden konnten die Kinder schon ab vier Jahren lesen und schreiben lernen. Übrigens: seit dem Mittelalter war das so. Und deren wirtschaftliche Erfolge waren auch vielen ein Dorn im Auge. „Jüdischer Besitz in arische Hände“ war tatsächlich ein Slogan in Deutschland!

Die Wegnahme und Verwertung des Eigentums jüdischer Menschen hatte System. Bevor die Menschen weggebracht wurden, mussten sie ihre Habe in Pakete packen und genau beschriften. Deshalb die „Kontrollen“. Wertvolle Gegenstände wie Kunstobjekte, Porzellan oder Besteck waren schon vorher konfisziert worden. Was dann nicht von den Nachbarn geplündert wurde, gelang oft auf den „Hamburger Markt“, wo es für günstige Preise die Besitzer wechselte. Es stand nicht direkt dabei, aber jeder wusste, wo die Dinge herstammten. Soviel zur landläufigen Aussage: Wir haben nichts gewusst.

In unserer Gegend ist zu beobachten, dass es deutliche Ablehnung von politischem Engagement, gar in Parteien, gibt. Können Sie diese Haltung verstehen?

Ingrid Lewek | Mein Verstehen ist, dass ich auch ein politischer Mensch bin. Das heißt, in die Verantwortung für die Stadt und die Gesellschaft eingebunden zu sein. Das ist ein allgemeiner Auftrag für alle, sofern sie das können. Auf der Suche nach Menschen, die sich mit ums Wissen und Denken kümmern, habe ich immer Leute gefunden. Natürlich ist überall etwas, was einen ärgert. Doch nach der Wende war mir schnell klar: wenn eine Partei, dann nur die SPD. So bin ich seit 1993 Mitglied des Radebeuler Ortsvereins der SPD. Eins muss man wissen: Harmlos und gutgläubig darf man nicht in die Politik gehen. Da muss ich an die Gründungszeit der SPD 1990 in Sachsen denken und heute noch schmunzeln. Einer sagte damals: Wir müssen erst einmal lernen, dass man bezahlen muss, was man vorhat. Das habe ich schon als Kind und als Hausfrau gelernt! Im Ernst: Der kritische Austausch und der Abgleich der Interessen sind wichtig. Dafür braucht es einen politischen Ort. Irgendwann gewöhnt man sich daran, dass es Grenzen des Machbaren und Möglichen gibt.

Was können wir heute tun?

Ingrid Lewek |Wir können dafür sorgen, dass das geschieht, was die Nazis immer verhindern wollten und Leugner heute noch nicht wollen: Dass verfolgte und getötete Menschen ihren Namen und ihr Gesicht behalten können. Und dass es nicht wieder passiert, was damals geschah, dass zu wenig entgegnet wird. Hinschauen ist auch heute Pflicht, Zurückziehen hilft nicht. Ich halte es da sehr mit Imre Kertesz*, der gesagt hat: Der Mensch ist geschaffen, um zu wissen und zu denken. Wir können uns weder das eine oder das andere ersparen. Wir sind verpflichtet, uns wissend machen. Das hat mich gerade in dieser Weihnachtszeit sehr beschäftigt. Dieses Stück Arbeit müssen wir, jeder der es kann, leisten! Und ist es nicht auch etwas sehr Schönes, nachzudenken, Zusammenhänge zu erkennen und mit anderen darüber zu reden?

Für das Gespräch mit Ingrid Lewek bedankt sich Christine Ruby

*ungarischer Schriftsteller, Nobelpreisträger, 1929 – 2016
Die Gedenkstunde des Bundestages am 27. Januar beginnt um 11 Uhr und wird live im Internet unter www.bundestag.de übertragen.
Der Couragepreisverein veröffentlicht auf seiner Homepage www.couragepreis.de eine Videobotschaft zum Thema
Für ein stilles Gedenken treffen sich Radebeuler*innen am 27. Januar 2021 am Erinnerungsstein auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ab 17 Uhr.
Dort können Blumen niedergelegt werden.

Nachruf

Dr. phil. habil. Manfred Altner (+ 27.11.2020 in Radebeul)

Nachdem ich diesen Text ursprünglich als Glückwunsch zum 90. Geburtstage verfasst hatte, erfuhr ich aus der Sächsischen Zeitung, dass Herr Dr. Manfred Altner einen Monat vor seinem Geburtstag in Radebeul verstorben ist. Mit diesem Text möchte ich an ihn erinnern:

Kennengelernt habe ich Herrn Dr. Altner erst, als er im Ruhestand seine Forschungen zu Radebeuler Persönlichkeiten intensivierte. Sein besonderes Augenmerk war dabei auf die „richtigen“ biographische Angaben von Schriftstellern, Schauspielern… gerichtet, die hier in der Lößnitz kurz oder lang gewirkt haben. Oft fanden sich nämlich Fehler in vielen Lexika u.a. wiss. Publikationen. Neben deren Werken war auch die genaue Adresse auf der Wunschliste des „Heimatforschers“, wie wir es im Archiv gern bezeichnen. So kam es, dass er meinem Aufruf im Amtsblatt und in Vorschau & Rückblick an der 1. Auflage des Stadtlexikons Radebeuls mitzuwirken mit großem Engagement folgte, wofür wir ihm zu großem Dank verpflichtet sind.

Am 26. Dezember 1930 in Leipzig geboren, folgte nach der Schulzeit und nach dem 2. Weltkrieg Germanistikstudium und Promotion an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Anschließend unterrichtete er als Lehrer die angehenden Pädagogen an der PH Dresden von 1959 bis 1972, wirkte anschließend als Dozent für Ästhetik an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden (1972-1992). Seit 1977 lebte er mit seiner Familie in Radebeul. Seine Forschungsschwerpunkte waren: Exilliteratur, Kinder- und Jugendliteratur und Kulturgeschichte.

Zahlreiche Werke entstanden u.a. Aufsätze über Robert Grötzsch, August Kaden, August Lazar; Herausg. (Jacobs wunderbare Reise von Martin Andersen Nexö, Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik (1991), Geschichte der Dresdner Kunstakademie, 1990 (Ltg.); Biographie der österreichischen Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen (1997). Im Ruhestand forschte er zur literarischen Kulturgeschichte der Lößnitz (Werke: „Das Lächeln der Lößnitz“, „Dresden – Stadtführer durch Vergangenheit und Gegenwart“; Sächsische Lebensbilder; Hrsg. „Die Schwestern von Hohenhaus v. Hansgerhard Weiß“, Forschungen zu Carl und Gerhart Hauptmann.

Am 18.11.2005 erhielt er deshalb den Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur „Volkacher Taler“ für sein Lebenswerk.

2018 übergab er dem Stadtarchiv Radebeul einen großen Teil seiner Forschungen (Unterlagen über Carl und Gerhart Hauptmann u.a.). Auch unsere Archivbibliothek bereicherte er mit Ausgaben von Wilhelmine Heimburg und seiner eigenen Werke.

Nun ist er kurz vor seinem 90. Geburtstage verstorben. Wir möchten seiner Witwe und seinen Söhnen und deren Familien unser Beileid aussprechen. Gern schauen wir in dankbarer Erinnerung an die Zusammenarbeit mit ihm zurück. Seinen Humor und seinen Witz werden wir vermissen!

Annette Karnatz
Stadtarchivarin

Kultur (T)Raum Radebeul (Teil 1)

Vom Leben vor und hinter hohen Mauern

„Wer schreibt, der bleibt.“ Wieder so ein Spruch, bei dem keiner so richtig weiß, wie das gemeint sein könnte. Zumindest macht sich nicht jeder Schreiber (m/w/d) beliebt. Aber wer schreibt schon, um sich beliebt zu machen?

»LABratorium« / Lügenmuseum – Alphörner zum Auftakt der intermedialen Performance- und Mitmachaktionen auf den Elbwiesen in Altkötzschenbroda, August 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Als gebürtige Radebeulerin gehöre ich einer beständig schrumpfenden Minderheit an, seitdem es in der Großen Kreisstadt keine Geburtenklinik mehr gibt. Ist das etwa die späte Rache der Dresdner, weil ihre Eingemeindungsabsichten bis jetzt gescheitert sind? Ganz schön schlau eingefädelt, könnte man meinen.

Wenn ich ehrlich bin, stimmt das ja auch nicht so ganz mit der Formulierung „gebürtige Radebeulerin“. Eigentlich müsste ich einen Dreifachpass besitzen mit dem Eintrag „geboren in sowohl als auch: Radebeul-Kötzschenbroda-Niederlößnitz“. Vielleicht erklären sich aus diesem verworrenen Umstand meine beständigen Versuche, herausfinden zu wollen, wie die Lößnitzstadt tickt und wohin sich dieses Konglomerat entwickelt?

Glücklicherweise hatte ich das Privileg über viele Jahre im Radebeuler Kulturamt einer Tätigkeit nachzugehen, die voll und ganz meinen Neigungen und Interessen entsprach. Aus heutiger Sicht wohl eher eine Ausnahme. Damit der Eintritt in den sogenannten „Ruhestand“ ein wenig rebellische Würze bekommt, erteilte mir vor zwei Jahren mein geschätzter Redaktionskollege Dr. Bertram Kazmirowski (seit 1995 Mitglied der Jugendredaktion des Monatsheftes „Vorschau und Rückblick“) den Auftrag, „knapp 30 Jahre nach der politischen Wende immer wieder daran zu erinnern, welch hohes Gut Meinungs- und Pressefreiheit sind und wie unsere Demokratie auch davon lebt, dass unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden.“ (VUR, 03/2019) Derart legitimiert und der Wahrheit verpflichtet, möchte ich in dieser Beitragsserie einige Themen aufgreifen, welche in Radebeul vermutlich nicht nur mich beschäftigen. Es geht um städtische und private Räume, es geht um den Einzelnen und die Gemeinschaft, es geht um Gestalten und Verwalten, es geht um Gelungenes und Gescheitertes …

„Gute-Laune-Stelzen-Zwerge“ – zur Kasperiade in Radebeul-Ost, Juni 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Das alles hat eine Vorgeschichte. Diese fängt mit dem Trauma an, dass ich zwar eine gebürtige Radebeulerin bin, aber keine Alteingesessene mit bodenständiger Ahnengalerie. Meine Mutter und Großmutter gehörten zu den „Ausgebombten“, die im Februar 1945 durchs brennende Dresden bis nach Radebeul gelaufen sind. Mitnehmen konnten sie außer ein paar Dokumenten und Fotografien praktisch nichts. In Radebeul fanden sie fürsorgliche Aufnahme und später ihr Zuhause. Mein Vater wiederum fand in Radebeul meine Mutter und blieb. Aus dem klimatisch raueren Vorerzgebirge stammend, erfreute er sich immer wieder aufs Neue an der üppigen Vegetation zwischen Elbe und Hang. Besonders der Frühling, wenn der Flieder, die Magnolien, Forsythien, Kirsch- und Aprikosenbäume blühten, hatte es meinem Vater, dem Zugezogenen, angetan. Seine „Besitzergreifung“ der neuen Wahl-Heimat erfolgte auf eine sehr ideelle Art. Schließlich muss man nicht alles besitzen, um sich daran erfreuen zu können.

Mit dem gesellschaftlichen Umbruch ging jedoch auch so manche Utopie in die Brüche. Als sich das DDR-Volk für den Unterschied zwischen „Privateigentum“ und „Volkseigentum“ zu interessieren begann, war es bereits zu spät. Viele Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt ein völlig anderes Verständnis von Eigentum hatten, waren diesem Prozess wehr- und hilflos ausgeliefert. Ein Großteil der Ländereien und Immobilien wechselte zu neuen Besitzern aus den „alten“ Bundesländern. Statt Glasperlen gab es diesmal Bananen. Ironisch könnte man meinen: „Selber schuld, Augen auf bei der Partnerwahl“. Nein, die DDR will ich ganz bestimmt nicht wieder haben. Und doch bin ich sehr froh, in diesem untergegangenen Land gelebt zu haben, in diesem Land, wo es nur selten Bananen gab.

„Mitsommernachtsträume“ – Fassadenillumination von Claudia Reh in Altkötzschenbroda, Juli 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Der gesellschaftliche Umbruch war eine Zäsur und wirkt bis heute nach. Was mit der DDR in Beziehung stand, wurde immer mehr zum Observations- oder Sammelobjekt. Und mit dem zeitlichen Abstand wuchs das Interesse am Vergleich zweier sehr verschiedener Gesellschaftssysteme. Das Reflektieren, gespeist durch das eigene unmittelbare Erleben, empfinde ich als eine biografische Bereicherung. Dass sich neuerdings immer mehr junge Menschen für die ehemalige DDR zu interessieren beginnen und fragen, was denn da so anders war, finde ich schon deshalb spannend, weil sich durch deren Unvoreingenommenheit auch für mich Vieles zu relativieren beginnt. Was den Dauerstreit über Rechts- oder Unrechtsstaaten anbelangt, verlor dieser plötzlich an Präsenz. Denn wieder war es ein existenzielles Ereignis, welches das bis dahin Dagewesene übertraf und in ein Leben davor und ein Leben danach unterteilen sollte. Die Corona-Pandemie stellte das Funktionieren der Systeme in allen Ländern auf eine harte Probe und hielt ihnen den Spiegel vor. Globalisierung hatte man sich anders vorgestellt. Mit ausgleichender Gerechtigkeit hat die Pandemie ohnehin nichts zu tun, denn wie so oft, gibt es nur wenige Gewinner aber sehr viele Verlierer. Angesichts der Toten und Schwerstkranken mutet es ohnehin mehr als zynisch an, in einem solchen Zusammenhang von „Gewinnern“ zu sprechen.

Geradezu prädestiniert zum Unwort des Jahres 2020 wäre wohl auch der Begriff „Systemrelevanz“ gewesen. Doch bei wem liegt eigentlich die Deutungshoheit, wenn es darum geht den einzelnen Bereichen einen „systemrelevanten“ Platz auf der Wichtigkeitsskala zuzuweisen? Werden nur die Lauten gehört und die Leisen gehen unter? Museen, Galerien, Kinos, Theater und Konzerthäuser wurden geschlossen und schienen zunächst als steuerverschlingendes Beiwerk am ehesten entbehrlich zu sein. Aber selbst die „Erbsenzähler“ haben inzwischen erkannt, dass es nicht nur ums nackte Überleben geht.

„Atelier auf Abruf“ – Arbeitsbereich von Manuel Frolik in der Alten Molkerei, Juli 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

In Radebeul, der einzigen Stadt im Landkreis, die noch über ein Kulturamt verfügt, hatte man frühzeitig Nägel mit Köpfen gemacht. Kreiert wurde unter dem Slogan „Radebeuler LebensArt“ eine zeitlich und räumlich „entzerrte“ Veranstaltungsreihe, die eine Art zusammenfassenden Überbegriff für weitere kulturelle Angebote bilden soll. Die neuen Projekte erhielten griffige Bezeichnungen wie „Kunst geht in Gärten“, „Traumfabrik“, „KulTour“, „Mitsommernachtsträume“, „Weinboulevard“, „Weinherbst“, „LABratorium“ oder „Lichterpfad. Es wurde spontan improvisiert und in den unterschiedlichsten Konstellationen zusammengearbeitet. Künstler zogen von Ort zu Ort und das Publikum folgte ihnen. Selbst die Kasperiade und der Grafikmarkt wurden 2020 coronagerecht modifiziert und haben auf alternative Weise stattgefunden.

Was die Veranstalter allerdings mit dem Begriff „Radebeuler LebensArt“ meinen, hat sich mir als Radebeulerin noch immer nicht vollständig erschlossen. Haben sie nur ihre kleinen und größeren kulturellen Höhepunkte im Blick oder sind auch wir als Bewohner dieser Stadt gemeint, mit unserer nicht ganz so spektakulären „Radebeuler LebensArt“, die den Alltag vor und hinter den Radebeuler Mauern prägt? Der Erfolg dieser kulturellen Großoffensive war für die Veranstalter jedenfalls Dank und Bestätigung zugleich. Das Engagement aller Beteiligten sowie die unbürokratische Umwidmung bzw. Aufstockung von Fördergeldern haben diesen ganzjährigen Veranstaltungsmarathon möglich gemacht. Eine Fortsetzung in ähnlicher Form ist geplant.

Und doch bleiben einige Fragen offen. Hat sich mit der Organisation von Veranstaltungen bereits die Verantwortung der Stadtgesellschaft für ihre Künstler und Kulturschaffenden erschöpft? Will denn überhaupt jemand ernsthaft wissen, wie es den zumeist freischaffenden Einzelakteuren, die ohnehin noch nie auf Rosen gebettet waren, im Wechselbad der mehr oder weniger strengen Lockdowns ergeht? Dass über fünfzig Bildende Künstler sowie zahlreiche Musiker, Schriftsteller, Tänzer, Schauspieler u. v. m. in Radebeul ansässig sind, ist kein Geheimnis. Unter welchen Bedingungen sie leben und arbeiten, wurde in ihrer Komplexität allerdings noch nie untersucht. Natürlich ist die Kunst- und Kulturszene sehr flexibel, vielseitig und innovativ. Dieses aus finanzieller Sicht recht selbstgenügsame Metier erneuert sich immer wieder von innen heraus, vorausgesetzt es gibt verfüg- und bezahlbare Wohn-, Arbeits-, Proben-, Präsentations- und Veranstaltungsräume. Dass unter städtischer Regie der Radebeuler Grafikmarkt auch in diesem Jahr stattgefunden hat, war wichtig, aber eben nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine nachhaltige und langfristige Strategie zur Unterstützung der Kunst- und Kulturschaffenden vor Ort, ist das Gebot der Stunde. Der 2019 gegründete empathische Radebeuler Kulturverein wird die anstehenden Probleme allein nicht lösen können.

„genius loci“ – nur noch eine Erinnerung, Atelier von Gunter Herrmann (1938-2019) im Grundhof, Oktober 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Hier schließt sich der Kreis. Wie eingangs erwähnt, war die Zerstörung Dresdens und der Totalverlust von nahezu allem, was man einmal besessen hatte, in meiner Familie immer präsent. Was noch funktionierte, wurde nicht weggeschmissen. Vielleicht resultiert aus dieser lebenslang praktizierten Haltung mein Drang, all das zu bewahren, was andere einmal unter Mühen geschaffen haben. Der willkürliche Gebrauch des Wortes „Schandfleck“, als vorgeschobenes Scheinargument, um sanierungsfähige Gebäude abreißen zu können, verursacht bei mir ein großes Unbehagen. Dieses Verhalten ist in meinen Augen destruktiv und unsozial. Zumal es andererseits einen dringenden Bedarf an bezahlbaren Kreativräumen gibt. Die Stadtgesellschaft und die jeweils zuständigen Verantwortungsträger sollten sich der öffentlichen Diskussion nicht länger entziehen. Wenngleich es so scheint, als hätten wir gegenwärtig ganz andere Probleme, hoffe ich mit diesem und den noch folgenden Beiträgen darauf aufmerksam zu machen, dass alles mit allem im Zusammenhang steht. Wenn Kunst und Kultur auch künftig ein ernstzunehmender Bestandteil der „Radebeuler LebensArt“ bleiben sollen, bedarf es eines verlässlichen und stabilen Fundaments. (Fortsetzung folgt)

Karin (Gerhardt) Baum

Editorial 2-21

Mit vorliegendem Heft halten Sie die letzte Ausgabe der traditionsreichen Kulturzeitschrift von „Vorschau & Rückblick“ in den Händen.

Geschätzte Leserinnen und Leser, sicher wird dem einen oder anderen beim Lesen der vorangestellten Zeilen jetzt kurz der Atem gestockt haben – und dies war rhetorisch durchaus beabsichtigt – denn gerade in unserem Metier ist größte Vorsicht geboten. Aber keine Sorge, soweit ist es glücklicherweise bei uns noch nicht.

So oder so ähnlich könnte jedoch die Meldung einer vertrauten Kulturinstitution lauten die unter den vielmonatigen Einschränkungen, insbesondere im kulturellen Bereich zu leiden haben.

Die tief und schmerzlich einschneidenden Maßnahmen begleiten die Gesellschaft nunmehr einen ganzen Jahreskreis und schlossen ausnahmslos alle Festivitäten ein. Die tatsächlichen Folgen und Verwerfungen sind bisher nur zu erahnen.

Steht die Kultur nun ganz still in Radebeul? Nicht ganz!

Im Verborgenen bereiten sich Einrichtungen auf das noch zeitlich unbestimmte Frühlingserwachen mit großem Engagement vor. Besonders anerkennenswert sind daher die umfänglichen Bemühungen auf erzwungenermaßen digitaler Ebene, auf die wir sie auf unserer letzten Seite aufmerksam machen wollen. Dort sind Aktivitäten und Webseiten einschlägiger Kultureinrichtungen aufgeführt, deren Besuch sich unbedingt lohnt.

Die Kultur ist tot, es lebe die Kultur! Irgendwie, irgendwo, irgendwann…

Sascha Graedtke

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