Zum 70. Geburtstag von Ingrid Zeidler

„Sybillen zwischen heidnischer Weissagung und christlicher Prophetie“ – So hieß vor 20 Jahren eine Ausstellung im Weinbaumuseum Hoflößnitz. Die Kuratorin dieser Ausstellung war Ingrid Zeidler, Museumsleiterin von 1981 bis 2009.

Foto: L. Weidler, Rechte Stiftung Hoflößnitz


Die selbstbewusste Visionärin feierte im November 2019 ihren 70. Geburtstag.

Radebeul ist ihr Geburtsort und war lange Zeit ihr privater und beruflicher Lebensraum.

In Diesbar-Seußlitz führte sie gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Ronald nach 2009 ein kleines Café. Ein Rückzugsort war das für sie nicht gewesen. Bis heute kümmert sie sich mit Freunden und Seußlitzern ehrenamtlich um das Schloss und die Parkanlage.

Ich lernte Ingrid 1972 an der Schule Oberlößnitz in Radebeul kennen. Dort war sie Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Kurz danach wechselte sie als Assistentin im Wissenschaftsbereich „Alte Geschichte“ an die Pädagogische Hochschule Dresden. Mit Hochachtung und Begeisterung erzählt sie noch heute von ihrem Mentor Dr. Gerhard Billig, den sie auch zu Ausgrabungen in Wermsdorf begleitete. Er war es, der ihr Mut machte, ihren eigenen Lebensweg zu finden und zu gehen.

Zu ihren Vorbildern zählt auch der Puppenspieler Carl Schröder, den sie in den 80er Jahren kennenlernte. Seine einfache, kreative und herzliche Lebensart wurden zum Bestandteil ihrer Suche nach dem, was sie in ihrem Leben möchte.

1981 löst Ingrid Zeidler die damalige Museumsleiterin der Hoflößnitz Frau Dahms ab und beginnt 1984 ein externes Studium der Museologie in Leipzig.

Zu DDR-Zeiten wurde die Hoflößnitz zum Treffpunkt vieler Künstler. Es war auch eine Zeit, in der sich Familien zu Festen und Spielen in der Anlage treffen. Noch heute schwärmen meine Kinder von der angenehmen Atmosphäre die damals herrschte.

Restaurierungsarbeiten im Schloss, mit gleichzeitiger Ausstellungsarbeit und der Erstellung einer neuen Konzeption zum Weinbau kennzeichnen den damaligen Arbeitsumfang der Museumsleiterin.

Interessante Kontakte zu Gunter Herrmann und seiner Familie, zu Prof. Dr. Magirius, Ralf Kerbach und der Familie Aust sind inspirierend und für ihre Arbeit gewinnbringend.

Bereits vor der Stiftungsgründung 1996 zum Weingutmuseum Hoflößnitz erstellt Ingrid Zeidler eine 1. Konzeption zum ökologischen Weinbau in der Region. Geschäftsführer des neuen Weingutes war Gerhard Roth aus Franken. Klaus Vogel übernahm den Vorsitz der Stiftung und Frau Zeidler bleibt Museumsleiterin.

Die ständige Ausstellung zum historischen Weinbau in Sachsen wird neu überarbeitet. Wichtige Mitarbeiter sind Elisabeth Aust, Mathias Blumhagen und Maik Huth.

Im Jahr 1998 ist das Gesamtkonzept der Hoflößnitz als Stiftung, wirtschaftliches Weingut (GmbH) und Schoppenstube fertig. Sonderausstellungen wie: „350 Jahre Lust und Berghaus“ (2000), „Kutte und Kelter- die Zisterzienser und der Wein“ (2002), „Weinland Burgung“ (2004) und „400 Jahre Terrassenweinbau“ (1999) bereichern die Angebote, ebenso die beliebte Kammermusikreihe.

Eine kontinuierliche museumspädagogische Arbeit für Schulen, Kindergärten und Familien gehören zur Museumsarbeit von Anfang an dazu.

2009 wird dann allen Mitarbeitern der Hoflößnitz, bis auf den Hausmeister und der Museumspädagogin, gekündigt und erhalten teilweise eine Entschädigung. Neuer Chef der Stiftung wird Rechtsanwalt Dr. Kramer, neuer Geschäftsführer Herr Hahn.

In der Laudatio zum 70. Geburtstag von Ingrid Zeidler möchte ich nicht auf die Gründe für diese Kündigungen eingehen. Ich kann aber nicht unerwähnt lassen,wie kränkend und auch gesundheitlich schädigend diese Kündigung nach all den Jahren für sie war.

Rudolf Steiner sagte einmal: „Alles im Leben ist Rhythmus und Veränderung und es ist wichtig, dass wir diesen Veränderungen offen zustimmen.“ Das hat Ingrid Zeidler längst getan.

Inneren Halt und tiefes Glücksempfinden bedeuten für sie ihre Kinder Eiko, Inka und Sebastian.

Ihren Geburtstag hatte sie in Diesbar-Seußlitz mit Freunden und mit ihrer Familie gefeiert.

Dabei sein wird in ihren Gedanken auch Carl Schröder, dessen Herzenswärme ihr Mut und Kraft gaben.

Danke, liebe Ingrid für deine intensive Arbeit zur Entwicklung der Hoflößnitz und für deine Freundschaft.

Petra Maria Neumann

Eröffnung des Pflegeheims in Klausenburg

Förderverein zur Unterstützung der X. Reformierten Kirchgemeinde Klausenburg/ Rumänien e.V.

Festliche Einweihung
Foto: Förderverein zur Unterstützung der X. Reformierten Kirchgemeinde Klausenburg e.V.


Zur festlichen Einweihung des neuen Altenpflegeheimes am 13. Oktober besuchte eine Gruppe aus Radebeul die Partnergemeinde in Klausenburg. Nach der Grundsteinlegung am 21. Mai 2000 und der Errichtung des Kellergeschosses ruhte der Bau bis zum 6. August 2018.

Viele Sach- und Geldspenden, auch aus Radebeul, wurden gesammelt. So konnten wir Pflegebetten, Matratzen, Rollstühle, einen Geschirrspüler, eine Kaffeemaschine, Kopier- und Computertechnik, bis hin zu einer Kehrmaschine nach Klausenburg transportieren.

Nach dem Festgottesdienst, den der Bischof der reformierten Kirche Bela Kato hielt, ging es hinüber zum Altenheim zur Einweihung. Neben der offiziellen Vertreterin aus Ungarn, Frau Brendus Réka und Vertretern der Sozialämter in Klausenburg, übermittelte der Oberbürgermeister Radebeuls, Bert Wendsche, die Grüße und Glückwünsche der Bürger unserer Stadt.

Neues Pflegeheim in Klausenburg
Foto: Förderverein zur Unterstützung der X. Reformierten Kirchgemeinde Klausenburg e.V.


Die Lutherkirchgemeinde grüßte mit Herrnhuter Adventssternen und der „Förderverein Klausenburg e.V.“ konnte einen Scheck von 20.000€ für zwei Pflegebadewannen überreichen.

Wir erlebten an diesem Tag in vielerlei Hinsicht ein großes dankbares Strahlen. Die Sonne strahlte vom klaren Himmel. Der neue Bau strahlte, aber vor allem die Augen und Herzen der vielen alten Menschen strahlten über die neue Wohnstätte.

Dank an alle Spender in Radebeul und weit über die Stadtgrenzen hinaus. Dank allen, die diesen langen Weg mit ihren Gebeten begleitet haben.

Sabine Wendsche

Ein Frauenort in Radebeul

Am Vormittag des 30. September, kurz vor 11 Uhr, war vor unserem Haus in der Gellertstraße 15 eine ungewöhnliche Szene zu beobachten. Gut dreißig Personen hatten sich hier versammelt, die sich angeregt unterhielten und erwartungsvoll der Dinge harrten, die da kommen würden. Alle Anwesenden waren schon oft hier gewesen, als Kinder, Mütter, Mitarbeiterinnen oder Kolleginnen meiner Großmutter. Heute waren sie gekommen, um sie durch ihre Teilnahme an der kleinen Feierstunde zur Enthüllung einer Gedenktafel zu ehren. Viele sprachen mich an, manche, um mit Stolz von einer kurzen Mitfahrt in ihrem legendären Opel P4 zu berichten, alte Fotos oder ihre Impfbestätigung zu zeigen. Andere, vor allem Mütter, sprachen von dem inständigen Bemühen meiner Großmutter um ihre kranken Kinder. Ich war überrascht, dass meine Großmutter auch vierzig Jahre nach ihrem Tod noch so präsent ist und ihr noch immer so viel Hochachtung entgegengebracht wird.

Vater Johannes Hartung, Frl. Dr. med. Christa Hartung, die Mutter Gustava Hartung sowie die Tante Clara, genannt Tala, Schwester der Mutter ( v.l.n.r.)
Foto: H. Pitsch


Dem Landesfrauenrat Sachsen e.V. ist es zu verdanken, dass nun eine Gedenktafel an meine Großmutter als langjährige Kinderärztin in Radebeul erinnert. Der Text der Tafel berichtet neben ihrem persönlichen Werdegang von den vielfältigen Aufgaben und den täglichen Herausforderungen der Arbeit in einer Kinderaztpraxis. Vor der Enthüllung der Gedenktafel würdigten Bürgermeister Winfried Lehmann und Vertreterinnen des Landesfrauenrates das Wirken von Radebeuls erster Kinderärztin, Weggefährten und Mitglieder der Familie fanden persönliche Worte der Erinnerung. Schwester Gisela Bluhm, die wichtigste Mitarbeiterin meiner Großmutter, berichtete vom turbulenten Arbeitsalltag, was bei den Anwesenden Erstaunen hervorrief und auch Bestätigung fand. Früher war eben manches anders als heute, da wurden Wunden vom Kinderarzt genäht und geklammert oder, wenn es schnell gehen musste, auch der Magen ausgepumpt. Frau Dr. Marianne Kazmirowski ergänzte die Erinnerungen aus ihrer Sicht als Kollegin. Als Mitglied der Familie war ich gebeten worden, einige Worte zu sagen. Lange habe ich darüber nachgedacht, worüber ich sprechen soll. Was ist erinnerungswürdig? Da ich meine Großmutter nur als Kind kannte, erinnere ich mich nur aus der Perspektive des Enkelkindes. Erst als Erwachsene ist mir bewusst geworden, welchen besonderen Weg meine Großmutter genommen hat, wie weit sie und auch mein Großvater ihrer Zeit voraus waren. Leider war ich zu jung, um vieles nachzufragen, über ihre Studienzeit während der 20er Jahre oder meinen Großvater, über den sie nie gesprochen hat. Alle Großeltern sollten für die Enkel ihre Lebensgeschichte aufschreiben, sonst geht so viel unwiederbringlich verloren.

Meine Großmutter (li.) mit einer Kommilitonin in den 20er Jahren
Foto: H. Pitsch


In unserem Haus roch es immer leicht nach Desinfektionsmittel, davor standen täglich unzählige Kinderwagen, die Großmutter war während des Tages nicht zu sprechen. Dass zuerst die Patienten kamen und dann die Familie, hatte ich früh verstanden. Das machte mir nicht viel aus, da Großmutter mir einen Großteil ihrer wenigen Freizeit widmete. Gegen Abend, wenn sie am Schreibtisch saß, leistete ich ihr gern Gesellschaft. Dann saßen wir uns gegenüber, ich versah Rezepte mit ihrem Stempel oder betrachtete die medizinischen Instrumente, was zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Später durfte ich sie gelegentlich zur Mütterberatung in Friedewald begleiten und ihr etwas zur Hand gehen. Wenn Großmutter im Sommer sonntagsfrüh nach Dippelsdorf fuhr um schwimmen zu gehen, nahm sie mich oft mit. Wenn wir im Lössnitzgrund der Bimmelbahn begegneten, die sie sehr liebte, war die Freude groß. Wir kurbelten die Fenster herunter um vom Qualm eine Prise zu nehmen. Die schönste Zeit des Jahres waren die drei Wochen im September, die wir in Dierhagen verbrachten. Für die wenigen freien Tage wurde das „Heideglück“ gemietet, ein wundervolles reetgedecktes, aber spartanisch eingerichtetes Häuschen, in dem es kein fließendes Wasser gab, dafür eine Schwengelpumpe im Garten. Großmutter verbrachte die Tage am liebsten lesend im Liegestuhl mitten im Heidekraut. Die Gärtnerei Plänitz schickte auf ihren Wunsch Päckchen mit Tomaten. Sie liebte Pferde, deshalb hatte sie immer ein Stück Würfelzucker in der Jackentasche. Vielleicht mochte sie daher auch Moritzburg so sehr, insbesondere Adams Gasthof, in welchem wir als Familie oft zu Gast waren. In den 70er Jahren brüteten die Schwalben dort im Hausflur und es gab Pferde auf dem Hof. In unserem Garten gab es leider keine Schwalben, aber viele Amseln, die von Großmutter regelmäßig gefüttert wurden.

Gedenktafel an der Grundstücksmauer auf der Gellertstraße 15
Foto: H. Pitsch


Zur Feierstunde sagte ich bereits, dass ich als Enkelkind der Frau Sanitätsrat in gewissem Sinne privilegiert war. Zum einen konnte ich am kulturellen Leben der Großmutter teilhaben. Neben den bereits erwähnten Besuchen von Konzerten, Ausstellungen und Eröffnungen solcher bei Kühls sind mir im Freundeskreis der Großmutter viele interessante Menschen begegnet. Besonders mochte ich Christian Rietschel, der mit seiner Frau häufig zu Besuch war. Er konnte wunderbar zeichnen und war immer bereit, für mich wundervolle Wesen wie Pferde oder Elefanten zu Papier zu bringen.

Zum anderen begegneten mir Bekannte meiner Großmutter sehr freundlich und aufmerksam, was mich bisweilen verwunderte. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir in diesem Zusammenhang der Zahnarzt Dr. Mittag, dessen Familie ebenso wie meine seit den 30erJahren auf der Gellerstraße wohnt. Dieser erwiderte bei einer Begegnung meinen Gruß mit einem Griff an seinen Hut, den er leicht lüftete. Heute weiß ich, dass diese Aufmerksamkeit der Achtung meiner Großmutter gegenüber geschuldet war.

Das größte Privileg aber war, ungeteilte und bedingungslose Aufmerksamkeit zu erhalten. Im Rückblick ist es bemerkenswert, wie es meiner Großmutter in den vergleichsweise wenigen Jahren gelang, bei mir Interessen zu wecken, Lebensmaximen anzulegen und meine zukünftige Entwicklung positiv zu beeinflussen. Entscheidend waren, so glaube ich heute, ihre Großzügigkeit, alle meine Interessen zu unterstützen und zu fördern, mich an ihren teilhaben zu lassen und ihr Bemühen, Vorbild zu sein. Das heißt vorallem, fleißig zu sein, hart gegen sich selbst, die Hilfebedürftigen in den Vordergrund zu stellen und nicht sich selbst. Zudem sich an Schönem zu erfreuen, dankbar sein und, ihr wichtigstes Credo, immer weiter zu lernen.

Die Ehrung meiner Großmutter als eine besondere Frau Sachsens hat unsere Familie mit großer Freude erfüllt. Mit Stolz haben wir zu Kenntnis genommen, dass sie nicht vergessen ist und zahlreiche Radebeuler zur Feierstunde ihre noch immer währende Achtung und Dankbarkeit gezeigt haben. Nach meinem Empfinden ehrt der Landesfrauenrat aber nicht nur die jahrzehntelange Arbeit meiner Großmutter, sondern auch die ihrer Mitarbeiterinnen, die ebenso fleißig und engagiert tätig waren. Meine Großmutter, da bin ich mir sicher, hätte mir zugestimmt.

Heike Pitsch

Radebeuler Vor- und NachWENDEerinnerungen

Aus dem Blickwinkel einer ehemaligen Stadtgaleristin – Teil 2

Komplexe Ausstellungsgestaltung »T(R)aumbildung« 1989, Foto: Michael Lange


Über die Beweggründe zur Eröffnung einer städtischen Galerie in Radebeul schrieb der Maler und Grafiker Gunter Herrmann rückblickend im Jahr 2002: „Die Idee zu einer Galerie in Radebeul ist keinen kommunalen Köpfen entsprungen. Sie ist mit der neuen Politik der Ära Honecker in der DDR verbunden.“ Einerseits sollten für die Bildenden Künstler Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten geschaffen werden. Andererseits wollte man die Künstler vor Ort einbinden und unter Kontrolle haben. Als erste kommunale Stadtbezirksgalerie wurde 1974 in Dresden die „Galerie Nord“ eröffnet. Die „Galerie Mitte“ folgte 1979. Im gleichen Jahr startete in Radebeul auf Anregung der „Pirkheimer“, die im Kulturbund verankert waren, der erste Grafikmarkt. Offiziell genehmigte Ausstellungsmöglichkeiten gab es u. a. im Radebeuler Haus der Kunst, im Heimatmuseum Hoflößnitz und in den zahlreichen Kulturhäusern. So genannte „Illegale Ausstellungen“ fanden im Atelier des Kunststudenten Ralf Kehrbach zunächst in Wahnsdorf, später in Lindenau statt.

Als eine Art „Leitgalerie“ für die Künstler des Kreises Dresden-Land wurde die „Kleine Galerie Radebeul“ am 16. Dezember 1982 in den Räumen eines ehemaligen Tapetenladens auf der Ernst-Thälmann-Straße 20 eröffnet. Kaum hatte ich meine Tätigkeit als Leiterin der Galerie im Juni 1984 begonnen, kam es 1985 bereits zum ersten Eklat, hervorgerufen durch Gunter Herrmanns Gemälde „Mahnmal einer Landschaft“, mit dem er auf die Umweltzerstörung durch den Braunkohletagebau aufmerksam machen wollte. Ansonsten wurden in der Radebeuler Galerie zumeist Werke der Malerei, Grafik und Plastik gezeigt, welche der Kunstauffassung vom sozialistischen Realismus weitgehend entsprochen haben. Doch ab Mitte der 1980er Jahre gewannen die Themen und Gestaltungsmittel an Breite und Vielfalt. Dieser Prozess war nicht mehr aufzuhalten und hatte andernorts auch schon früher begonnen.

Auf die vielen Fragen „von unten“ gab es schließlich immer weniger Antworten „von oben“. Ausbürgerungen, Verbote und Schließungen waren letztlich ein Zeichen der Hilf- und Sprachlosigkeit. Zunehmend kam es zu Diskussionen über die gesellschaftlichen Zustände in kirchlichen und kulturellen Räumen, in Betrieben, Kneipen und auf der Straße.

Zur Eröffnung der Ausstellung »Ma(h)lzeit« am 16.9.1987, Foto: Michael Lange


Was an der einen Stelle unterdrückt werden sollte, kam an einer anderen wieder heraus. Kaum meinte man die „politisch-negative Konzentration“ um den Radebeuler Künstler Peter PIT Müller durch den operativen Vorgang „Geschwür“ mit Verhören, Hausdurchsuchung und Überwachung zersetzt zu haben, fanden sich auch schon wieder junge Künstler in variierenden Konstellationen zu Werkstattwochen in Stolpen, Scharfenberg und Rothschönberg zusammen, um gemeinsam zu diskutieren, zu experimentieren und zu gestalten. Die künstlerischen Ergebnisse wurden in der Kleinen Galerie Radebeul“ in den Ausstellungen „Ma(h)lzeit“ 1987, „T(R)aumbildung“ 1989 und „ENEKUNG“ 1990 gezeigt. Mit intermedialen Aktionen sollten alle Sinne angesprochen werden. Malerei, Grafik Fotografie und plastische Objekte mit individueller Symbolik verschmolzen zu Rauminstallationen. In einer Rezension über die Ausstellung „T(R)aumbildung“ schreibt Cornelia Wendt im August 1990: „Es geht um Überlegungen zum eigenen Ich, zur Sicht auf die Dinge der Außenwelt, um die Fähigkeit einer seismographischen Wahrnehmung stündlicher, minütlicher und noch schnellerer Veränderung, um Ruhe und Beziehungssuche inmitten gesellschaftlichem Chaos, hetzendem Aufbruch, rücksichtslosem Zurücklassen und absichtlichem Vergessen.“

Die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Situation erfolgte bei den Radebeuler Künstlern auf sehr unterschiedliche Weise. Während sich auf Horst Hilles Bildern die neureichen DDR-Spießer mit den Insignien Trabi und Datsche schmückten oder die Vertreter der „Turnschuhgeneration“ nicht im Geringsten um den sozialistischen Kleiderkodex scherten, zeigte der Bildhauer Wolf-Eike Kuntsche 1988 in seiner Personalausstellung eine ganz andere Welt. Die war zum Teil surreal und beängstigend. Beispielgebend sei hier u. a. die Bronzearbeit „Großes Finale“ aus dem Jahr 1984 genannt, deren Titel das hintergründig Groteske der kleinplastischen Szenerie natürlich noch gesteigert hat. Zu sehen waren puppenhafte Wesen, die wie fremd gesteuert an Marionettenfäden hingen und einander erbarmungslos niedermetzelten. Ein siebenteiliges Objekt wiederum ließ den Betrachter miterleben, wie sich ein Mensch aus einem ihn einzwängenden durchsichtigen Quader zu befreien versucht. Zurück blieb letztlich das leere Gehäuse. Zu sehen war auch die Serie „Masken der Zivilisation“, welche 1986 in unmittelbarer Reaktion auf die nukleare Katastrophe in Tschernobyl entstand ist. Die Konfrontation mit dem selbstzerstörerischen Wirken der eigenen Gattung erfolgte direkt und schonungslos. Die Theorie von der moralischen Überlegenheit des Sozialismus scheiterte zunehmend an der Realität. Wenig Zurückhaltung in ihrer gesellschaftspolitischen Aussage hatten sich auch der Radebeuler Bildhauer Detlef Reinemer und der Leipziger Grafiker Karl-Georg Hirsch auferlegt. In ihrer gemeinsamen Ausstellung in der Stadtgalerie illustrierten sie 1987 auf makabre Weise die nie enden wollende Geschichte von „Ketzer, Narr und Ruferin“. Das Erstaunliche ist, dass viele Kunstwerke aus jener Zeit bis heute nichts von ihrer Brisanz und Aktualität verloren haben. Vor allem bei den stillen Künstlern, die sich weder ins Rampenlicht gedrängt haben, noch den vermeintlichen Staatskünstlern oder Dissidenten zurechnen lassen, wird die Spurensuche auch in Zukunft Überraschendes zu Tage befördern.

Genres wie Szenografie, Architektur, Fotografie, Keramik und Textilkunst stellten eine inhaltliche Bereicherung dar. Vor allem im Zusammenhang mit der Architektur wurden auch Themen der Stadtentwicklung berührt. So zeigte die Ausstellung „Neues Leben in alten Mauern“ 1986 gelungene Sanierungsbeispiele der 1980er Jahre, welche Maßstäbe setzten und Denkanstöße geben sollten. Untergangsstimmung mischte sich mit Aufbruchstimmung. Man ahnte, dass etwas altes Vertrautes zu Ende geht und andererseits etwas neues Unbekanntes im Entstehen ist.

Das im Rahmen der Ausstellungen durchgeführte Zusatzprogramm war sehr abwechslungsreich. Veranstaltet wurden Konzerte, Lesungen, Figurentheateraufführungen, Performanceaktionen, Vorträge, Filmabende, Auktionen und Kinderfeste. Erleben konnte man u. a. bemerkenswerte Künstler wie den Dichter Heinz Czechowski, den Puppenspieler Gottfried Reinhardt, den Autoperformer Michael Brendel, den Lyriker und Liedermacher Michael Milde sowie die Musiker Joe Sachse, Uwe Kropinski, Friwi Sternberg und Dietmar Diesner.

Die „Kleine Galerie“ entwickelte sich in Radebeul zu einem stark frequentierten, kommunikativen Anlaufpunkt. Folglich wurde permanent von der Staatssicherheit überprüft, ob die Leiterin dieser Einrichtung ihre Sonderstellung nicht für subversive Zwecke missbraucht. Es war ein ständiger Spagat. Dass die Telefone sowohl im dienstlichen als auch privaten Bereich abgehört wurden, war für alle kein Geheimnis – also überlegte man sich ohnehin was man sagte und was nicht. Allerdings wird so mancher Fatalist erst viele Jahre später bei der Einsicht in seine „Akte“ darüber erschrocken sein, was im Falle eines Zugriffs mit ihm geschehen sollte.

Unweit der städtischen Galerie existierte in Radebeul-Ost ein weiterer Ort, der Künstler sowie Kunst- und Kulturinteressierte magisch angezogen hat. Dieser ominöse Jazzkeller, in dem zweifellos sehr spannende Konzerte, Ausstellungen und Lesungen stattgefunden haben, war scheinbar von allen bevormundenden und finanziellen Zwängen befreit. Im Nachhinein fragt man sich, wer wohl mehr von den subkulturell anmutenden Veranstaltungen profitiert haben wird: die „Lauscher“ oder die “Belauschten“?

Im benachbarten Coswig kam es 1985 in der „Börse“ mit dem intermedialen Subkultur-Festival „Intermedia I“ zu einem für damalige Zeiten unerhörten Skandal, der einerseits in die DDR-Kunstgeschichtsschreibung eingegangen ist, andererseits zur Entlassung des damaligen Klubhausleiters Wolfgang Zimmermann führte. Dass selbiger wiederum, seit nunmehr drei Jahrzehnten dem Redaktionskollegium von „Vorschau und Rückblick“ angehört, muss in diesem Beitrag unbedingt Erwähnung finden.

Vor allem im letzten Jahrzehnt der DDR entfaltete sich die Kunst- und Kulturszene sehr facettenreich, nicht zuletzt auch im Zusammenspiel mit Kulturpolitikern, die sich neuen Ideen gegenüber zunehmend aufgeschlossen zeigten. Auch in Radebeul begannen allerlei kulturelle Pflänzchen recht gut zu gedeihen. Ab 1985 organisierte Thilo Schmalfeld, Mitarbeiter des Jugendklubhauses „X. Weltfestspiele“, (nach dem Umzug vom Ledenweg in die ehemalige Sektkellerei Bussard in „Sekte“ umbenannt), gemeinsam mit zahlreichen engagierten Jugendlichen den Radebeuler „Popsommer“. Schon bald herrschten woodstockartige Zustände, denn das Publikum reiste zu den Konzerten in der Elbsporthalle (für diese Zwecke als Tonhalle bezeichnet), in Scharen mit Zelten und Wohnwagen an. Auf der Ernst-Thälmann-Straße in Radebeul-Ost hingegen fand 1987 die erste Kasperiade statt, die Sabine Brendel, eine engagierte Mitarbeiterin des Kreiskabinetts für Kulturarbeit, initiiert hatte. Auch der junge Kreissekretär des Kulturbundes, Peter Kappel, hatte viele Ideen. Und so wanderte der elfte Radebeuler Grafikmarkt im Oktober 1989 mit einem neuen erweiterten Konzept vom Rathaus in die Erweiterte Oberschule „Juri Gagarin“. Ja, es war eine sehr lebendige Zeit. Die Ereignisse begannen sich zu überschlagen. Nur einen Tag nach dem „Mauerfall“, wurde (wie von Hanna Kazmirowski in Heft 11/2019 ausführlich beschrieben) am 10. November 1989 die Wiedergeburt des Monatsheftes „Die Vorschau“ eingeleitet.

Doch schon bald erlebten Künstler als auch Mitarbeiter kultureller Einrichtungen den Systemwechsel als eine existenzielle Bedrohung. Die Förderung von Kunst und Kultur gehörte für Kommunen und Betriebe plötzlich nicht mehr zu den Pflichtaufgaben. Über Jahrzehnte gewachsene Strukturen begannen sich aufzulösen und die Frage stand im Raum: Wie nun weiter in Radebeul mit diesem personal-, raum- und finanzbedürftigem Metier unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen?

Karin (Gerhardt) Baum
Fortsetzung Heft 02/2020

Editorial 12-19

Ein Jahr der Jubiläen geht zu Ende. Im Spiegel der Medienlandschaft hat sich bei den Rezipienten hier und da nun sicher ein Gefühl der Übersättigung eingestellt. Die Welle mag vorerst verebbt sein, um im Zuge der Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit im kommenden Herbst dann wieder mit voller Wucht die Gazetten zu überfluten.

Mit den bevorstehenden weihnachtlichen Tagen beginnt wieder die Zeit des Schenkens und des Lesens. So will auch unsere „Vorschau“ Ihnen, liebe Leserinnen und Leser mit vier zusätzlichen Seiten ein kleines Geschenk machen.

Wie Sie wissen, haben wir im Zuge der unausweichlichen Digitalisierung schon seit einigen Jahren eine Internetpräsenz, die insbesondere für unsere computeraffine Leserschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt. Da zudem unsere Anzeigenkunden, die zur Finanzierung des Heftes unerlässlich sind, neben der traditionellen Printwerbung zunehmend parallel den Weg ins Netz suchen, müssen auch wir uns auf neue, wenngleich ungewohnte Wege aufmachen. Aus diesem Grund werden wir fortan zur Platzierung von uns zugewandten Werbekunden zudem mit einer eigenen Facebook-Seite vertreten sein. Auch dort werden unsere Beiträge in Auszügen erscheinen.

Mit Jahresausklang endet unsere zwölfteilige poetische Begleitung mit Thomas Rosenlöcher, der uns im September mit einer heiteren Lesung im Schloss Hoflößnitz beehrte.

Nun ist es mir eine Freude Ihnen mitteilen zu dürfen, dass unsere Lyrikseite auch im nächsten Jahr gefüllt sein wird. Dem eingangs erwähnten kommenden runden Jahrestag geschuldet, werden uns programmatisch alte und neue Texte von Wolf Biermann durch das Jahr führen.

Sascha Graedtke

Mit Thomas Rosenlöcher poetisch durch das Jahr

Laby – Laby – Laby

Neues aus dem Lügenmuseum

Das Laby rinnt. Es rinnt die Zeit. Gewesenes bestimmt die Gegenwart. Manchmal bedarf es der Vergegenwärtigung. Im Labyrinth gelangt der Gast, wie um sich selbst sich drehend, mit der Gästin zur eigenen Mitte. Innerlich bereichert gelangen beide ins Leben zurück.
„Zwiefach sind die Fantasien“, wußte Wilhelm Busch, vierfach feiert Zabkas Zaubertruppe den herrlichen Herbst `89:

Untergang im Labyläum Radebeul Foto: R. Zabka

Zuerst mit „Labystan“ in der Berliner Zionskirche. Der berühmte Ort der Umweltbibliothek war, einst bestüberwacht, im Sommer Schauplatz für „eine atemberaubende Inszenierung“: Vor der Kirche stand ein Grenzhäuschen mit Schlagbaum. Drinnen konnte sich jeder selbst einbürgern und mit einem Amt versehen. Dann warteten Künstlerplakate, Installationen, Videos mit Geschichten, erzählt von Leuten, die dabei gewesen sind. Selbst ein DDR-Karaoke war zu erleben: Beim Anheben alter Deckel auf alten Töpfen erklangen beliebte DDR-Schlager. An der Empore hängend verkündete ein riesiges Banner das Motto des Tages: „Liebe futsch, Revolution vorbei, Spaghetti kalt“ – und alles ohne Zwangsumtausch.
Dann begeisterte die Ausstellung „Labytopia – Altäre der Revolution“ in der Kreuzkirche zu Dresden. Gemeinsam mit Co-Kuratorin Juliane Vowinkel hat Reinhard Zabka acht Künstler eingeladen, das Jubiläum zu reflektieren: Klaus Liebscher – Dialog; Angela Hampel und Steffen Fischer – Mitgift; Frank Herrmann – Altar der Einfalt; Marion Kahnemann – Helden oder wer ist wie wir; Karola Smy und Wolfgang Smy – Altar für Reisefreiheit; Sophie Cau – die Fahnen der vier Siegermächte; sowie Justus Ehros – Gewitterwarnung am Montag.
Reinhard Zabka selbst wartete mit einem „Friedlichen Revolutions- Orchestrion“ auf.
Die Ausstellung weckt Erinnerungen an Träume und Visionen der Akteure von `89, sie erinnert an Notstandskreativität, an die Macht der Fantasie im Schatten der Zensur. Sie verbindet die prägenden Lebensgefühle von einst mit den labyrinthischen Erfahrungen des Einigungsprozesses und den damit verbundenen Verlusten, die bis heute nachwirken. Sie nährt die Hoffnung, daß die damals aufgebrochenen positiven Energien auch die blaue Stunde überdauern.
Brauchts dazu Kirchen? Brauchts Altäre?

Altar von Klaus Liebscher Foto: R. Zabka

Die Fragen liegen auf der Hand wie die Antworten: Denn einst wie jetzt bieten Kirchen Frei – Räume für Lebensäußerungen jenseits aller Ideologien und frei von Kommers – pardon, Kommerz. Schließlich geht es nicht um die Anbetung der Asche der Friedlichen Revolution, es wird auch kein Deutungs- oder Historikerstreit zelebriert. Es geht um das `89er Lebensgefühl, es geht darum, das innere Feuer von damals den nachfolgenden Generationen authentisch zu vermitteln.
Die Ausstellung, die durch das Förderprogramm „Revolution und Demokratie“ des Freistaates Sachsen ermöglicht wurde, ist zweiteilig konzipiert: Nach der Präsentation in der Kreuzkirche wird sie in ihren Bestandteilen in das Radebeuler Lügenmuseum integriert.
Doch vor dem Umzug gab es als dritten Akt das „Labyläum“ zum Untergang der DDR auf den Radebeuler Elbwiesen.
Wie immer zum traditionellen Herbst- und Weinfest hatten Richard von Gigantikow und sein Team aus einem Berg alter Paletten ein Labyrinth entstehen lassen, diesmal: die aus Ruinen erstandene DDR.

Labystan in der Zionskirche Berlin Foto: R. Zabka

Sie errichteten eine Mauer mit Wachtürmen, Fluchttunnel, Straßennamen, dem „Loch zu Bautzen“. Auch der „Pleitegeier aufm Ochsenkopf“ durfte nicht fehlen. Nachdem ein Wochenende lang Besucherströme bei bestem Wetter, Livemusik zwischen spielenden Kindern und mit Orakel versehen, das Labyrinth mit tausenden Fragen und Antworten ausgestattet hatten, ging zum Grande Finale alles in Flammen auf, auch die Alternative „Lieber Kohl als rote Rüben“. Fasziniert beklatschten tausende Schaulustige das Feuer, gegen das sich Hammer, Zirkel und Ährenkranz auf hoher Warte lange wehrten.

Im vierten Akt nun wird die Ausstellung „Labytopia – Altäre der Revolution“ am 30. Oktober ins Lügenmuseum aufgenommen.
Dorota und Reinhard Zabka bewahren hier nicht nur die bewegenden und beweglichen Zeugnisse der DDR – Underground – Kunst, sie bewahren damit auch den ältesten Gasthof der Lößnitz vor dem Verfall – nicht alles ist wert, zugrunde zu gehen, auch wenn das Laby rinnt wie die Zeit!
Wers zur Eröffnung nicht geschafft hat, wisse: Es gibt immer wieder Neues zu sehen im Lügenmuseum.

Thomas Gerlach

Abbruch, Umbruch und Aufbruch

Zur Geschichte der Radebeuler „Vorschau“ und von „Vorschau & Rückblick“ (Teil 1)

Jedes Jahr schreibt die Körber-Stiftung einen Geschichtswettbewerb aus und ruft Schüler in Deutschland dazu auf, sich mit geschichtlichen Themen auseinanderzusetzen. In diesem Jahr lag der Fokus auf lokalen bzw. regionalen Gegebenheiten, die daraufhin untersucht werden sollten, wie Umbrüche in der jüngeren deutschen Geschichte daran exemplarisch verdeutlicht werden können. Die älteste Tochter unseres Redaktionsmitglieds Bertram Kazmirowski, Hanna (17), beteiligte sich an diesem Wettbewerb mit einer Arbeit, die die Geschichte unseres Monatsheftes von den Anfängen in den 1950er Jahren bis in die Nachwendezeit 1992 aufarbeitet. Dazu hatte sie Zeitzeugen befragt, Dokumente in Archiven und Bibliotheken gesichtet und viele Ausgaben der alten „Vorschau“ sowie von „Vorschau & Rückblick“ durchforstet. Auf zwei Beiträge verteilt zeichnet sie zusammenfassend wesentliche Entwicklungen nach. Der erste davon befasst sich mit „Der Vorschau“ und ihrer erzwungenen Einstellung Ende 1963 sowie deren Wiederbelebung, beginnend mit den bewegten Novembertagen 1989. Der zweite Beitrag wird im Frühling 2020 erscheinen und den beschwerlichen Neustart in Erinnerung rufen.

Es war in der ersten Hälfte der 1950er Jahre, als der Kommunalpolitiker und Kulturfunktionär Hellmuth Rauner und der Vorsitzende des Kreiskulturbundes Radebeul, Alfred Fellisch, die Idee einer regional begrenzten Kulturzeitschrift für Radebeul, Moritzburg und Radeburg entwickelten. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, die Lücke zwischen der gelenkten, inhaltsarmen Tagespresse auf der einen und den überregionalen Kulturzeitschriften auf der anderen Seite zu füllen.

Durch die Verstaatlichung der Medien und die Gleichschaltung der Presse durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands war das früher vielfältige Printangebot zurückgegangen, vor allem im Kulturbereich. So erblickte das mit „Die Vorschau“ betitelte Monatsblatt im Juni 1954 das Licht der Welt. Das Ansinnen war, die Werte der Heimat zu vermitteln und interessierte Radebeuler über aktuelle Kulturveranstaltungen zu informieren. Damals (wie auch später) arbeitete das Redaktionskollegium, das zu Beginn nur aus Hermann Ebelt, Fritz Hoyer und Hellmuth Rauner sowie Rudolf Huscher (Pseudonym für Günther R. Rehschuh) bestand und welches sich über die neun Jahre des Bestehens fortlaufend änderte, ehrenamtlich. Was „Die Vorschau“ im Vergleich zu anderen Kulturspiegeln so besonders machte, war ihre redaktionelle Qualität. Diese wurde mit mehreren Auszeichnungen gewürdigt. So konnte sich die Zeitschrift nicht nur in den Jahren 1960 bis 1962 „Bester Kulturspiegel des Bezirks Dresden“ nennen, sondern erhielt auch sonst viel Anerkennung und Lob. Das beachtliche Niveau der redaktionellen Beiträge ist auf die beteiligten Autoren zurückzuführen, wie z.B. auf Alfred Fellisch, der in den 1920er Jahren erst Wirtschaftsminister, dann kurz sogar Ministerpräsident des Freistaates Sachsen gewesen war und Curt Reuter, der sich als Heimatforscher und Lehrer einen Namen gemacht hatte. Außerdem bemühte sich die Redaktion um ein breites Themenspektrum, was das Monatsperiodikum für die Leserschaft zwar spannend machte, ihr aber auch im Laufe der Jahre zunehmend Konflikte mit der Staatsmacht einbrachte. Es ist nicht leicht zu datieren, ab wann genau „Die Vorschau“ durch linientreue Funktionäre beargwöhnt wurde. Die „Vorschau“-Autoren jedenfalls übten Kritik in Form von Kommentaren zu Parteitagen der SED oder noch fehlenden Fortschritten bei der Kulturarbeit im Kreis Dresden-Land, verpackten ihre Beanstandungen aber auch in Gedichten (z.B. Ulrich Pohle in seiner Rubrik „Der Pfeil“). Zu offensichtlich wollte man wiederum auch nicht kritisieren, und tatsächlich scheint „Die Vorschau“ immer recht geschickt entlang des noch Erlaubten entlang geschrieben haben – anders sind die erwähnten Auszeichnungen Anfang der 1960er Jahre nicht zu erklären. Durch die 50er Jahre hinweg hatte der Bekanntheitsgrad des Mitgründers Alfred Fellisch die Zeitschrift vor zu großer Einflussnahme weitgehend bewahrt. Wie mir aber sein im Sommer 2019 verstorbener Sohn Manfred erzählte, wurde sein Vater von 1952 an bis Anfang der 60er Jahre regelmäßig durch die Staatssicherheit kontrolliert, denen der überzeugte Sozialdemokrat und Kulturarbeiter nicht geheuer war. Tatsächlich habe, so Manfred Fellisch, die Staatssicherheit seinen Vater mehr als zehnmal zu Hause aufgesucht. Mit den Jahren, besonders ab der Zeit nach dem Mauerbau 1961, ist eine größere Zahl an systemkritischen Artikeln nicht mehr zu übersehen, beispielsweise über den offiziellen Umgang mit Karl May und das Radebeuler Indianermuseum. Aus heutiger Sicht scheinen diese Artikel unauffällig, doch in Anbetracht des historischen Kontextes muss man sie anders bewerten. Den Druck, unter dem das Kulturblatt nach dem Mauerbau gestanden haben muss, kann man nur an kleinen Indizien nachweisen, am Impressum zum Beispiel. Im Vergleich zu den Monaten zuvor hatte sich Anfang 1963 die Zusammensetzung der Redaktion drastisch geändert, was eine Reaktion auf veränderte kulturpolitische Rahmenbedingungen war. Während das Impressum von Januar 1963 noch zehn Mitglieder in der Redaktionskommission aufweist (Manfred Bachmann, Günther Böhme, Gerda Helbig, Werner Lüttich, Walter Malbrich, Hellmuth Rauner, Annemarie Rehschuh, Curt Reuter, Johannes Stephan und Albert Zirkler), so sind in der Kommissarischen Redaktionskommission des Februar-Heftes davon nur noch Günther Böhme, Walter Malbrich, Annemarie Rehschuh und Curt Reuter zu finden. Einige Kollegen wurden ab Februar 1963 also aus dem „Vorschau“-Kreis ausgeschlossen oder verließen die Redaktion freiwillig. Vor allem an Johannes Stephan kann man diese Veränderung nachvollziehen. Nachdem er mehrere kritische Artikel verfasst hatte (Zitat: „Oder ist es in ihrem Betrieb noch nie vorgekommen, daß eine Maschine gekauft wurde, deren Hauptzweck darin zu bestehen schien, meist defekt zu sein?“, vgl. Die Vorschau 6/1962, S. 18) war er ab diesem ereignisreichen Februar nicht mehr Teil des Kollegiums. Um den Verlust dieser sechs Mitarbeiter auszugleichen, waren dafür vier Personen neu dazugekommen: Ulrich Patitz, Georg Schroeter, Rudolf Thalheim und noch einmal Alfred Fellisch. Aus Protest gegen die strikten und unerwarteten Änderungen der Obrigkeit war also selbst der Mitinitiator und somit einer der längsten Redaktionskollegen, Hellmuth Rauner im Januar 1963 ausgestiegen. Von heute aus betrachtet scheint das Folgende absehbar, doch für das Redaktionskollegium kam es sehr plötzlich: Im Herbst 1963 kristallisierte sich heraus, dass „Die Vorschau“ nicht mehr lange bestehen würde. Um die Einstellung der Zeitschrift harmloser wirken zu lassen, wurde die gesamte Kulturbundpresse auf Kreisebene zentralisiert. Was man offiziell als Fortschritt feierte, hatte den Verlust der regionalen Verankerung und der kulturellen Identität zur Folge. Die letzten zwei Hefte der „Vorschau“, November und Dezember 1963, wurden sogar nur noch in einem einzigen dünnen Heftchen zusammengefasst, in dem nicht mehr als eine förmliche und schlichte Verabschiedung der Redaktion zu lesen war. Damit endete ein knappes Jahrzehnt „Vorschau“-Geschichte. Abgelöst wurde „Die Vorschau“ vom politisch eingenordeten „Dresdner Kreisexpress“, der versprochen hatte, die Inhalte der „Vorschau“ in einer wöchentlich erscheinenden Kulturbeilage zu übernehmen. Doch das konnte schon allein wegen seiner größeren Reichweite und der Verallgemeinerung nicht umgesetzt werden; zudem fehlte es an vertrauten Radebeulern, die sich mit Leidenschaft für die lokale Kultur engagierten.
Letztendlich ist es trotzdem bemerkenswert, wie lange sich die Radebeuler „Vorschau“ im jungen sozialistischen Staat gehalten hatte. Fast ein ganzes Jahrzehnt hatte sie monatlich eine neue Ausgabe für mehr als 4000 Leser präsentieren können. Angesichts der Vielzahl an kritischen Meinungsäußerungen und Themen hätte es niemand wundern müssen, wenn auch schon eher ein Schlussstrich unter die Veröffentlichung des Heftes gezogen worden wäre. Die Begeisterung der „Vorschau“-Leser muss auch ein Grund dafür gewesen sein, dass sich das Heft relativ lange in der Presselandschaft halten konnte. In den intellektuellen Kreisen Radebeuls tauschte man sich gern über die von der „Vorschau“ veröffentlichten Beiträge aus, die wenigstens teilweise einen anderen Tonfall hatten als die Artikel in den staatstragenden Druckerzeugnissen. Doch damit war nun Schluss – für ganze 27 Jahre.
Die politische Wende im Herbst 1989 war ein Segen für die Presse. Die neugewonnene Meinungsfreiheit war vorerst ungewohnt, bot aber viele neue Möglichkeiten, die genutzt werden wollten. Im Dezember 1989 waren es 26 Jahre, die die alte „Vorschau“ seit ihrer Einstellung 1963 nicht mehr existiert hatte. Eine lange Zeit, doch sie war nicht in Vergessenheit geraten. So war es kein Wunder, dass die Idee, dieses Heft wieder aufleben zu lassen, aufblühte, sobald man keine Angst vor Bevormundung mehr haben musste. Die Arbeit an der Verwirklichung dieses Projekts begann bei einer Bürgerversammlung im bewegten Herbst 1989: Am 10. November fand in der Friedenskirche eine Zusammenkunft statt, bei der in Gegenwart des Bürgermeisters und Vertreter des der Fachschule des Ministeriums des Inneren Radebeul verschiedene Gruppen ihre Ideen und Pläne für die Stadt vorstellten. Innerhalb des Neuen Forums gab es eine Arbeitsgruppe für den Bereich Kultur, für den Karin Baum (damals Gerhardt) die Funktion als Ansprechpartnerin übernahm. Sie schlug eine Neuauflage des monatlichen Kulturblattes vor, woraufhin sich auch Interessierte meldeten. So bildete sich die erste Redaktion für eine neue Ära der „Vorschau“. Mitgründerin Karin Baum beschrieb mir gegenüber diese Phase mit den Worten, dass sie „um 1990 ganz einfach das Bedürfnis“ hatten, „unsere Ideen endlich in die Tat umzusetzen“. Die Redaktion bestand außer dem Chefredakteur Dieter Malschewski, der als junger Mann schon in der früheren „Vorschau“ mitwirkte und nun seine journalistischen Erfahrungen (u.a. in Zusammenarbeit mit seiner Frau als Autor für die Betriebszeitung des Arzneimittelwerkes Dresden „Unterm Mikroskop“) in die neue Arbeit mit einfließen lassen konnte, nur aus neuen Gesichtern, die fast alle im kulturellen bzw. künstlerischen Bereich arbeiteten. Insgesamt hatten sich acht engagierte Radebeuler im Alter von 36 bis knapp 60 Jahren zusammengetan: der Journalist Wolfgang Zimmermann, der Leiter des Karl-May-Museums Radebeul René Wagner, die in Schloss Hoflößnitz als Museumsmitarbeiterin tätige Ilona Rau, der Schauspieler Friedemann Nawroth, der Ingenieur Dietrich Lohse, die Bühnenbildnerin Ulrike Kunze, die Mitarbeiterin der Radebeuler Stadtgalerie Karin Gerhardt und eben Dieter Malschewski. Die allererste Sitzung überhaupt der neugegründeten Redaktion tagte am 15. Januar 1990 in den Landesbühnen Sachsen. Aus einem Notizzettel ist zu entnehmen, dass bei diesem Treffen ganz essentielle Fragen besprochen wurden wie z.B. die Auflagenhöhe, das Format und die Seitenanzahl, bei der man sich auf 32 Seiten pro Heft einigte. Schließlich fing man noch einmal ganz von vorne an. Nachdem alle Unklarheiten beseitigt waren, bedurfte es nun nur noch einer Lizenz zur Herausgabe vom Dresdner Bezirksrat. Diese erhielt die Bürgerinitiative Kultur im Februar 1990. Dann stand der Veröffentlichung der Zeitschrift „Vorschau und Rückblick – Radebeuler Monatsheft“ nichts mehr im Wege. Das Datum für den Redaktionsschluss der ersten Ausgabe wurde auf den 15. März festgesetzt.

Hanna Kazmirowski

Karel Gott ein letztes Mal in Radebeul

Die Lage ist ernst für das Theater „Heiterer Blick“

Zum diesjährigen Herbst- und Weinfest in Radebeul bot der „Freundliche Hof“ auf dem Anger in Altkötzschenbroda eine kleine Sensation, die im Trubel der vielfältigen Angebote dieser drei Tage fast untergegangen wäre. Aus dem „goldenen Prag“ trat der Mann mit der „goldenen Stimme“ auf und sang eins seiner schönsten Lieder. Freilich ist der 80jährige Künstler nicht selbst nach Radebeul gekommen. Jan Dietl vom Theater „Heiterer Blick“ playbackte den Sänger in exzellenter Weise, begleitet von zwei etwas in die Jahre gekommenen Ballettösen.

Szene aus Shakespeares »Romeo und Julia« mit Roswitha Schubert (†) als Amme und Axel Poike als Romeo, aufgeführt vom Jugendtheater Radebeul 1980 Foto: H. J. Klatt

Das Publikum hatte an dieser wie den folgenden Darbietungen der Theatergruppe seine helle Freude. Unter dem Titel „Für immer jung in der Erinnerung“ führte die Gruppe eine musikalische Programmfolge auf, welche von der stimmgewaltigen italienischen Sängerin Milva, eindrucksvoll parodiert von Silli Gur, bis zum Gospelgesang eines Nonnenchores viel für Augen, Ohren und die Lachmuskeln bereit hielt. Durchs Programm führten das Conférencier-Duo Uwe Wittig und Louis Stritzke, welches durch eine nicht mehr ganz junge aber quirlige Praktikantin (Gabi Köckeritz) immer wieder aus dem Konzept gebracht wurde.
Freilich zeigte die Aufführung auch kleine dramaturgische Unzulänglichkeiten, darstellerische Schwächen und technische Probleme (Wackelkontakt am Mikrophon). Das Publikum jedenfalls nahm es der Gruppe nicht krumm, sondern spendete reichlichen Szenenapplaus und am Ende der halbstündigen Darbietung lang anhaltenden Beifall. Für den Auftritt reichte den Akteuren ein schwarzer Vorhang, kombiniert mit einem glitzernden Rückenprospekt. Die stilechten Kostüme der Spieler entschädigten reichlich und trugen so zum Gelingen des Gebotenen bei.
Das Theater „Heiterer Blick“ ist seit langem eine kulturelle Institution in der Stadt, welche sich eng mit ihr verbunden fühlt. Immer wieder war die Gruppe in der Vergangenheit bei kulturellen Ereignissen mit ihren Inszenierungen präsent. Da sind nicht nur ihre langjährigen Auftritte beim Herbst- und Weinfest oder ihre Teilnahme an der Radebeuler Kasperiade mit einer eigenwilligen, aber gekonnten Märcheninterpretation. Sie wirkte bei den Radebeuler Begegnungen mit, traten zu Weihnachtsmärkten in der Hoflößnitz oder zur Eröffnung des Bürgertreffs in Radebeul West auf. Mit „Nosferatu. Harmonie des Grauens“ weihte sie die Schalterhalle des Kulturbahnhofes in Radebeul-Ost 2010 als Veranstaltungsraum ein.
Sicher kann sich der eine oder andere Radebeuler wie auch die Radebeulerin noch an Zeiten erinnern, wo dieses Ensemble unter dem Namen „Jugendtheater Radebeul“ aufsehenerregende Inszenierungen herausbrachte. Kunick’s „Der letzte Mohikaner“(1967) auf einer eigens geschaffenen Freilichtbühne in Radebeul, Brechts „Die Antigone des Sophokles“ (1976) oder Shakespeare’s „Romeo und Julia” (1980). Die Gruppe, die es sich leisten konnte in ihre Spielstätte, dem Klubhaus „Heiterer Blick“ von VEB Druckmaschinenwerk Planeta Radebeul, ein eigenes Theateranrechtssystem zu unterhalten, zählte spätestens seit Mitte der 1970er Jahre zur Spitze des DDR-Amateurtheaters.

Zum Herbst- und Weinfest 2019 waren im »Freundlichen Hof« Susanne Hanke als Tänzerin Kitty und Jan Dietl als Tenor Peter Hansen bei der Interpretation des Liedes »Junger Mann« aus dem Revuefilm »Karneval der Liebe« von 1943 zu erleben Foto:K. U. Baum

Gegenwärtig allerdings steht der Gruppe das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Das einst zeitweise über 100 Mitglieder umfassende Theater zählt heute nur noch wenige Personen. Auch die finanzielle Situation hat sich dramatisch verschlechtert. Die Truppe kann sich künftig nicht mal mehr ihren Proben- und Requisitenraum im Vereinshaus leisten. Es fehlen mindestens 1.000 Euro um die Mietkosten zu begleichen, notwendige Aufwendungen für Inszenierungen und sonstige Ausgaben beiseite gelassen. Diesem traditionsreichen Theater droht im 75. Jahr seines Bestehens 2020 ein trauriges Ende und der Stadt Radebeul damit ein unwiederbringlicher Verlust. Ohne Probenraum keine Inszenierungen, ohne Inszenierungen keine Vorstellungen, ohne Vorstellungen keine Einnahmen und ohne Einnahmen keinen Probenraum! Lässt sich dieser Teufelskreis nicht durchbrechen und der „Heitere Blick“ vor dem Untergang retten?

Karl Uwe Baum

 

Dietmar Kunze

Leben und Wirken eines Radebeuler Architekten

Nach dem im Oktoberheft von Ilona Rau berührend verfassten Nachruf für einen lieben Freund, den Architekten Dr. Dietmar Kunze, will ich nun mit ein wenig Abstand das Leben und die Baustellen von Dietmar etwas ausführlicher vorstellen. Aber es ist auch für mich, einem langjährigen Freund und Kollegen noch immer nicht fassbar, dass er nun nicht mehr um die nächste Ecke geradelt kommen wird, „Hallo“ sagt, ein paar freundliche Worte im Sinne von „was gibts Neues“ mit mir wechselt. Nie mehr!

Mai 2019 Foto: U. Kunze

Was uns bleibt, ist die Erinnerung an ihn und das wird Vielen so gehen. Wenn ich jetzt über Dietmar schreibe, kann es nicht ausbleiben, dass das auch persönliche Erlebnisse einschließt. Ich werde mich aber bemühen, die Fakten von Dietmar Kunzes Lebenslauf, der schon mit 69 Jahren endete, zu notieren.
Am 10. April 1950 wurde Dietmar Arno Kunze in Dresden geboren. Seine Eltern waren Arno und Ursula Kunze, geb. Schubert. Der Vater war Horizontaldreher in der Planeta* Radebeul im Maschinen- und Modellbau, seine Mutter war als Übersetzerin im AWD / Radebeul tätig. Dietmars Kindheit in der Genossenschaftswohnung auf der Bertolt-Brecht-Straße war harmonisch, sein liebstes Spielzeug waren Bausteine und somit war der Berufswunsch bereits vorgezeichnet. Nach der Grundschule besuchte er die Erweiterte Oberschule in Radebeul. 1967 ergab es sich, dass er als Oberschüler mir bei einem Bauaufmaß am „Haus in der Sonne“ – so was gelingt zu zweit besser – half. Da war er seinem Berufswunsch Baumeister, wie er es ausdrückte, etwas nähergekommen. In jener Zeit wurde Dietmar Mitglied des Radebeuler Jugendtheaters „Heiterer Blick“ unter Klaus Kunick. Zwar war das für Dietmar keine Weichenstellung für einen Schauspielerberuf, traf er aber hier seine spätere Frau Ulrike Schmitz.
Ich erinnere mich, dass Dietmar zu dieser Zeit alles hörte und sammelte, was von den Beatles oder Bob Dylan gespielt wurde, er war ein Fan! Nur wenige wissen, dass er auch klassische Musik und Jazz mochte. Dietmar Kunze studierte ab 1968 Architektur an der TU Dresden, worauf ein Forschungsstudium bis 1975 folgte und 1981 erhielt er schließlich den Titel Dr. Ing. Architekt. Seit 1976 war er Mitglied des BdA. Ich glaube mich zu erinnern, dass besonders die Professoren Leopold Wiel und Helmut Trauzettel für sein späteres Berufsleben prägend waren. In der Zeit des Studiums lag ein städteplanerisches Praktikum in Leipzig sowie die Mitarbeit im Büro von Architekt Klaus Kaufmann in Radebeul. In den 70er Jahren waren wir beide freizeitmäßig in einer Gruppe junger Architekten unter Ulrich Aust mit der Rettung des Denkmals „Hellhaus“ in Moritzburg beschäftigt, konnten aber letzten Endes den Verfall nur verlangsamen. Es war eine gute Mischung aus Arbeit und Feiern, eine schöne, spannende Zeit, die auch Freundschaften vertiefte. Das „Hellhaus“ begleitete Dietmar das ganze Leben, im Frühjahr 2018 erhielt sein Büro schließlich den Auftrag zur äußeren Wiederherstellung. Die Zukunft wird zeigen, in welcher Form dies zum Abschluss gebracht wird.
Bald gehörte Dietmar auch dem „Radebeuler Aktiv für Denkmalpflege“ (Kulturbund) an, ebenso ab 1993 dem „Verein für Denkmalpflege und neues Bauen“, worin eine gewisse Kontinuität liegt.
1975 heirateten Ulrike und Dietmar Kunze in Radebeul und nahmen in der Bennostraße (Haus Steinbach) eine Wohnung. Hier wurde 1976 Sohn Ferdinand geboren, der mit nur elf Jahren an einer schweren Krankheit starb. Für die Eltern war Ferdinand der Familienmittelpunkt. Ich erinnere mich, dass sie ihn bewusst auch zu gesellschaftlichen Ereignissen, wie z.B. Ausstellungseröffnungen mitnahmen. Sein besonderes Interesse aber galt Eisenbahnen – ich traf Dietmar und Ferdinand oft auf dem Bahnhof Radebeul-Ost bei den Dampfloks. Der zweite Sohn Maximilian, geboren im Januar 1989, aber wurde groß (größer als der Vater!), trat beruflich in seine Fußstapfen und sollte schließlich 2019 sein eigenes Architekturbüro gründen.
Dietmars erste Anstellung als Architekt war im BMK IPRO, dann im Gesellschaftsbau. Es war schon kurios, Dietmar saß im selben Büro, aber die Firmennamen änderten sich mehrmals, später durch den politischen Umbruch und diverse Übernahmen noch zweimal: AIT, HPP. Einige seiner ersten Projekte waren die Mitarbeit am Erweiterungsbau des Volkspolizeikreisamtes Dresden, Funktionsgebäude und Gaststätte der Semperoper (er hat sich schon sehr geärgert, dass nach der Wende die von ihm entworfene Inneneinrichtung ohne zwingenden Grund ausgetauscht wurde) und der Beginn der Planung für den Hausmannsturm des Dresdner Schlosses. Dessen Fertigstellung durfte Dietmar – sicherlich seine höchste Baustelle! – nach der politischen Wende 1991 erleben. Das war schon ein Höhepunkt in der Laufbahn des Architekten. Ebenfalls in die frühen 90er Jahre fiel der Umbau und die denkmalpflegerische Sanierung der Yenidze in Dresden. Wichtig für seine berufliche Entwicklung sollte hier auch sein langjähriger Chef Wolfgang Hänsch erwähnt werden. Unter dessen Leitung arbeiteten außer Dietmar noch einige, für Dresdens architektonische Entwicklung prägende Architekten: Eberhard Pfau, Jörg Baarß, Gerd Gommlich, Torsten Gustavs und Marlies Zerjatke, die spätere Büropartnerin von Dietmar. An dieser Stelle sollte festgehalten werden, dass da zwar fleißig gearbeitet, aber auch viele schöne Feste (z.B. Schloss-Fasching) gefeiert wurden und Dietmar da mittendrin war. Hervorzuheben wäre auch, dass Dietmar als Initiator und Regisseur zweier Theaterstücke im Schlosskeller fungierte. – Hatte die Zeit im Jugendtheater doch Spuren hinterlassen? Als intelligenter, humorvoller und belesener Mensch fand er zu allen Partnern, ganz gleich ob Professor, Bauherr oder Handwerker, den richtigen Ton. Der Entschluss, ein eigenes Architekturbüro mit Marlies Zerjatke in Dresden zu gründen, beide als gleichberechtigte Partner einer GbR, wurde 2002 gefasst. Bürositz war in der obersten Etage des von Dietmar Kunze noch bei HPP entworfenen Bürogebäudes Könneritzstraße 31. Als Team suchten die beiden Architekten nach der besten jeweiligen gestalterisch-technischen Lösung eines Projektes, wobei Dietmar diese nach Außen kommunizierte und Marlies Zerjatke sie am Computer zeichnerisch/konstruktiv ausarbeitete. Einen Computer suchte man auf seinem Schreibtisch übrigens vergebens. Sie ergänzten einander beruflich und wurden ein gutes Team. Wichtige Baustellen – ich sehe mich außer Stande alle circa 130 darzustellen – waren die Umgestaltung des AOK-Gebäudes Dresden am Sternplatz (2003), in Bad Elster u.a. die denkmalpflegerische Sanierung des König Albert Theaters und zuletzt der Umbau des Kolonnadencafés in Bad Brambach.

Notiz aus seinem letzten Skizzenbuch Foto: U. Kunze

Schließlich leitete er diverse Sanierungsetappen am Schloss Moritzburg und dem Fasanenschlösschen. Letzteres war für Dietmar, der Moritzburg liebte, eine ganz besondere Aufgabe. Hier waren die guten Verbindungen zu Handwerkern, Restauratoren und dem Landesamt für Denkmalpflege vorteilhaft. Im Dezember 2007 konnte ich als Gast an einer Baubesprechung auf dem Jägerturm des Schlosses teilnehmen, das war für mich sehr interessant: Dietmar – bei winterlicher Witterung auf hohem Turmgerüst – einer Gruppe von Handwerkern in aller Ruhe anstehende Fragen zur Wetterfahne souverän beantwortend.
Als der Mietvertrag in der Könneritzstraße Ende 2018 auslief, fand die Bürogemeinschaft um Dietmar Kunze ganz in der Nähe in der Yenidze ein neues Büro. Nach vielen Jahren als praktizierender Architekt blickte Dietmar etwas unruhig dem nahenden Ruhestand entgegen. Die Idee, in dem mittlerweile in Gründung befindlichen Büro des Sohnes ein wenig weiter arbeiten zu können, schien da gut zu passen.
In Radebeul fallen mir nur vier Projekte ein, der Neubau Galenik AWD Radebeul,
die Denkmalsanierung und Erweiterung Haus Dr. Knoch, die energetische Sanierung des Kindergartens „Thomas Müntzer“ und zusammen mit dem ehemaligen Kollegen Thilo Hänsel und seiner Frau Birgit der Wohnhaus-Neubau Rennerbergstraße 19-23, als Architekt und gleichzeitig Bauherr, welches im Jahr 1999 mit dem Radebeuler Bauherrenpreis ausgezeichnet wurde.
Ich will auch Dietmars gelegentliche Beiträge für „Vorschau & Rückblick“ und vor allem die Titelbildgestaltung im Jahr 2018 nennen, an die wir uns dankbar erinnern.
Selbstverständlich beherrschte Dietmar das Konstruieren und Zeichnen am Brett und mit dem Rapidograph für seine Projekte sehr gut, alte Schule eben. Aber er hatte seit dem Studium noch eine andere Leidenschaft, er skizzierte gern, zeichnete Häuser, städtebauliche Räume und Landschaften mehr und besser als viele seiner Kollegen. Durch die Anregung seines 2002 gestorbenen Schwiegervaters Günter Schmitz, Maler und Grafiker in Radebeul, und enge Freundschaften zu anderen Radebeuler und Dresdner Künstlern begann er seinen freien Arbeiten mehr Raum zu geben. So gab es in den letzten fünf Jahren Ausstellungen mit eigenen Blättern von Radebeul, der Ostsee oder weiteren Reisen, u.a. in die Toskana (sh. V+R 07/17). In diesem Frühjahr erfüllte sich der lang gehegte Wunsch, in den Räumen des Pfarrwitwenhauses in Groß Zicker auf Rügen, dem langjährigen Ferienort der Familie, eine Bilderausstellung über drei Generationen der Familie (Günter Schmitz, Dietmar und Maximilian Kunze) zusammen mit dem Keramiker Mario Howard aufzubauen. Wir sahen diese Ausstellung am 31. Juli und waren sehr begeistert. Doch waren zutiefst erschüttert, als wir erfahren mussten, dass Dietmar am frühen Morgen des gleichen Tages an Herzversagen in Groß Zicker verstorben war. Das zuvor als Idee geäußerte Treffen unter Freunden abends im Urlaub, kann in dem Kreis nie mehr stattfinden.
Ich wünsche mir, dass die vielen Freunde Dietmars die zu seiner Beerdigung kamen, etwa 300 von ihnen, sich auch ohne ihn in bisher nicht da gewesenen Querverbindungen treffen und vernetzen könnten, um vielleicht etwas zu befördern und zu bewegen – das wäre wohl in seinem Sinne!

Dietrich Lohse

* Firmennamen werden hier aus Platzgründen in Kurzform genannt, also auch ohne “VEB“.

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