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… von flüchtigen Momenten …

Detail eines Wohnungseingangsportals
Radebeul | 2020

Ahnen Sie es schon, des Herbstes Gold? Ein Gemisch aus warmen Ockertönen, verschieden nuanciert, wie es sich würzig duftend ausbreitet und darin den Reichtum eines ganzen Jahres vereint, gleichsam auch den Zerfall, die Vergänglichkeit. Im Herbst liegen diese Gegensätze sehr nah beieinander. Das gleichzeitige Erleben von reifer Fülle und welkendem Vergehen scheint diese melancholische Stimmung hervorzurufen, die manch einen in dieser Jahreszeit auf besondere Weise durchzieht.

Sind es die Gegensätze in der Natur, die uns beleben, vermag dies ebenso die Architektur, wenn sie sensibel mit dem Vorhandenen agiert, wenn alt und neu sich gegenseitig befruchten. Und so hatte ich die Gelegenheit, in einer Radebeuler Villa einen modernen Akzent einzubringen, der bewusst den Dialog zum historisch Gewachsenen sucht. Inspiriert von der alten Baumgruppe am Haus, in herbstlichem Gewand, entstand ein stählern gefasstes Glasportal aus ockerfarbenen Papieren. Dieser leuchtende Farbklang intensiviert sich in den Papierebenen, die einander überlagern und strahlt warm in den Wohnraum hinein. Oft ergeben sich nach dem Einbau ganz neue Blicke auf spannende Details, da sich im einfallenden Licht das historische Fenstergitter mit den stammähnlichen Papierformen vermählt – für einen flüchtigen Moment …

Constanze Schüttoff

Mit Gerhard Schöne poetisch durch das Jahr

Vom „Mahngroschen“ am Luisenstift

Im Jahr 1872, die Schule war erst im zweiten Jahr aus Tharandt in die Niederlößnitz gekommen, lernten 60 interne und 11 externe Schülerinnen im neuen Schulgebäude. Es war also gleichzeitig Internat.

Über das Curriculum sind wir gut informiert. Neben dem Rechnen und Schreiben wurden Kirchen-, Welt- und Literaturgeschichte gelehrt. Pastor Böttcher unterrichtete Katechismusunterricht, Christenlehre und Bibelkunde. Auch Turnen und Stricken gehörte zum Wochenprogramm. Besonderer Wert wurde auf den Musikunterricht gelegt. Hier standen 104 Wochenstunden auf dem Programm. Für den Unterricht im Fach Französisch war neben Mlle Bechterhold noch Mlle Schaffner am Stift.

Seit Oktober 1871 sollte der Einrichtung eine sogenannte Kleinkinderschule angeschlossen werden. Man wollte die ärmeren Kinder der Nieder- und Oberlößnitz unterrichten. Vorhanden waren 351 Taler und 28 Neugroschen. Das reichte nicht, „obwohl Wäsche, Kleidungsstücke, Spielzeug und Kochgeschirr“ vorhanden waren.

Ein weiteres Ziel, Spenden einzuwerben, bestand in der Einrichtung einer Freistelle. Dafür waren allerdings etwa 6000 Taler nötig. Gespendet wurden bisher nur 160 Taler, 9 Neugroschen und 3 Pfennige. Nun wurde über Sammelbüchsen nachgedacht. Deutlich sichtbar für Jedermann stellte man schließlich im ersten Stock des Hauses eine blanke Büchse auf. Es sollten kleine Strafgelder gesammelt werden, welche die Schülerinnen zu bezahlen haben, wenn sie trotz wiederholter Erinnerung, „wo es nun einmal geschehen soll, nicht französisch sprechen wollen“.

Über den Erfolg dieser Maßnahme ist nichts überliefert. Wahrscheinlich war es keine so gute Idee.

Frank Thomas

4. Thematischer Filmclubabend am 13. Oktober 2022, um 19.30 Uhr, Stadtgalerie Radebeul


Der vierte thematische Filmabend des FilmClubMobil erfolgt in Kooperation mit der Stadtgalerie Radebeul. Im Rahmen der aktuellen Jubiläumsausstellung zum 30-jährigen Bestehen der Städtischen Kunstsammlung werden zwei Dokumentarfilme über das Schaffen von Künstlern gezeigt. Jürgen Böttcher führte Regie und hatte auch das Drehbuch geschrieben. Der Film „Drei von vielen“ entstand im Jahr 1961 und wurde unmittelbar nach seiner Fertigstellung verboten. Dessen Erstaufführung erfolgte 1988 in Schottland und 1990 in Deutschland. Der Film „Kurzer Besuch bei Hermann Glöckner“ wurde 1985 fertiggestellt, aufgeführt und als bester Dokumentarfilm des Jahres ausgezeichnet.

Der Maler und Filmregisseur Jürgen Böttcher, der auch unter dem Pseudonym Strawalde bekannt ist, studierte an der Hochschule für Bildende Künste Dresden (1949–1953) Malerei. Von 1955 bis 1960 belegte er an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam das Fach Regie und arbeitete bis 1991 im DEFA-Dokumentarfilmstudio in Berlin.

Drei von vielen

DEFA- Dokumentar-Kurzfilm, 1961, 33 Min., Drehbuch/Regie: Jürgen Böttcher, Kamera: Christian Lehmann

Der Film stellt drei junge Arbeiter aus Dresden vor, die sich in einem Malzirkel der Volkshochschule kennenlernten, den Jürgen Böttcher leitete. Obwohl sie in unterschiedlichen Berufen tätig sind, Peter Herrmann ist Chemigraph, Peter Graf Lastkraftwagenfahrer und Peter Makolies Steinbildhauer, finden sie sich immer wieder zusammen. Was sie verbindet, ist die Leidenschaft für Malerei und Jazzmusik.

Der Film ist ein wunderbares Zeitdokument ohne jeden überschwänglichen Pathos. Er gewährt Einblicke in das berufliche und familiäre Umfeld dieser jungen Menschen, die ihr Leben individuell gestalten wollen. Im Film wird auch der Böttcher-Schüler Ralf Winkler (A. R. Penck) vorgestellt. Sprecher ist Manfred Krug. Einer der „Drei von vielen“, gemeint ist Peter Graf, lebt in Radebeul und wurde von seiner Wahlheimat 2007 mit dem Kunstpreis und 2022 mit einer Retrospektive zum 85. Geburtstag geehrt.

Kurzer Besuch bei Hermann Glöckner

DEFA- Dokumentar-Kurzfilm, 1985, 32 Min. Drehbuch/Regie: Jürgen Böttcher, Kamera: Thomas Plenert

Der Streifen ist ein DEFA-Dokumentarfilm von Jürgen Böttcher aus dem Jahr 1985 über den konstruktivistischen Maler und Bildhauer Hermann Glöckner (1889–1987), der in Dresden lebte und arbeitete. Im Gespräch mit Jürgen Böttcher erinnert sich der 96-jährige Glöckner an sein Elternhaus, an die Stationen seiner Ausbildung von der Volksschule bis zum Studium an der Dresdner Kunstakademie. Mit seiner konstruktivistischen Kunst stieß er sowohl in Nazideutschland als auch in der DDR der 1950er/1960er Jahre auf Unverständnis. Zur Lebenssicherung wendete er sich den so genannten „baubezogenen ‚Brot‘-Werken“ zu. Zahlreiche dieser Arbeiten in Sgraffito-Putzschnitt-Technik kann man auch in Radebeul entdecken. Sein künstlerisches Interesse lag jedoch auf anderem Gebiet.

Karin Baum und Michael Heuser
Sprecher der Cineastengruppe „Film Club Mobil“ im Radebeuler Kultur e.V.

Eine Glosse

Kritik erlaubt!

Jetzt verrate ich mal mein bestgehütetes Geheimnis: Ich bin verheiratet! Jeden Morgen sitzt mir meine mich hoffentlich liebende Ehefrau am Küchentisch gegenüber und verzehrt ein Marmeladenbrot, welches mit Wurst belegt ist…

Nein, nein, ich will jetzt nicht den alten Kalauer von den zwei jungen Damen im Alter von 85 Jahren neu aufkochen. Aber mal im Ernst: es ist ja überhaupt nicht verkehrt, wenn man an seiner Seite ein Korrektiv hat, welches einem auch hin und wieder mal so richtig die Meinung geigt und an den Kopf wirft: „Alter, jetzt spinnst du aber!“. Natürlich gehe ich dann durch die Decke, sehe das überhaupt nicht ein und krame allerlei Argumente, auch die dümmsten hervor, nur um nicht zugeben zu müssen, dass die Frau in diesem Fall recht hat. Mit Machogehabe hat das überhaupt nichts zu tun. Das sind genaugenommen nur Reflexhandlungen. Insgeheim weiß ich natürlich, dass ich kein „Mister Allwissend“ bin. Die Reaktion freilich ist aber durchaus normal. Zunächst geht ja jeder davon aus, dass stimmt, was er da zum Besten gibt. Wüsste er, dass er nur Unsinn erzählt, würde er es vermutlich lassen. Wer will sich schon blamieren – selbst vor der eigenen Frau nicht.

Aber so einfach ist die Sache nun auch wieder nicht, sonst hätten wir ja auf der ganzen Welt nur noch Friede, Freude, Eierkuchen. Haben wir aber nicht. Und es kracht ja nicht nur zwischen spielenden Kindern, zwischen Frauen und Männern oder den Nachbarn, sondern eben auch zwischen Wirtschaftsblöcken, Finanzunternehmen oder gar zwischen Staaten. Und dann wird es richtig blöd, weil immer welche reingezogen werden, die mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Eben wie bei meinem Opa, der seiner Frau auch gleich Schellen angeboten hatte, nur weil er Zoff mit den Kindern hatte.

Natürlich ist es schwierig, vernünftig zu reagieren, wenn die „geistigen Sektkorken“ hochgehen, wenn man sich verletzt oder missverstanden fühlt. Da kommt man ganz schnell zu der „sicheren“ Annahme, dass der Andere einem etwas „am Zeug flicken“ will. Dabei hat er vielleicht nur eine andere Meinung, was ja sein gutes Recht ist. Hier scheint mir der „Hase im Pfeffer“ zu liegen. „Wie kann er nur?! Er muss doch einsehen, dass ich Recht habe.“ Und so schaukelt man sich hoch, bis die „Kanonen“ glühen. Natürlich sind nicht alle „lockige Lämmchen“, die keiner Fliege etwas zu leide tun wollen. Da sollte man schon etwas genauer hinschauen. Süßholz raspeln und hinterm Rücken die Messer wetzen, das kennt man doch zur Genüge!

Häufig geht es eben nicht mehr um die dialogische Erörterung einer Sachlage, als vielmehr um die Verteidigung eigener Standpunkte. Da ist dann jedes Mittel recht, und wenn es nicht anders geht, wird auch mal dreist gelogen. Das ist in der großen Politik genauso, wie im Privaten. Aber irgendwie muss man ja wieder aus der Konfliktlage herauskommen, wenn nicht alles Porzellan zerschlagen werden soll.

Ein schlauer Philosoph hat 1990 hierfür Strategien entwickelt, die mir jedoch ziemlich konstruiert vorkommen, aber vermutlich in der Praxis regelmäßig angewendet werden. Man könnte sie mit den Begriffen „Flucht“, „Kampf“, „Nachgeben“, „Delegieren“, „Verhandeln“ oder „Einigen“ beschreiben. Da würde sich meine Frau aber wundern, wenn ich jedes Mal, wenn es Knatsch gibt, fluchtartig das Haus verlassen würde. Das funktioniert vielleicht noch bei Personen mit gleichem Status, etwa zwischen Freunden oder Ehepaaren. Aber schon eine sachliche Einigung mit einem Vorgesetzten lässt sich nur schwer erzielen. Der hat einfach Recht, weil er der Boss ist!

Was also tun, wenn man in die Bredouille kommt? Was rät da meine kluge Frau? „Erst mal tief Luft holen und dann eine Nacht drüber schlafen.“ Spätestens hier drängt sich mir aber die Frage auf „Mit wem?“, meint

Euer Motzi.

Versuch einer Glosse

Licht im Tunnel?

Da sitze ich nun an unserem Küchentisch und versuche mir monatlich eine Glosse abzuquälen, mit der Ungewissheit im Nacken, ob sie überhaupt im neuen Heft erscheint. Diesmal ist das alles noch um einen Zahn schärfer, da ich mich unter die Weissager mischen muss, wenn ich Mitte September über etwas schreiben will, was vermutlich erst im kommenden Monat spruchreif ist. Aber so ist es eben in diesem Metier, man bewegt sich halt immer auch etwas im Spekulativen.

Fangen wir aber mit dem Positiven an, das macht sich immer gut: Es scheint am Ende des Tunnels tatsächlich Licht zu sein – hoffen wir, dass es nicht der Gegenzug ist. Welcher Tunnel…? Richtig, der in dem das Lügenmuseum seit geraumer Zeit verschwunden ist.

An einem Montag mitten im September feierte das Museum trotz aller Probleme mit einer kleinen Schar illustrer Gäste im Saal des ehemaligen Serkowitzer Gasthofes den 10. Jahrestag seiner Existenz in Radebeul mit zwei Ausstellungseröffnungen und einer „Podiumsdiskussion“ über seine Zukunft. Den prominenten Persönlichkeiten, Künstlern und Freunden sah man den Ernst der Stunde nicht an. Im Gegenteil, es herrschte eher eine heitere, gelöste Stimmung, die besonders durch die aufspielenden Musiker beflügelt wurde.

Nun soll dieser Text keine Beschreibung der Veranstaltung werden. Auch hatte ich nicht den Eindruck, dass sich Zweckoptimismus unter den Gäste ausgebreitet hätte oder diese ihre Köpfe in den Elbtalsand gesteckt hätten. Denn alle waren sich einig, dass über Kunst nicht verhandelt werden kann. Freilich hat besonders ein freundlicher Herr aus dem Podium wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Licht im Tunnel zu scheinen begann. Er erklärte einfach, den Gasthof erwerben zu wollen, damit das Museum weiter bestehen bleiben könne. Man wird abwarten müssen…

Nun mag dieser überaus freundliche Akt in Zeiten der Geschmacksverfinsterung noch lange keine Garantie dafür sein, dass der „Museumszug“ aus dem Tunnel herausfindet. Wer weiß, wer sich da noch an den Weichen zu schaffen macht. Aber alles andere, als die Erhaltung des Lügenmuseums in Radebeul – wer eigentlich kann sich anmaßen zu wissen, was ein „richtiges“ Museum ist? – würde den Weg in die kulturelle Barbarei öffnen.

Und da bin ich bei dem Grundsätzlichen und Unangenehmen in diesem Land angelangt, von dem es ja nicht wenig gibt. Die Fragen der Preissteigerungen, der Energiekrise, der verkorksten Regierungspolitik sollen ja in diesem Heft nicht angesprochen werden. Es reicht auch so, wenn ich mich nur einem speziellen Trend zuwende, einem kulturellen. Seit geraumer Zeit sind Kräfte aktiv, die für sich die Deutungshoheit beanspruchen oder doch zumindest die Diskussion zu beliebigen Themen an sich reißen wollen. Diese Manie zieht sich durch alle Bereiche der Gesellschaft, löst Thematiken und Begrifflichkeiten aus ihren ursächlichen Zusammenhängen und lenkt die Menschen von den eigentlichen Problemen der kapitalistischen Gesellschaft ab. Die unsäglichen Diskussionen zu Genderfragen, die Streichungsversuche von angeblich „nicht mehr zeitgemäßen“ Namen (Mohrenstraße) oder die aberwitzige Erörterung, ob der Roman Winnetou eine Verunglimpfung indigener Völker darstelle, mögen dafür als Beispiele genügen.

Das Typische, wie Lächerliche, aber eben auch Gefährliche an diesen Diskussionen ist, dass sie mitunter den Realitätsbezug verloren haben. Karl May beschrieb eben keine realen Begebenheiten und er stellte nicht die damalige Situation der indigenen Bevölkerung dar. Seine Romane sind Fiktionen, also etwas Vorgestelltes, Erdachtes, etwa so, wie wenn ich mir am Küchentisch die nächste Glosse auskaspere. Es sind jene Fiktionen, die das künstlerische Schaffen hervorbringen. Wer diese angreift, rüttelt an den Grundlagen der demokratischen Gesellschaft. Die Freiheit der Kunst ist in der Bundesrepublik sogar im Grundgesetz verankert.

Da will ich mal hoffen, dass dieses Licht am Ende des Tunnels auch andere sehen, damit mit dem Lügenmuseum nicht noch ein Stück Kunst verloren geht, meint

Euer Motzi.

Vortrag und Lesung zu Michael Rom im Ratssaal der Stadt Radeburg

Vor 65 Jahren wurde der Dichter, Lyriker, Sänger und Museumsmann Michael Rom geboren.

Fotografie Michael Roms von Renate von Mangoldt in der Dauerausstellung des Heimatmuseums Radeburg


Michael Rom war von 1979 bis 1980 Museumsleiter am Heimatmuseum Radeburg und arbeitete davor und danach auch am Schloss Moritzburg. Er galt als unangepasst und künstlerisch aufgeschlossen. Sein Dienstende in Radeburg war eng mit einer vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR aufwändig und aktiv verhinderten Ausstellung junger Dresdner Künstler am Heimatmuseum verbunden. Michael Rom starb im Alter von 33 Jahren, nachdem er Opfer eines Raubüberfalls in einem Berliner Hotel wurde. Einer seiner Wegbegleiter war der heute in Berlin ansässige Schauspieler, Musiker, Journalist und Fotograf Wolfgang Grossmann, der 5 Jahre damit zubrachte, die Werke des jungen Dichters zusammenzutragen. In diesem Jahr wäre Michael Rom 65 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass veranstaltet das Heimatmuseum Radeburg einen Vortrag zu den sogenannten Zersetzungsmaßnahmen, die das MfS gegen Rom seit 1980 einleitete und zusätzlich eine Lesung mit Wolfgang Grossmann, mit spannenden Geschichten und Anekdoten aus dem turbulenten Künstlerleben in Dresden Anfang der 1980er Jahre sowie Eindrücken aus Roms Dichtung.

Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, der Eintritt zu beiden Veranstaltungen ist frei!

Donnerstag, den 13.10.2022, 19 Uhr im Ratssaal der Stadt Radeburg, Vortrag mit Robert Rösler
Freitag, den 14.10.2022, 19 Uhr im Ratssaal der Stadt Radeburg, Lesung mit Wolfgang Grossmann

Eine persönliche Zeitreise ins Jahr 1963 – oder Aktennummer S 14.12

Hätten Sie, liebe Leserin und Leser, gewusst, was Sie vor fast 60 Jahren für Spuren in Radebeul hinterlassen haben? Ja, das ist eine schwierige Frage. Zu dem Zeitpunkt war ich Schüler an einer „höheren Töchterschule“, genauer gesagt der Radebeuler EOS (Erweiterte Oberschule) und ich erinnerte mich jetzt, dass ich damals mit einer Jahresarbeit, heute würde man vielleicht von Projektarbeit sprechen, beschäftigt war, die mir sogar Spaß gemacht haben dürfte, aber meine Erinnerungen daran waren eher schwach. Im Frühjahr 2022 fragte ich im Radebeuler Stadtarchiv an und siehe da …!

Deckblatt der Schülerarbeit


1963, da stand die Mauer in Deutschland schon zwei Jahre und ich ging in die 11. Klasse, waren wir mit einer Jahresarbeit beschäftigt. Das Thema konnte man sich selbst aussuchen, es sollte am besten für mehrere Fächer übergreifend sein, man musste es dem Klassenlehrer vorstellen und bestätigen lassen, dann konnte man loslegen. Ich hatte mich für das Thema „Städtebauliche Entwicklung der Stadt Radebeul“ entschieden, was die Fächer Geschichte, Geografie und Kunsterziehung berührte. Da hieß es erst mal Fakten sammeln. Es fing mit Besuchen im damaligen Stadtarchiv bei Herrn Paul Brüll an, dann waren Gespräche mit Fachleuten im Bauwesen und in der Stadtverwaltung nötig und Fotostreifzüge mit dem Rad durch Radebeul – alles neben der normalen Arbeit in der Schule. Die Faktensammlung und meine Schlussfolgerungen daraus wuchsen, als ich abgeben konnte, waren es 25 Blatt A4. Ich glaube, die Arbeit wurde mit einer „2“ bewertet. Genau weiß ich das nicht, denn das Original blieb in der Schule und existiert nicht mehr. Aber ich hatte ja auf eine Bitte von Herrn Brüll ein Duplikat meiner Arbeit im Stadtarchiv abgegeben. An dieser Stelle möchte ich ein Lob an das Radebeuler Stadtarchiv loswerden: ich hätte nicht gedacht, dass bei sicherlich viel höheren Prioritäten in dieser Einrichtung etwas so Nebensächliches wie eine Schülerarbeit unter der Registrierung S 14.12 so lange verwahrt und dann auch noch sofort gefunden würde, Dank dafür!

Wohnblock in Serkowitz


Nun liegt vor mir eine Kopie des Archivexemplars und ich überlege, wie ich das Thema heute, wenn es denn gefordert würde, bearbeitet hätte. Beim Durchlesen hatte ich tatsächlich so etwas wie ein Wechselbad der Gefühle. Da findet man doch Vieles, was heute durchaus noch Gültigkeit hat, da hatte der Schüler einiges richtig erkannt. Die Topografie, die Geologie und Bodenverhältnisse, die 10 Dörfer, die über die Jahrhunderte langsam zusammenwuchsen, all das sind gültige Fakten. Bei den Kapiteln Klima und Landwirtschaft erkennt man schon eine Entwicklung zu 1963 – damals wurde Radebeul als sächsisches Nizza bezeichnet, heute könnte man fast von sächsischer Sahara sprechen. Damals glaubte man an Wachstum, also dass die Einwohnerzahl kontinuierlich steigen würde – aber schon einige Jahre stehen wir bei 33 bis 34 000 Einwohnern. Der Schüler erkannte auch, dass Radebeul keine Stadt im klassischen Sinn ist, sondern aus einem Konglomerat von Dörfern entstanden ist, was das Fehlen eines ursprünglichen Rathauses, eines zentralen Marktplatzes und von Stadtmauern zeigt. Stattdessen stehen unsere Mauern in den Weinbergen. Das Fehlen eines Stadtzentrums wollte der eifrige Schüler künftig durch die städtebauliche Entwicklung der Stadtmitte kompensieren (zu dem Zeitpunkt entstanden, glaube ich, die ersten Hochhäuser in Frankfurt am Main). So weit, so gut, aber muss es gleich ein solches Hochhaus neben dem Lößnitzbach und dem „Weißen Roß“ sein? Den Ansatz hatte nach 1990 ein westlicher Berater in der Stadtverwaltung Radebeul auch gehabt, als dann die Sparkasse, die AOK und noch ein Gebäude entstanden.

Blick vom »Weißen Roß« auf das künftige Zentrum


Es ist noch nicht so lange her, da hat man das höhere Haus von „Glasinvest“ wieder abgerissen. Andere Ideen sind dann aber Wirklichkeit geworden, wie eine S-Bahn durch Radebeul. Bei weit weniger Autos als heute (gut, ein paar Trabis, Wartburgs, Skodas und Moskwitschs gabs schon) fiel diesem Schüler schon auf, dass sich der Verkehr in der Längsachse Radebeuls nicht flüssig genug bewegte. Er meinte, dass mit einer neuen Elbtalstrasse dieses Problem zu lösen sei. Aber das Problem war bisher kaum zu lösen – wären weniger Autos vielleicht die Lösung? Fassen wir zusammen: mit der Analyse des Bestandes klappte es in seiner Arbeit besser als mit dem Ausblick! Na und von Radebeul als künftiger sozialistischer Stadt träumt heute auch keiner mehr.

Der Verfasser 1963


Die vielen Schwarz-Weiß-Fotos sind heute wichtige Zeitdokumente und geben den Charakter Radebeuls recht gut wieder. Dagegen sind die Skizzen des Schülers zwar informativ, zeigen aber noch eine kindliche Federführung, eben verbesserungswürdig.

Ach ja, im Vorwort fiel mir ein folgenschwerer Satz auf – ich wolle meine eigenen Pläne als künftiger Bauingenieur oder Architekt gern mit dem Wohl der Stadt Radebeul verbinden. Da war offenbar mein erster Berufswunsch als Oberförster schon vom Tisch! Der Satz war dann 1991 noch ein bisschen wahr geworden, als ich bis 2009 Verantwortung für die Radebeuler Kulturdenkmale übernehmen durfte.


Dietrich Lohse

Weinfesttraditionen an Saale und Unstrut

Die nicht nur im Wortsinn schwergewichtigste Neuerscheinung des Buchmarktes zur mitteldeutschen Weinbaugeschichte war im vergangenen Jahr der großformatige Band „Weinkultur an Saale und Unstrut“ des Historikers Wieland Führ. Der Autor, 1953 in Herrnhut geboren und seit 1991 in Naumburg ansässig, beleuchtet darin die Geschichte des traditionsreichen Winzerfestes in Freyburg an der Unstrut, das am 8. Oktober 1933 erstmals als öffentliches Volksfest gefeiert wurde und seitdem, mit Ausnahme der Jahre 1939 bis 1946, 1981 und der coronabedingten Zwangspause 2020/21, den festlichen Jahreshöhepunkt der Winzer und Weinfreunde unseres benachbarten Anbaugebietes bildet.

Das Einleitungskapitel blickt über den Tellerrand hinaus und zeigt auf, dass die großen jährlichen Wein- und Winzerfeste, wie wir sie heute in allen deutschen Anbaugebieten kennen, eine Erfindung erst des 20. Jahrhunderts sind. Das große „Winzerfest der Weinbaugesellschaft im Königreich Sachsen“ vom 25. Oktober 1840 in der Hoflößnitz bestätigt als eine Ausnahme diese Regel, denn es blieb, anders als damals intendiert, ein singuläres Ereignis. Weiter geht Führ in einem ausführlichen Überblick kenntnisreich auf die Geschichte des Weinanbaues an Saale und Unstrut von den Anfängen im hohen Mittelalter bis zur Gegenwart ein, die bis zur Teilung Sachsens nach dem Wiener Kongress 1815 Teil der sächsischen Weinbaugeschichte war und in ihrem Verlauf immer wieder vorbildlich in Richtung Elbe ausstrahlte.

Nach der verheerenden Reblauskatastophe des späten 19. Jahrhunderts begann der Wiederaufbau mit Pfropfreben auf Amerikanerunterlagen in der preußischen Provinz Sachsen mit staatlicher Unterstützung einige Jahre früher als im Elbtal, und hier wie dort reklamierten die 1933 an die Macht gelangten Nationalsozialisten die ihnen in den Schoß gefallenen Erfolge dieses neuen Weinbaues für sich und förderten ihn weiter. Mit der Gründung der Winzervereinigung Freyburg/Unstrut eG 1934 und vier Jahre später der Sächsischen Weinbaugenossenschaft (seit 1955 Winzergenossenschaft Meißen) wurden dort wie hier Strukturen geschaffen, die den Fortbestand der Weinkultur nachhaltig sicherten.

Die zentralen Kapitel des Buches beschäftigen sich mit der Vorbereitung und Durchführung des ersten Freyburger Winzerfestes 1933 als eines aus bürgerlichen, insbesondere Gastwirtskreisen initiierten und vom örtlichen Fremdenverkehrsamt und dem regionalen Weinbauverband mit großem propagandistischem Aufwand organisierten städtischen Volksfestes, dessen Erfolg die Erwartungen übertraf, sowie den in starkem Maße NS-ideologisch vereinnahmten Festen der Jahre 1934 bis 1938, seit 1936 im Rahmen der staatlich verordneten reichsweiten „Weinwerbewochen“ und 1938 schon deutlich durch die heraufziehende Kriegsgefahr überschattet. Bereits 1947 wurde in Freyburg an das Vorbild der 30er Jahre angeknüpft. Zunächst willkommene Abwechslungen in der Tristesse der Nachkriegsjahre, wurden die Feste seit Gründung der DDR zur steten Tradition und durch die staatlicherseits zur Verfügung gestellten Weinkontingente zur seltenen Gelegenheit, sich die schwierigen Zeiten mit heimischem Rebenblut zum Einheitspreis von 1 DM pro Schoppen ein verlängertes Wochenende lang schönzutrinken. Nicht von ungefähr fiel das Winzerfest 1953, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, besonders opulent aus – panem et circenses.

Bis 1960 boten sich diese zentralen Winzerfeste der DDR zudem als Schaufenster für die offiziellen deutschlandpolitischen Ziele der SED an – „Unstrut und Saale, Mosel und Rhein gehören zusammen wie Wahrheit und Wein“. Unabhängig von ihrer Ventilfunktion und den mit den Zeitläuften wechselnden offiziellen Losungen waren und sind diese Feste immer auch Ausdruck echter Lebensfreude und des Stolzes auf den regionalen Weinbau und seine Erzeugnisse gewesen. Wieland Führ lässt die Umstände und Höhepunkte der Feste zu DDR-Zeiten und seit 1990 Revue passieren und zeichnet dabei stimmungsvolle Zeitbilder. Auch die bereits 1969 an der Unstrut begründete Tradition, im Arbeiter- und Bauernstaat eine Gebietsweinkönigin zu krönen – anfangs bestand die Krone aus geprägter Pappe und Velourspapier – kommt dabei nicht zu kurz.

Neben den lesenswerten Texten besticht der 292 Seiten starke Band im Lexikonformat, dem eine Reproduktion des Winzerfestplakates von 1954 beigegeben ist, vor allem durch die Fülle und hohe Qualität seiner mehr als 900 überwiegend farbigen Abbildungen, die der Autor in jahrelanger Recherchearbeit aus zahlreichen öffentlichen und privaten Sammlungen zusammengetragen hat. Sein unternehmerischer Mut, dieses Mammutprojekt in derart gediegener Ausstattung im Selbstverlag zu stemmen (ISBN 978-3-00-070567-0, Preis 49,95 €), lässt ihm uns auch im Elbtal zahlreiche Leser wünschen. Dass es reizvoll wäre, auch die vielfältigen hiesigen Weinfesttraditionen der vergangenen 100 Jahre auf ähnlich breiter Quellenbasis fundiert unter die Lupe zu nehmen, bedarf darüber hinaus kaum der Erwähnung.

Am Samstag, den 8. Oktober – dem 89. Jahrestag des ersten Freyburger Winzerfestes –, ist Wieland Führ im Sächsischen Weinbaumuseum zu Gast und hält um 18 Uhr im Winzersaal der Hoflößnitz einen reich bebilderten Vortrag zum Thema seines Buches. Karten dafür, die auch zum vorherigen Besuch des Museums berechtigen, sind zum Preis von 3 Euro im Besucherzentrum der Hoflößnitz in Radebeul, Knohllweg 37 erhältlich (Tel. 0351.839 83 33).

Frank Andert

Karla Erlebach – Klasse 10 – Lößnitzgymnasium Radebeul

Gesellschaft

Jeder Schritt, den wir gehen, wurde schon gelebt.

Bestrebt, Neues zu sehen, gehen wir weite Wege.

Und doch enden wir am Rand unseres Geheges, verstehen nicht und bleiben uneinsichtig.

Verkriechen uns, verlieren uns, reden schöne Dinge und lassen Momente ausklingen, während im Verborgenen Menschen mit dem Tod ringen, einander in die Knie zwingen und ihr Leben in Hass verbringen.

Wir sehen Musik und hören Lieder, verpassen Chancen, sie kamen nie wieder. Wir knien nieder vor Gleichheit beim Anderssein und vergessen die Realität. Komisch, denke ich, kehre um und gleichzeitig tanze ich zu den Schreien von Kindern.

Verhindert, was zu tun, weil meine Zeit eilt.

Verkeilt und verpeilt zwischen tausend Möglichkeiten, eine davon, keine zu nutzen.

Jedes Wort, das wir sagen, wurde tausende Male gesprochen, verliert an Bedeutung, zerbrochen und gehäutet. Jeder Satz ist alt, verdreht und mal akzeptiert, mal verschmäht… Von all den Völkern der Erde vergeht und bleibt in Ewigkeit, solange jemand sich seiner bedient. Und damit werden Kriege begonnen, gewonnen oder verloren, Frieden wird geschlossen, gibt Hoffnung und wird beworben als Produkt deiner Gedanken, verwirrt und zerstört.

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Routine

Drei Schritte zur Treppe,
Siebzehn Stufen zum Weg,
zur Straße und schließlich
zur Bushaltestelle.

Rein aus der Kälte in den
viel zu lauten, vollen Bus.
Den Ranzen auf den Sitz,
sich selbst daneben werfen.

Danach etliche Straßen am Fenster,
vorbeiziehend. Häuser und Gärten.
Stopp. Weiterfahren. Anhalten. Los
immer weiter Richtung Ziel.

Letzte Haltestelle vor meiner.
Hektisches Zusammenpacken,
Ranzen schultern, hängengeblieben.
Drücken des Haltewunschtasters.

Vielleicht 50 Schritte bis zur Schule,
Rein aus der Kälte in das
viel zu laute, volle Haus.
Wissend, den Weg immer wieder zu fahren.

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