Die Lößnitz mit ihrem gleichnamigen Bach verbindet vier Kirchgemeinden

Im Evangelisch-Lutherischen Kirchspiel in der Lößnitz machen sich seit einem Jahr die vier Kirchgemeinden aus Radebeul, Reichenberg und Moritzburg gemeinsam auf den Weg

Friedenskirche Radebeul


Vielleicht ist einigen Radebeulern im vergangenen Jahr an der einen oder anderen Stelle aufgefallen, dass die beiden im Elbtal gelegenen evangelischen Radebeuler Kirchgemeinden (Luther- und Friedenskirche) sowie jene beiden im sogenannten Oberland der Lößnitz (Reichenberg und Moritzburg) gemeinsam, z.B. in der regionalen Zeitung, informieren. Sehr deutlich wurde dies bei den verschiedenen Angeboten der einzelnen Gemeinden zum Heiligen Abend, die von Gottesdiensten im Freien über Angebote an und in der offenen Kirche bis hin zu kurzen Christvespern mit kostenfreier Eintrittskarte unter Einhaltung der 2G-Regeln reichten. Viele hatten sich auf den Weg gemacht, um mit dem Besuch einer Kirche dem weihnachtlichen Fest durch das Hören der Weihnachtsgeschichte, durch Musik und Worte sowie Begegnungen den besonderen Glanz zu geben, mit dem dieser Tag seit der Kindheit verbunden ist. Möglicherweise war die eine oder der andere an diesem Tag erstmals in einer anderen als der angestammten Kirchgemeinde, weil ein bestimmtes Angebot der persönlichen Situation und den eigenen Bedürfnissen besonders entgegen kam.

Lutherkirche Radebeul


Die vier genannten evangelischen Kirchgemeinden begannen schon vor einiger Zeit, sich über eine gemeinsame Zukunft Gedanken zu machen. Ganz freiwillig geschah dies nicht, sondern erfolgte im Ergebnis eines mehrjährigen Strukturanpassungsprozesses innerhalb der sächsischen Landeskirche. Ziel dieser Veränderungen war und ist es noch immer, Kirchgemeinden über längere Zeit regionale und personelle Strukturen zu geben, durch die auch bei weiter sinkenden Mitgliederzahlen verlässlich Gemeindearbeit möglich ist. Die Landeskirche hatte die Gemeinden in diesen Prozess eingebunden und damit versucht, ihnen einen gewissen Gestaltungsspielraum einzuräumen. In unserer Region war das ein sehr produktiver und konstruktiver Prozess, denn so ganz fremd waren sich die vier Gemeinden ja auch nicht gewesen. Seit Jahren feiern alle Gemeinden zusammen mit der katholischen Christus-König-Gemeinde am Pfingstmontag auf der Schlossterrasse in Moritzburg einen ökumenischen Gottesdienst. Jugendliche aller Orte lernen zum Teil gemeinsam an der gleiche Schule. In der Jugendarbeit war seit längerem mindestens in Radebeul das Zusammenrücken der Jugendgruppen zu erleben. Zum 1. Januar 2021 schlossen sich nun die vier Gemeinden mit rund 8000 Gemeindegliedern und viereinhalb Pfarrstellen offiziell, d.h. vertraglich besiegelt, zu einem Kirchspiel zusammen, das seit Juli 2021 den Namen „Evangelisch-Lutherisches Kirchspiel in der Lößnitz“ trägt. Nun könnte man fragen: Was wird denn in einem Kirchspiel gespielt? Bei Wikipedia ist nachzulesen, dass der Begriff des Kirchspiels auf das niederländische Wort „dingspel” als Bezeichnung eines Rechtsgebietes im 13. Jahrhundert zurückgeht. Das althochdeutsche „spël“ bedeutet „Rede, Verkündigung, Erzählung“ oder aus theologischer Sicht „Predigt“. In dem Sinne beschreibt der Begriff Kirchspiel einen Predigtbezirk eines Pfarrers bzw. einer Pfarrerin. In der sächsischen Landeskirche wird damit im juristischen Sinne eine Gebietskörperschaft bezeichnet, in die Pfarrer und Pfarrerinnen durch die Landeskirche in das Kirchspiel entsandt werden. Sie sind jedoch durch ihre Seelsorgebezirke weiterhin vorwiegend in ihren Gemeinden tätig – stimmen sich aber viel regelmäßiger über ihre Arbeit ab und entwickeln gemeinsame Projekte. Derzeit sind im Kirchspielgebiet über 40 Mitarbeitende in den Bereichen Gemeindepädagogik, Kirchenmusik, Kinderhaus, Verwaltung, Kirchner/ Hausmeister, Friedhöfe angestellt. Das Kirchspiel ist deren Anstellungsträger und verwaltet den gemeinsamen Haushalt. Dafür ist der Kirchenvorstand als Leitungsgremium des Kirchspiels verantwortlich. Dem gehören neben den z.Z. vier im Kirchspiel tätigen Pfarrerinnen und Pfarrern weitere 16 Mitglieder aus allen Kirchgemeinden an. Alle rechtlich bindenden Beschlüsse sind durch den Kirchenvorstand zu fassen. Die Beschlüsse werden inhaltlich durch die verschiedenen Fachausschüsse und die vier Kirchgemeindevertretungen vorbereitet. Letztere beraten als gewählte Leitungsgremien der jeweiligen Kirchgemeinden in monatlichen Sitzungen die konkreten Aufgaben der Ortsgemeinde.

Kirche Reichenberg


Eine besondere Herausforderung war es, diese neuen Strukturen mit Leben zu füllen. Durch die immer wieder erforderlichen pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen sind bisher persönliche Begegnungen sowohl in der eigentlichen Gemeindearbeit mit den Menschen als auch in den unterschiedlichen Arbeitsgremien sehr eingeschränkt möglich gewesen. Vielfältige Sitzungen und Dienstberatungen konnten nur im virtuellen Umfeld stattfinden. Auch das eigentlich geplante „Kirchspiel-Hochzeitfest“ konnte nicht gefeiert werden. Dennoch blickt die Kirchspielleitung dankbar zurück auf das in den ersten 365 Tagen Erreichte und Erlebte. So haben die jeweiligen Ortsgemeinden alle im Kirchspiel tätigen Pfarrerinnen und Pfarrer in ihren Ortskirchen erleben können. Auch in den digitalen Sonntagsgrüßen, die in wechselnden Abständen aufgrund der Pandemiesituation über den YouTube-Kanal des Kirchspielsi erschienen und noch immer abrufbar sind, wirkten viele haupt- und ehrenamtlich Tätige mit und wurden gemeindeübergreifend sichtbar. Über diesen Kanal sind ebenso noch immer die kleinen Rätsel-Videos zu finden, die einiges über die vielen Besonderheiten der Gemeinden und der Kirchen erzählen, ebenso wie Eindrücke vom Rundflug über das Kirchspiel mit dem Gewinner der Rätsels. Im Juni waren alle unter dem Motto „Geh doch mal woanders hin“ eingeladen, mit Gemeindegliedern der anderen Gemeinden ins Gespräch zu kommen. Jugend- und Konfirmandenarbeit wird zunehmend gemeinsam geplant und durchgeführt. Mit Spannung und Freude warten insbesondere die Jugendlichen auf den neuen Gemeindepädagogen, der ab März mit vielen Visionen diesen Arbeitsbereich kirchspielweit mitgestalten wird. Geplant ist, dass in diesem Jahr die gemeinsame Internetseite online gehen und das Kirchspiel über ein einheitliches Logo in der Außenkommunikation erkennbar wird. Seit August 2020, fünf Monate vor dem offiziellen Zusammenschluss der Gemeinden im Kirchspiel, ist der gemeinsame alle zwei Monate erscheinende Gemeindebrief ein inzwischen bekanntes „Gesicht“. Er hält vielfältige Informationen zum Leben in den Gemeinden bereit, beleuchtet, erklärt und diskutiert darüber hinaus auch inhaltliche Themen in ihren Zusammenhängen und mit ihren Hintergründen. Im Interview für den im Februar 2022 erscheinenden Gemeindebrief habe ich den Wunsch geäußert, dass es mit Blick auf die Zukunft wunderbar wäre, wenn der uns gewöhnliche Begriff des Spiels, verbunden mit Tätigkeiten zur eigenen und gemeinsamen Freude, zur Vergnügung oder Entspannung auch auf viele Aktivitäten und Angebote im Kirchspiel zutreffen könnte. Schön wäre es, wenn wir bald mit den Puzzleteilen der einzelnen Gemeinden so zu spielen gelernt haben, dass ein zukunftsfrohes und Mut machendes Bild entsteht, das Lust zum Weiterspielen macht und sich viele Menschen unabhängig ihrer Kirchenzugehörigkeit angesprochen fühlen.

Kirche Moritzburg


Gertraud Schäfer

Vorsitzende des Kirchenvorstandes des Ev.-Luth. Kirchspiels in der Lößnitz

i www.youtube.com/c/KirchspielRadebeulReichenbergMoritzburg

Über Fußwege in Radebeul…

Romantisches Motiv für Maler und Fotografen: Zwei alte Platanen in der Friedlandstraße
vor Haus Friedland (Bennostraße)

Ein Foto in der Sächsischen Zeitung vom 6. Januar 2022 löste bei mir am morgendlichen Frühstückstisch eine regelrechte Lachsalve aus. Es zeigt einen fast fertig sanierten Radebeuler Fußweg mit großzügig eingefassten Baumscheiben (Pflanzbereiche für Bäume), die – wie im Beitrag beschrieben – an einigen Stellen für Fußgänger bis zur Grundstücksmauer nur noch 80 cm Platz lassen! „Nein, nicht schon wieder“, dachte ich. „Das kann doch einfach nicht wahr sein!“ Eigentlich wollte ich über etwas ganz Anderes schreiben. Doch das muss nun warten.
Mein ambivalentes Verhältnis zu Radebeuler Fußwegen wurde bereits in frühen Kindertagen geprägt. „Diese verfluchten Sterzl!“, klingt es mir noch heute in den Ohren, wenn ich mit meiner Großmutter (1902–1975) die Moritzburger hoch oder runter marschierte. Die Strecke zwischen Straßenbahn und Brühlstraße (später Prof.-Wilhelm-Ring) mit dem Bus zu fahren, wäre uns nie in den Sinn gekommen. Am ehemaligen Gasthof „Heiterer Blick“ war ja schon mehr als die halbe Strecke geschafft. Außerdem wurde es hier noch einmal richtig interessant. Denn in unmittelbarer Nähe befanden sich auch eine Anschlagtafel mit den Kinoprogrammen, eine Telefonzelle, ein Bäcker, ein Schreib- und ein Gemischtwarenladen. Kastanienbäume säumten die Straße. Im Herbst fiel uns Kindern das kostenlose Bastelmaterial in Form von rotbraun glänzenden Kastanien praktisch vor die Füße. Die Wurzeln der alten Bäume machten die Fußwege zur Abenteuerstrecke. Alles ist jedoch eine Frage der Perspektive und es macht einen Unterschied, ob man am Anfang oder am Ende des Lebens steht.
Beim Kramen in Kisten und Kästen stieß ich auf ein fünf Jahrzehnte altes Schreiben meiner Großmutter, genauer gesagt vom 22.11.1972, welches sie an den Rat der Stadt Radebeul, Örtliche Versorgungswirtschaft, gerichtet hatte. Darin bedankt sie sich für die Reparatur von zwei „Lampen“ im Bereich Moritzburger Straße/Winzerstraße/Ecke „Heiterer Blick“, wo es vorher so dunkel war, dass die Bus- und PKW-Fahrer verunsichert die Geschwindigkeit herab- und die Scheinwerfer heraufschalteten. Darüber hinaus weist sie auf ein weiteres, noch zu lösendes Problem hin. Recht anschaulich schilderte sie den Zustand der Fußwege, und meinte, dass es bei Regenwetter keinen Spaß machen würde, durch die „Babbe“ zu waten. Sie bekundete ihr Verständnis für die Behörde, bemerkte aber, dass sie für eine baldige Einreihung in die Planung dankbar wäre. Sie entschuldigte sich höflich für ihre Offenheit und endete wie damals üblich „Mit sozialistischem Gruß“.

Wie wichtig für sie und für viele andere Menschen der Zustand des Fußweges war, hing auch damit zusammen, dass sie in den frühen Morgenstunden zur Arbeit hasteten und nur die wenigsten ein eigenes Auto besaßen. Sehr gut erinnere ich mich an zwei unermüdliche Einzelkämpfer, wie sie nach Feierabend und an Wochenenden die Fußwege der Moritzburger Straße Abschnitt für Abschnitt mit Gehwegplatten bestückten. Im Stadtarchiv werden sich bestimmt noch Berichte über diese VMI-Einsätze finden lassen (VMI Abkürzung für Volkswirtschaftliche Masseninitiative).

Gehweg im mittleren Teil der Bahnhofstraße
mit Pflanzbereichen, Fahrradständer,
Geschäftsauslage und Fußgängern

Urlaubsschnappschuss von einem Fußweg
mit begehbarer Baumscheibenabdeckung

Dabei war das alles noch recht harmlos im Vergleich zur Finstern Gasse oder zur steil ansteigenden Burgstraße, die zur damaligen Ausflugsgaststätte „Friedensburg“ führte. Die abfließenden Regen- und Schmelzwässer suchten sich dort ihre eigenen Wege und ließen die Gräben zwischen großen Steinen und Geröll immer tiefer werden. Das Verlegen von ein paar Gehwegplatten hätte hier keinen Effekt gebracht. Doch das ist Vergangenheit und was lange währt, das wird vielleicht besonders gut. Die grundhafte Instandsetzung der Finsteren Gasse hat mein Redaktionskollege Dietrich Lohse dann im Juniheft von 2016 sehr fachkundig beschrieben und auch gelobt.

Ob Mangelwirtschaft oder Überflussgesellschaft – Diskussionen über den Zustand der Fußwege in Radebeul werden wohl ein Dauerthema bleiben. Bedingt durch die zahlreichen und großzügig bemessenen Einzelgrundstücke ist das Straßen- und Wegenetz außerordentlich weitläufig. So ist es auch verständlich, dass nicht alle auftretenden Mängel allein durch die wenigen Mitarbeiter der Bauverwaltung erfasst werden können. In Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung dürfte doch ein unkompliziert zu handhabendes Meldesystem kein Problem sein. Von Vorteil wäre auch ein Bauhof, wo man ortstypische Materialien erhält, um schnell mal ein kleines Loch in Eigeninitiative zu füllen, bevor es zu Unfällen führt. Wenn alle mitwirken im Sinne des Gemeinwesens, wäre das ein erster Schritt.

Neulich habe ich nicht schlecht gestaunt, als plötzlich ein Kleintransporter vor unserem Grundstück stand und ein Mann damit begann, die abgesunkenen Bordsteine anzuheben und schließlich den Fußweg auf traditionelle Weise mit einem frischen Sand/Kies/Lehm-Belag versah. Das Ganze lief reichlich unkompliziert ab. Ein Hinweis per Mail ans Bauamt hatte genügt. Meiner Dankesmail folgte eine Mail aus dem Amt mit dem Dank für die positive Rückmeldung und Dank für den Dank. Wer hätte das gedacht, die Methode „Machen statt meckern“ und auch mal „Danke“ sagen, hat doch wunderbar funktioniert!

Kreise beginnen sich zu schließen. Nun, da ich selbst kurz vor meinem 70. Geburtstag stehe, gehöre ich inzwischen zu denen, die den Blick bewusst vor und unter die Füße richten, wenn ich mich ohne Auto durch die Stadt bewege. Sand- und Kieswege werden von mir bei längeren Spaziergängen favorisiert. In den städtischen Zentrumsbereichen sind es die glatten Beläge, welche ich den unebenen vorziehe. Bei groben Kopfsteinpflasterungen denke ich zwangsläufig an mittelalterliche Folterinstrumente.

Vieles hat sich in einem halben Jahrhundert verändert. Bäume mussten dem Straßenverkehr weichen. Obstbäume sind heutzutage ohnehin als Straßenbäume ein Tabu. Das ländliche Flair der Lößnitz wird zunehmend verdrängt durch eine austauschbare Funktionalität. So manches romantische Motiv, das Generationen von Malern begeisterte, kann man sich nur noch auf deren Bildern anschauen.

Als gesunde ausgewachsene Bäume im mittleren Bereich der Bahnhofstraße leichtfertig für eine Neuordnung der Stellplätze geopfert werden sollten, standen alle Zeichen auf Sturm. Der Kampf um den Erhalt der Schatten- und Sauerstoffspender hatte sich schließlich gelohnt. Allerdings wundere ich mich bis heute darüber, wie man in Zeiten gravierender klimatischer Veränderungen überhaupt auf solche absurden Ideen kommen kann.

Der instandgesetzte Augustusweg mit Baumscheiben für Neupflanzungen im Gehwegbereich

Die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen gerät in der Gemengelage unterschiedlicher Instanzen und Zuständigkeiten sowie im Dschungel von Vorschriften, Empfehlungen oder Kann-Bestimmungen mitunter aus dem Blick. Dass das Konfliktpotenzial im öffentlichen Straßenraum zugenommen hat, ist eine Tatsache. Dabei könnte alles so einfach sein, würde sich jeder an den Paragrafen 1 der Straßenverkehrsordnung halten. Grundregel (1): „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ Grundregel (2): „Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“

Nachträglich verkleinerte Pflanzbereiche auf der Gartenstraße

Die Realität sieht jedoch anders aus. So manches Problem hat sich von der Straße auf den Fußweg verlagert. Mehrfach habe ich erlebt, wie Radfahrer dort, von hinten kommend, rechts oder links in unfassbarem Tempo an mir vorbeigeschossen sind. In solchen Situationen schlägt meine Fantasie Purzelbäume und mein Herz beginnt wie wild zu klopfen bei dem Gedanken, was wohl passiert wäre, wenn ich im falschen Moment, eine falsche Bewegung gemacht hätte. Vielleicht sollte es auch eine Fahrerlaubnis für Radfahrer geben und jedwedes Gefährt, welches sich im öffentlichen Raum schneller als ein Fußgänger bewegt, sollte ein Kennzeichen erhalten.

Gefährlicher Gehwegabschnitt (Breite 40 cm)
mit Betonmast und Schaltkasten sowie
hohen Bordsteinen (Höhe 12,5 cm)
auf der neu sanierten Oberen Bergstraße

Der Seitenraum neben der Verkehrsfläche schließt nicht nur die Fußwege ein, sondern auch straßenbegleitende Park- und Grünflächen. Bei entsprechender Breite der verbleibenden Gehwege sind Misch- und Sondernutzungen möglich, was für Blinde und Sehbehinderte allerdings ein großes Problem darstellt. Abgesehen von Straßenlampen, Verkehrsleiteinrichtungen, Papierkörben, Hydranten, Elektrokästen, Mülltonnen, Pflanzkübeln, Fahrradständern, Pollern, Werbeschildern, Geschäftsauslagen und Außenbestuhlungen, sind oftmals wild abgestellte Fortbewegungsmittel wie Elektroscooter zu beachten. Selbst das Flanieren in Altkötzschenbroda setzt strategisches Denken voraus. Diese Strecke mit einem Kinderwagen, Rollator oder Rollstuhl zu testen, brächte zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Es ist schon ein wenig paradox, dort wo sich in Radebeul die wenigsten Fußgänger bewegen, sind die Fußwege am breitesten. Das betrifft sowohl die Kötzschenbrodaer, als auch die Meißner Straße. Bei letztgenannter muss ich mich jedoch korrigieren. Als neulich beim totalen Stromausfall keine Straßenbahnen fuhren, waren die Fußwege beidseitig sehr reich bevölkert. Vielleicht ist das Bauamt doch viel vorausschauender als die ewig nörgelnde Bürgerschaft vermutet und hat schon für wind- und sonnenarme Zeiten vorgesorgt.

Der breite Fußweg auf der Bahnhofstraße lädt zum Flanieren und Verweilen ein

Manche Fußwege gleichen einem Flickenteppich und andere wiederum konkurrieren farblich mit den Hausfassaden, statt deren zunehmende Intensität zu neutralisieren. Und manchmal verschmelzen die Fußwege gleich ganz mit dem modernistischen Ton in Ton von Zitronengelb über Hellkaramell bis Lößnitzocker. Doch die Natur bleibt davon unbeeindruckt. Sie setzt sich letztlich immer wieder durch. Im starken Kontrast zu den die „Sächsische Wegedecke“ imitierenden Betonsteinen verschafft sie sich, selbst in der schmalsten Fuge, die ihr gebührende Aufmerksamkeit.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Und allen Radebeulern recht getan, ist (eben) eine Kunst, die keiner kann. Aber vielleicht sollten neue Mittel und Methoden angewendet werden, um die Bürger stärker in die Gestaltung ihrer Stadt einzubinden. Und vielleicht sollte man sich auch einmal Beispiele in anderen Städten anschauen, wie das Problem mit den Baumscheiben künftig besser gelöst werden kann. Meine Großmutter, und da bin ich mir ziemlich sicher, würde staunen, wieviel sich in Radebeul zum Positiven verändert hat – und das, nicht nur auf der Moritzburger Straße. Wenn mein Artikel über Fußwege in Radebeul das Interesse an der Thematik geweckt haben sollte, würde mich das sehr freuen. Zahlreiche Fakten zur historischen Entwicklung von Wegen, Gassen und Straßen der Lößnitzstadt finden sich u. a. auch in älteren Beiträgen von Vorschau & Rückblick, in der Radebeuler Denkmaltopografie sowie im Radebeuler Stadtlexikon.

Karin (Gerhardt) Baum

Weitere Beiträge zur Fußwegproblematik in Vorschau & Rückblick:
Dietrich Lohse „Es tat sich was in der Finsteren Gasse“, Juni 2016
Dietrich Lohse „Eine etwas kritische Wegebetrachtung – oder wo unsere Fußwege zu verbessern wären“, November 2016
Dr. Ursula Martin „Mit dem Rollator durch Radebeul“, September 2021

Editorial 2-22

Seit einigen Wochen geschieht Beispielloses nun auch im beschaulichen Radebeul.

Montag für Montag drängt eine stetig wachsende Zahl von Bürgern (nunmehr weit über 1000!) auf die Straße. Entgegen der zuerst ausgerufenen Versammlungsverbote, spaziert eine breite Bürgerschaft friedlich vom Bahnhof Radebeul-Ost über die Haupt- und Meißnerstraße, um nach einem längeren Bogen am Rathaus zu enden. Auf den Treppen des Haupteinganges werden unzählige Kerzen aufgestellt, die ein entschiedenes, wie auch versöhnliches Zeichen setzen wollen.

Ganz klar, wir alle sind ermüdet von den Strapazen und Zumutungen der letzten beiden Jahre. Die Meinungen sind bis in die Redaktion vielschichtig. Welcher Weg ist der geeignetste aus der Krise? Kann es nur eine richtige Antwort geben? Welche Maßnahmen ergeben tatsächlich Sinn, wo den heute zementierten Regeln morgen diametrale Erkenntnisse entgegenstehen?

Bei allem Verständnis für die schwierigen Abwägungsprozesse im Politikbetrieb, bleibt es nicht aus, dass der Irrgarten der geradezu kafkaesken Verordnungen und Richtlinien selbst den geduldsamsten Bürger kopfschütteln lässt.

Diese Zeit ist von einer enormen Dynamik geprägt. Pläne, die noch vor kurzem zur vollsten Blüte gebracht werden sollten, sind schon längst verwelkt. Daher ist und bleibt Behutsamkeit wohl das Gebot der Stunde.

Kurz vor Drucklegung erreichte mich zur Causa die Pressemitteilung unseres Oberbürgermeisters Bert Wendsche, der in einer überaus wohltuenden Weise mit seinem Schreiben: Zuhören, hinsehen, mitreden – Am Miteinander führt kein Weg vorbei! (S.35) zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gemahnt.

Sascha Graedtke

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… von flüchtigen Momenten …

der seidene Faden II
temporäre Installation
Radebeul | 2020

Dieses fotografische Detail der Fadeninstallation entstand in einer wolkendurchzogenen, frühherbstlichen Mondnacht und spiegelte mir, in jenem Moment, den Gedanken des seidenen Fadens auf besondere Weise wider. Auch berührten mich die verschiedenen Reaktionen der Menschen, als einige von ihnen den Faden wie von selbst aufnahmen, ihn weiter spannen und durch ihre Einsichten erweiterten – schließlich mich damit bedachten.
So möchte ich Ihnen nun den seidenen Faden reichen und Sie im neuen Jahr begrüßen.
Möge er Sie, unscheinbar, kraftvoll, nicht nur durch dieses Jahr geleiten…

seiden der Faden
an dem alles hängt
verwebt er unsichtbar
den Raum, die Zeit und alles Sein
seiden der Faden
der alles trägt
auch dich
immer

Constanze Schüttoff

Von Kindern, Flügeln und Träumen

Liedermacher Gerhard Schöne mit Texten zu Gast in unserem Heft

Es ist uns eine große Freude die nunmehr zur Tradition gewordene Lyrikseite 2022 mit Texten von Gerhard Schöne versehen zu dürfen. Im Januar feiert der Liedermacher seinen 70. Geburtstag und dies ist im Sinne von „Vorschau & Rückblick“ eine besondere Gelegenheit, ihn in unserem Heft zu präsentieren. Mit seinem Lebensmittelpunkt in Meißen, wo er mit seiner Frau und den Kindern in ländlicher Idylle wohnt, lebt er nur ein kleines Stückchen außerhalb des Wirkungsraumes unseres Kulturheftes.
Gerhard Schöne hat sich im Osten Deutschlands wie wohl kaum ein Zweiter in die Herzen und Zimmer zahlloser Kinder und Jungebliebener gesungen. Dabei war seine Berufung zum Sänger und Geschichtenerzähler keinesfalls so vorgezeichnet. Aufgewachsen in einem sächsischen Pfarrhaus in Coswig zwischen fünf Kindern, vielen Tieren, Musikinstrumenten und vielen Gästen, erlebte er schon früh eine andere Perspektive auf die Lebenswelt der DDR. Und so bot die Kirche nicht selten einen geeigneten Schutzraum für Gedanken und Sehnsüchte. Besonders sein tiefverwurzelter christlicher Glaube ist so prägend für den Kompass seines künstlerischen Schaffens geworden. Konsequent verweigerte er den Dienst an der Waffe und leistete seine Zeit als Bausoldat ab.
Zunächst erlernte er den Beruf eines Korpusgürtlers, verdingte sich als Postbote und arbeitete als Mitarbeiter für musikalische Kinder- und Jugendarbeit in der Kirche. Seine Musikalität, gepaart mit der Gabe des Geschichtenerzählens, führten ihn zum Fernstudium an der Musikhochschule in Dresden.
Ab 1979 wagte er den Schritt in die Selbständigkeit und ist seither als freischaffender Künstler tätig. Bereits seine erste LP „Spar deinen Wein nicht auf für morgen“ von 1981 hatte einen überwältigenden Erfolg und schuf Flügel für die kommenden Jahre. Zu DDR-Zeiten erschienen fünf weitere Platten die sich millionenfach verkauften. Ihm gelingt es auf beeindruckende Weise, mit seinen musikalischen Bilderwelten einen ganz „eigenen Ton“ zu treffen, der es zudem vermag, die Herzen und Gemüter im Wiederfinden seiner selbst tief zu berühren. Mal kindlich, mal naiv. Und so entstanden Lieder und Geschichten für Groß und Klein, die jede nachwachsende Generation immer wieder neu erfahren kann. Geradezu verblüffend ist, dass die für uns Ostdeutschen heute so eindringlich bekannten Texte zu einer Zeit entstanden, als er selbst noch keine eigenen Kinder hatte.
Große Bekanntheit erlangte er durch seine Sammlung von Kinderliedern aus aller Welt sowie aus eigener Feder, allen voran „Kinderland“ und „Jule wäscht sich nie“.
Trotz seines frühen Erfolgs und hohen Popularität wollte er eines nicht sein – ein Star. Im DDR-Musikbetrieb blieb er mit seiner christlichen Anbindung der Obrigkeit zuweilen suspekt. Denn der „leise Rebell“ mischte sich zuweilen mehrdeutig mit kritischen Tönen ein und war auf Einladung ab und an im Rahmen von Evangelischen Kirchentagen im westlichen Ausland unterwegs.
Als erfolgreichster Liedermacher der DDR wurde er dennoch 1987 mit dem Kunstpreis und 1989 mit dem Nationalpreis geehrt.
Beim unerwarteten Aufbruch im Herbst 1989 brachte er sich neben anderen Künstlern aktiv in die Veränderungsprozesse ein. So sang er auf der legendären Großdemo am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz sein noch vor der Wende geschriebenes Lied: „Mit dem Gesicht zum Volke“, das sprichwörtlich zum Slogan dieser bewegten Tage wurde.
Die Nachwendejahre mit ihren massiven gesellschaftlichen Veränderungen gingen jedoch auch an der Liedermachergilde nicht spurlos vorbei. Er gehört zu den wenigen Künstler seiner Zunft, die sich bis heute ihr treues Publikum bewahren konnten. Mit Kreativität und Erfindungsreichtum entstanden immer wieder neuartige Projekte und Programme für Kinder und Erwachsene. Über 40 Schallplatten und CDs und zahlreiche Liederbücher sind so bis heute entstanden.
Sein unermüdliches Engagement für Kinder machten ihn zum UNICEF-Botschafter und viele Ehrungen wurden ihm für sein künstlerisches Schaffen zuteil. Eine Schule in Wolmirstedt (Sachsen-Anhalt) trägt seit 1993 seinen Namen.
2022 wird er uns mit alten und neuen Texten durch das Jahr begleiten. Und da er bereits im Januar Geburtstag feiert, beginnen wir mit (s-)einem Geburtstagslied, das inhaltlich an Aktualität nichts verloren hat.

Lieber Gerhard Schöne, wir senden an dieser Stelle alle guten Wünsche und hoffen, dass das kindliche Auge und Herz auch für künftige Lieder erhalten bleiben möge.

Sascha Graedtke,
im Namen der Redaktion

 

Biographische Notizen

• Jahrgang 1952, aufgewachsen in einem Pfarrhaus in Coswig b. Dresden
• Lehre als Korpusgürtler, Briefträger bei der Deutschen Post
• Mitarbeiter für Kinder- und Jugendarbeit in der Kirche, parallel Fernstudium an der Musikhochschule Dresden
• seit 1979 freischaffend als Liedermacher tätig
• 1987 Kunstpreis, 1989 Nationalpreis der DDR
• 1994 Verdienstorden des Landes Berlin
• Ernennung zum UNICEF-Botschafter
• 2002 Leo-Kestenberg-Medaille
• zweimaliger Träger des Preises der Deutschen Schallplattenkritik
• 1997 und 2003 Leopold-Preis des Verbandes deutscher Musikschulen
• 1996 Preis der Stiftung Bibel und Kultur im Bereich „Bibel und Liedermacher“.
• 2012 Deutscher Musikautorenpreis in der Kategorie „Text Kinderlied“
• 2016 Johann-Walter-Plakette des Sächsischen Musikrats
• ist in zweiter Ehe verheiratet, hat sechs Kinder und wohnt in Meißen b. Dresden

 

 

 

Mit Gerhard Schöne poetisch durch das Jahr

Radebeuler Miniaturen

Am Anfang war der Zorn

„Singe mir, Muse, den Zorn …“
Mit diesen Worten beginnt die Weltliteratur. Sie werden seit knapp dreitausend Jahren gelesen, stammen von Homer und meinten zunächst scheinbar nur „… den Zorn des Peliden Achilleus“. Doch es ist auch der Zorn der eingebildeten Götter, der hier besungen wird, der Zorn der Macht und der Mächtigen, wie es der Zorn der Hilflosen und Ausgestoßenen ist. Dennoch oder gerade deswegen sind diese Zornesworte bis heute unauslöschlich ins Gedächtnis Europas eingebrannt, wo der Zorn noch immer jeden einzelnen Menschen und die ganze Gesellschaft zerfrißt.
„Singe mir, Muse…“
Das ist keine heitere Frühstückslektüre. Der Fühlende spürt, daß hier ein menschliches Sosein beschrieben wird, das weit über die konkrete Situation hinausgeht und uns heute noch betrifft. Schon die Sprachgewalt vermag zu erschüttern. Und immer wieder gibt es Menschen, die sich ein Leben lang nicht mehr aus der Erzählung lösen können:
Gemäß einer selbst geprägten Legende war Heinrich Schliemann acht Jahre alt, als er sich vom Feuer der lebendigen Schilderung ergriffen fühlte. Es hatte „Jerrers Weltgeschichte für Kinder“ unterm Weihnachtsbaum gelegen. Der allein von der Wucht der Bilder beeindruckte Knabe war bald schon mit seinem Vater übereingekommen, er werde dereinst die Mauern des mächtigen Troia finden und ausgraben. Schliemann war und blieb von der historischen Wahrheit der Gesänge Homers überzeugt.
Ein paar Jahre später hat dann zunächst eine kaufmännische Lehre absolviert und im weltweiten Handel ein nicht geringes Vermögen erworben. Das spricht dafür, daß er dabei wenige Rücksichten nahm und sicher manchen Zorn auf sich lud. Er lernte sechzehn Sprachen sprechen, darunter natürlich altgriechisch. So konnte er „seinen“ Homer im Original lesen. Er heiratete in zweiter Ehe eine junge Griechin, ließ sich von dem Radebeuler Architekten Ernst Ziller in Athen ein Haus bauen und nutzte sein Geld, antike Stätten aufzusuchen und da und dort den Spaten anzusetzen.
Wie andere vor ihm lokalisierte er im Hügel Hissarlik in Kleinasien den Standort des antiken Troia und fand dort bei aufwändigen Grabungen neben anderen Sensationen den sogenannten „Schatz des Priamos“. Auf zumindest halblegalem Wege brachte er das Gold außer Landes – letztlich gelangten viele Stücke daraus nach Berlin. Seit 1945 befinden sie sich in Moskau und St. Petersburg: So wurden sie gleich in mehrfacher Hinsicht zur zornauslösenden Raubkunst. Der Streit darum dauert an. Ausgang? Offen? Kaum! – der Zorn wird bleiben.
Schliemann grub sich zu den Wurzeln der mykenischen Kultur der Bronzezeit. Indem er versuchte, historische und philologische Fragen „mit dem Spaten“ zu lösen, gehört er – bei mancher Fragwürdigkeit – unbestritten zu den Mitbegründern der modernen Archäologie. Er starb am 26. Dezember 1890.
Am 6. Januar 1822 – vor zweihundert Jahren also – war er im mecklenburgischen Neubuckow geboren worden.
Ernst Ziller hat dann auch das klassizistische Grab Schliemanns entworfen, das sein Bruder Paul in Radebeul Ost für Karl May in kleinerem Maßstab adaptiert hat.

Womit sich der Kreis schließt, sagt Ulrike. Und sie scheint ehrlich erstaunt: Du schaffst das immer wieder, meint sie, mit Zorn beginnend kommst du über Schliemann und Troia schließlich nach Radebeul – selbstredend, ohne Karl May zu vergessen.
Das ist gar nicht so verwunderlich, sage ich. Das „nachzillersche“ Radebeul kann einem schon manchmal die Zornesröte ins Gesicht treiben…
„Singe mir, Muse …“
Thomas Gerlach

(K)eine Glosse

Rumex acetosa
Es ist schon eine Weile her, als alle Schüler lateinische Vokabeln büffeln mussten. Auch dürften vermutlich die meisten von den heutigen Sprösslingen den Sauerlump, wie der Rumex acetosa in Sachsen gern genannt wird, kaum noch kennen beziehungsweise wissen, wie dieser schmeckt. In meiner Kindheit haben wir die Blätter des rotbraun blühenden Wildgemüses gern gegessen, welches reichlich auf der scheinbar herrenlosen Wiese in der Nähe des großelterlichen Hauses wuchs. Die Großmutter wusste, dass man sich damit dem Bauch nicht vollstopfen durfte, wenn man keinen Kreislaufkollaps provozieren wollte. Das waren jene Zeiten, als das Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Da – so könnte man schlussfolgern – hat man noch auf die Alten gehört. Erst später habe ich begriffen, dass die „gute alte Zeit“ auch nicht das „Gelbe vom Ei“ war, mal abgesehen davon, dass man sich heutzutage hüten sollte, von einer pestizidverseuchten Wiese überhaupt etwas zu essen.

Das Latein haben übrigens im frühen Mittelalter die Iren eingeschleppt. Wanderprediger zogen missionarisch durch die Lande und betrieben die Christianisierung Mitteleuropas nach ihrem Muster, besonders unter den Alemannen, die zum westgermanischen Kulturkreis um den Bodensee und den Schwarzwald gehörten. Schon in der beginnenden Neuzeit änderte sich langsam das Verhältnis zu dieser Sprache. Da wurde sie vorwiegend zum Privileg von Klerus und Gebildeten. Ohne Lateinkenntnisse hatte man damals keinen Zutritt zu den Universitäten. Im Wesentlichen zog sich das im deutschen Sprachraum bis 1945 hin, das Dritte Reich mal ausgeklammert. Heute brauchen nur noch wenige Menschen Kenntnisse in dieser Sprache. Der gravierende Einschnitt vollzog sich Ende der 1960er Jahre, als die vordergründige Nützlichkeitsdiskussion im Bildungswesen einzog, eingeschleppt aus den USA. Seitdem geht es nicht so sehr um die Herausbildung von Persönlichkeiten, als vielmehr darum, ob man den Lernstoff vordergründig gebrauchen kann, also etwa für das berufliche Fortkommen. Stimmt, als Bauarbeiter war mir Latein ziemlich schnuppe, aber als Mensch…? Ehrlich gestanden, darüber habe ich damals nicht nachgedacht.

Aktuell jedenfalls kommt Latein in den Schulen in der Hauptsache nur noch als Wahlfach in Form der 2. oder gar 3. Fremdsprache vor. Dennoch begründet das Kultusministerium die Bedeutung dieses Faches im Lehrplan Latein für die sächsischen Gymnasien unter anderem folgendermaßen: „Die aktive Auseinandersetzung mit Mythos, Philosophie und Geschichte vermittelt wesentliches europäisches Kulturwissen und Kritikfähigkeit.“ Gemessen am aktuellen Stand der letzten beiden Aspekte des vorrangegangenen Satzes, können im Freistaat bisher nicht allzu viele Lateinstunden auf dem Plan gestanden haben.

Überhaupt scheinen mir, dem nur halbgebildeten Handwerker, dass Zeit und Mensch völlig außer Rand und Band geraten zu sein. Da stößt es mir ziemlich sauer auf, wenn ich die durchsichtigen Sprüche der Verschwörungstheoretiker und Impfgegner vernehme oder das dilettantische Handeln der Verantwortungsträger im Land und den Gemeinden erlebe. Ein Blick in die zahlreichen sächsischen Amtsblätter der 2020er und 2021er Jahre zeigt augenscheinlich, was die mitunter hohlen Sprüche von Würdenträgern im täglichen Handeln wert sind. So kann man in diesen amtlichen Druckerzeugnissen neben den Corona-Verordnungen des Freistaates reihenweise Abbildungen finden, die Menschen in geschlossenen Räumen zeigen, die die geltenden Hygieneverordnungen missachten. Auch Oberbürgermeister machten da keine Ausnahme. In einem Amtsblatt einer größeren Stadt tauchen beispielsweise „Maskenbilder“ gar erst ab 2021 auf!

Nun mag ja das Unglück nicht erst mit dem offiziell verkündeten nationalen Notstand ausgebrochen sein, bei dem sich die Damen und Herren Staats- und Gemeindelenker letztlich nicht im Stande sahen, vernünftig zu handeln. Die Lernunfähigkeit breiter Schichten der Bevölkerung ist offensichtlich nicht nur für deutsche Lande sprichwörtlich. Damit soll aber keinesfalls einen Entschuldigungszettel geschrieben werden. Ganz und gar nicht! „Winzlinge“ wie Portugal oder Israel zeigen, dass man auch Unvorhergesehenes durchaus beherrschen kann. Freilich muss man da seine sieben Sinne zusammennehmen und nicht nur die. Rat von Fachkräften wäre hier dringend von Nöten. Den aber glaubte man bisher, ignorieren zu können. Mit welchem vernunftgesteuerten Argument will man eigentlich erklären, dass der „nationale Notstand“ gerade in dem Moment aufgehoben werden musste, als die Inzidenzzahlen in nie dagewesene schwindelerregende Höhen geschnellt sind?

Aber wie bereits angemerkt, reicht ein Blick in die Geschichte, um diese offensichtliche Unbelehrbarkeit zu erkennen. War schon die Barockzeit ein einziges Zeitalter der Kriege, wurde es danach auch nicht besser. Mal vom Hochgefühl in Deutschland um 1870/1871 abgesehen, gab es davor und danach am laufenden Band kleine und große Katastrophen. Die „Lenker der Nation“ aber wusste angeblich immer wo’s langging, egal ob es dem Volk danach sauer aufgestoßen ist. Heute wissen selbst die kleine Frau und der kleine Mann nicht mehr, was falsch oder richtig ist und reden wirres Zeug. Da greife ich doch lieber zum Rumex acetosa und gehe Boostern, auch wenn es mir danach sauer aufstoßen sollte,

meint Motzi

Ist das Kunst, oder kann das weg?

Keramische Rauchrohre in Radebeul

Wie man sie von der Straße aus sieht – Neue Str. 12 Foto: S. Graedtke

Einleitung
Man sieht sie fast nicht wenn man durch unsere Stadt spaziert. Man nimmt die Häuser meist als Ganzes wahr und achtet weniger auf ein eher unscheinbares Detail weit oben. Und es ist ein sehr spezielles Thema, ja eigentlich ein technisches Detail, das durch das Design, hier schmückende Blumenkränze, da räumliche, an eine Skulptur erinnernde keramische Gebilde, ein wenig an Kunst denken lässt, aber was man nicht als Kunst im engeren Sinn bezeichnen würde. Wenn ich zu diesem Thema eine Reise nach England unternommen hätte, würde ich bei der Gestaltung und auch bei der Anzahl und Wirkung der keramischen Rauchrohre schon eher von Kunst, bzw. Baukunst sprechen wollen. Denken wir nur an die Schlösser, Herrenhäuser und Cottages auf der Insel, die in der Dachlandschaft von vielen Schornsteinen mit phantastischen Aufsätzen bekrönt werden. Ein klein bisschen von diesem „sich in UK befinden“ kann man auch in Radebeul erleben. Dass es außer diesen keramischen Schornsteinaufsätzen um 1900 auch solche aus Metall, die von weitem einem Ritterhelm ähnelten, gab, sei hier nur am Rande vermerkt.

Gegenstand und Standorte
Bei meinen Streifzügen durch Radebeul konnte ich vier verschiedene Baugruppen dieser keramischen Schornsteinaufsätze unterscheiden, zum größten Teil noch am originalen Standort, also auf dem jeweiligen Schornstein, zum geringeren Teil als Sammelstück im Garten und da auch als ein Blumentopf im Sinne einer Zweitverwendung. Als Höhen dieser Rohre konnte ich 1,20 – 1,50m und als äußerer Durchmesser 150, 175 u. 200mm feststellen. Diese Keramikrohre wurden innen und außen mit brauner Glasur versehen und sind recht witterungsbeständig. Die Rohrdurchmesser passten jeweils genau in die damals üblichen, viereckigen Schornsteinabdeckplatten aus Sandstein mit rundem Loch.

Typ 1 Foto: D. Lohse

Typ 1 ein runder, oben und unten auskragender offener Keramikzylinder mit zwei floralen Ringgestaltungen. Dieser Typ kommt nur einmal in Radebeul vor, nämlich bei der ehem. Kegelbahn der Kolbe-Villa von 1891, Zinzendorfstr. 16.

Typ 2 Foto: D. Lohse

Typ 2 runder Keramikzylinder, oben mit zwei Wülsten, dazwischen leicht auskragende Stege im Wechsel mit Abzugsöffnungen und einem keramischen, an eine Kaffeekanne erinnernden, abnehmbaren Deckel. Wenn der Schornsteinfeger kommt, muss er erst den Deckel abnehmen, kehren und dann den Deckel wieder draufsetzen. Der Typ kommt mehrmals, z.T. mehrfach auf je einem Haus in Radebeul vor – Neue Str. 12 (erbaut 1862), Meißner Str. 289 (errichtet 1868), einmal in der Oberen Bergstr. 30 und in der Karlstr. 8.

Typ 3 Foto: D. Lohse

Typ 3 rundes Keramikrohr mit oberer Wulst, darunter vier seitlich abstehende, nach unten geneigte, kleinere Rohre als Zuluft, oben wohl offen (dieses Dach konnte ich nicht begehen). Den Typ fand ich dreimal auf den Schornsteinen der Villa Zinzendorfstraße 1 (erbaut 1880).

Typ 4 Foto: D. Lohse

Typ 4 auf einem runden Keramikrohr sitzt oben ein breiterer, sich nach oben verjüngender Kegelstumpf, der auf der Unterseite Lufteintrittsöffnungen hat und oben offen ist. Der Typ ist in Radebeul am häufigsten zu finden, nämlich an den Adressen Karlstr. 8 (errichtet 1872), Schumannstr. 25, Zinzendorfstr. 1, Borstr. 57, Kynastweg 26 und Altwahnsdorf 45. Ich war für baß überrascht, dass ich bei einem Ausflug zur Festung Königstein 5 oder 6 Rauchrohre vom Typ 4 über den Kasematten entdeckte, wobei mir schon klar war, dass dieselben nicht auf Radebeul beschränkt sein dürften.

Zweck der keramischen Schornsteinaufsätze
Derartige keramische Rohre wurden da auf normal hohe, gemauerte eckige Schornsteine mit rundem Schlot aufgesetzt, wo die Zughöhe (als Faustregel gilt mind. 4m über der Feuerungsöffnung eines Kachelofens oder einer anderen Feuerstätte bis Schornsteinkopf) nicht ausreichte. Das war meist da erforderlich, wo im DG ein Raum mit Ofenheizung vorhanden war. Ein zweiter Fall des Einsatzes eines keramischen Rauchrohrs bestand da, wo ein Haus zwei unterschiedlich hohen Gebäudeteile hatte und auch der niedrigere Gebäudeteil beheizt werden musste. Da setzte man dem Schornstein des niedrigeren Teils oft ein Keramikrohr auf wegen eines besseren Rauchabzugs. So konnten in manchen Fällen extrem hohe gemauerte Schornsteine auf Wohnhäusern vermieden werden.

Zeitliche Einordnung und Hersteller
Die keramischen Schornsteinaufsätze waren eine „Mode“ in der 2. Hälfte des 19. Jh., wie ein paar o.g. Beispiele belegen. Sie wurden aber z.T. noch bis in die Mitte des 20. Jh. hergestellt. Als Betriebe kommen ganz allgemein solche in Frage, die in größeren Mengen gemuffte Steinzeugrohre für erdverlegte Regen- und Abwasserleitungen produzierten, bzw. die sich in der Nähe von abbaubaren Tonvorkommen befinden – Ton ist der Hauptbestandteil der 4 Typen von Schornsteinaufsätzen. Mir ist es in 2 Fällen des Typ 2 gelungen, den Hersteller durch in den noch weichen Ton eigeprägte Schrift und Zahlen in Mittelsachsen ausfindig zu machen: „Baerensprung & Starke“, Frankenau bei Mittweida (heute eingemeindet nach Mittweida), 150 und 200 (äußerer Durchmesser in mm). Der Firmenname hatte sich, wie mir von der Stadtverwaltung Mittweida im August 2021 mitgeteilt wurde, zwischen 1852 und 1965 noch ein paar Mal geändert, Steinzeugrohre und Schornsteinaufsätze wurden aber immer hergestellt. Der Typ 4 zeigte in einem Fall auch eine vorm Brennprozeß eingefügte Kennzeichnung „F.C.E. 7“, die ich leider nicht auflösen und einem bestimmten Ort zuordnen konnte. Crienitz und Colditz kämen als weitere mögliche Herstellungsorte eventuell auch in Frage. Die Herstellung von Schornsteinaufsätzen in einem Meißner keramischen Betrieb (hier nicht die Manufaktur gemeint!) konnte mir durch das dortige Stadtmuseum nicht bestätigt werden.

Ausblick
Offenbar handelt es sich bei den keramischen Schornsteinaufsätzen um eine aussterbende Spezies, ganz grob vergleichbar mit Sauriern. Von den Aufsätzen muss es früher in Radebeul weit mehr auf unseren Dächern gegeben haben als ich 2021 mit Mühe noch finden konnte. In ein paar Fällen – Meißner Straße 289 und Neue Straße 12 – sehen die Eigentümer darin eine Besonderheit, die sie weiterhin erhalten möchten. Aber inzwischen gibt es modernere Heizsysteme, die andere Rauchableitungen haben. Insofern wird die Zahl dieser „Saurier“ wohl noch weiter abnehmen, was mir von den Fachleuten Herrn Schubert (Bezirksschornsteinfegemeister) und Herrn Zscherpe (Dachdeckermeister) – Dank dahin – so bestätigt wurde. Um die Frage aus der Überschrift aufzugreifen, ja, sie können weg, was mir schon etwas Leid täte. Da, wo ein privates Interesse am Erhalt dieser Relikte aus einer anderen Zeit besteht, werden wir sie noch eine Weile auf den Radebeuler Dächern sehen. Vielleicht wird sich aber die Zahl der Blumenschalen aus Steinzeug in den Vorgärten durch Abbau der Rohre von den Dächern noch vergrößern? Ich bedanke mich bei den Häusereigentümern, Frau Professor Pohlack, Herrn Doktor Krüger und Familie Kaltofen, die Verständnis für mein spezielles Interesse aufbrachten und mich näher an die Objekte herantreten ließen.

Dietrich Lohse

 

Wer war Oskar Ernst Bernhardt alias Abd-ru-shin? (2. Teil)

Repro B. Kazmirowski

Im Dezember-Heft hatte ich auf den Sachverhalt aufmerksam gemacht, dass vor genau 100 Jahren ein gewisser Oskar Ernst Bernhardt nach Kötzschenbroda gezogen war und für etwa drei Jahre, bis 1924, auf der Meißner Straße gewohnt hatte. Auf diesen Beitrag habe ich einige Rückmeldungen erhalten, wofür ich dankbar bin. Beispielsweise erhielt ich durch unsere Leserin Petra Schmalfeld einen Hinweis auf die mögliche Ursache für die mehrjährige Internierung Bernhardts auf der Isle of Man ab 1914. Darüber hinaus meldet sich auch Frank Andert bei mir und korrigierte meine Angaben zu Bernhardts früherem Wohnsitz. Tatsächlich wohnte er nämlich in einem kleinen Landhaus ungefähr dort, wo heute LIDL unter der Adresse Meißner Straße 252 einen Supermarkt betreibt. Insofern ist der Wikipedia-Eintrag mit dem Verweis auf die Meißner Straße 250 richtig. Überdies machte mich Frank Andert darauf aufmerksam, dass er bereits vor 10 Jahren als Teil 62 seiner Reihe „Kötzschenbrodaer Geschichten“ (digital abrufbar auf der Seite der Stadtapotheke Radebeul) über O.E. Bernhardt geschrieben hatte. Ihm gebührt also Anerkennung dafür, dass er sich lange vor mir aus heimatkundlichem Interesse heraus mit dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit befasst und dazu veröffentlicht hat.
O.E. Bernhardt hatte sich ab etwa 1925 „Abd-ru-shin“ genannt und in einer Publikation mit dem Titel „Gralsblätter“ seine Lehre verkündet, die seither als „Gralsbotschaft“ firmiert. Genau um diese soll es im vorliegenden Beitrag gehen, wobei ich nur einen sehr kleinen Teil vorstellen möchte und stellvertretend zwei Aspekte vertiefe, die im Hinblick auf die biblische Weihnachtsgeschichte von Belang sind. Abschließend sei noch gesagt, dass ich kein Theologe bin, weshalb ich mich Bewertungen jedweder Art enthalte. Sofern angebracht zitiere ich aus zwei fachwissenschaftlichen Publikationen i), die helfen können, die „Gralsbotschaft“ einzuordnen. Ansonsten beziehe ich mich vor allem auf Abd-ru-shins dreibändige Offenbarung „Im Lichte der Wahrheit .i i) Die Leserschaft möge sich also selbst ein Bild davon machen und Rückschlüsse ziehen.
Literarisch-kulturgeschichtlich bewanderte Leser kennen den Begriff des „Grals“. Schon im Mittelalter beschworen Dichter wie Wolfram von Eschenbach und Chrétien de Troyes in ihren Legenden die Existenz eines wundersamen Gefäßes, welches Jesus Christus nach neutestamentlicher Lesart beim letzten Abendmahl im Kreis seiner Jünger geleert hatte. Dieses Gefäß würde an einem geheimen Ort verwahrt und Fixpunkt einer Erlösungsvision sein, in deren Zentrum eine Gralsburg mit der Gralsritterschaft stünde (man denke hier vor allem an die Figur des Parzival). Insofern ist es wichtig zu betonen, dass die von Abd-ru-shin so benannte „Gralsbotschaft“ sich davon absetzt. Diese behauptet, dass jener Kelch, so es ihn gäbe, nicht der Heilige Gral sei, sondern der Gral ein ewiges Mysterium, etwas Nicht-Stoffliches sei und die Menschen keinen Zugang dazu hätten – es sei denn durch einen Boten, der, mit einer göttlichen Vollmacht ausgestattet, Zeugnis davon ablegen und die „Wahrheit“ verkünden könne. „Im Jahr 1929, offensichtlich am 29. Dezember, erlebte Bernhardt die Offenbarung seiner göttlichen Sendung.“ (Verscht-Biener/Reimer, S. 3). Fortan sah er sich als der „Menschensohn“, der in der Nachfolge des „Gottessohnes“ (also Jesus Christus) stünde. „Und da der gesandte Gottessohn und der nun kommende Menschensohn die alleinigen Bringer der ungetrübten Wahrheit sind, müssen beide naturgemäß auch untrennbar das Kreuz in sich tragen […] Träger der Wahrheit sein, Träger der Erlösung, die in der Wahrheit für die Menschen ruht“ (Abd-ru-shin, S. 150). Aus dieser Logik heraus ergibt sich auch die Tatsache, dass für seine Anhänger Abd-ru-shin der HERR ist und gottgleich verehrt wird: „Wer das Wort Gottes, so wie es in der Gralsbotschaft Im Lichte der Wahrheit geschrieben steht, in sich aufnimmt, wird Stufe um Stufe nach oben aufsteigen.“ ¹) Dieser Verehrung ist geschuldet, dass Abd-ru-shins/Oskar Ernst Bernhardts Todestag 6. Dezember ein besonderer Gedenktag für die Gralsanhänger ist. Vor allem aber wird der 29. Dezember als einer von drei großen Festtagen begangen, an dem Abd-ru-shin quasi aufhörte Oskar Ernst Bernhardt zu sein und seine Berufung als gottbegnadeter Künder der Gralsbotschaft empfangen haben soll: „Am 29. Dezember begehen wir das Fest des Strahlenden Sternes. Es steht in engem Zusammenhang mit der Geburt Jesu‘, die einst vom Erstrahlen des Bethlehemsternes begleitet war, und dessen Mission, die darin lag, der Menschheit in seiner Botschaft der Liebe die Wahrheit zu bringen. Wie einst durch die Geburt des Gottessohnes Jesus auf die Erde, so wird auch an diesem Tag ein Strahl der Gottesliebe gesendet, zur Hilfe für uns Menschen. Das Fest des Strahlenden Sternes wird daher auch das Fest der Rose genannt, weil diese das Symbol der Liebe ist.“²) Interessant ist auch die Tatsache, dass Bernhardts zweite Frau Maria, die ab 1921 für ca. drei Jahre seine Vermieterin in Kötzschenbroda gewesen war, zu einer wichtigen Figur des Kultes stilisiert wurde. Gemeinsam mit ihr und deren ältester Tochter Irmingard bildete Abd-ru-shin ein „göttliches Trigon“, weshalb auch Maria Bernhardts Geburtstag, der 19. Dezember, als ein Gedenktag begangen wird.
Nun befinden wir uns in diesen Tagen unmittelbar vor und nach Weihnachten in einer theologisch aufgeladenen Zeit, die unsere säkulare Gesellschaft beeinflusst wie keine andere im Kirchenjahr. Denn auch viele Nichtchristen kennen die Geschichte von der Geburt Jesu, wie sie im Lukasevangelium erzählt wird. Aber die Interpretation dieser Botschaft, wie wir uns also Zeugung, Menschwerdung und Geburt vorstellen, hängt zum einen stark davon ab, ob man bspw. Katholik, Protestant, Religionswissenschaftler oder gar Biologe ist, zum anderen, welche Haltung man ganz persönlich als Christ oder auch Atheist zu dieser Überlieferung einnimmt, denn sie berührt eine der umstrittensten Glaubensfragen. Bei vielen Christen besteht die tradierte Vorstellung von Jesus als Gottes Sohn, der ohne leibliche Zeugung entstanden ist („Jungfrauengeburt“). Abd-ru-shin wendet sich dagegen und schreibt: „Es sei Euch noch einmal gesagt, daß es unmöglich ist nach den Gesetzen in der Schöpfung, daß Erdenmenschenkörper je geboren werden können ohne vorherige grobstoffliche Zeugung […]“ (Abd-ru-shin, S. 66). Er begründet dies mit der Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung, die notwendigerweise eine Zeugung vor einer Geburt bedingt. Er fragt sich, warum Gott ausgerechnet bei der Sendung seines Sohnes gegen seine eigenen Schöpfungsgesetze hätte verstoßen sollen: „Denn Gott ohne Vollkommenheit wäre nicht Gott.“ (ebd.) Dennoch führt er aus, dass es „vollkommen richtig“ sei, von einer unbefleckten Empfängnis zu sprechen, denn man müsse sich den Vorgang vor allem als eine „geistige Empfängnis“ in einem Akt göttlicher Auserwählung „in der Mitte der Schwangerschaft“ denken (Abd-ru-shin, 351). Und weiter: „Daß Maria schon alle Gaben für ihre Mission mitbrachte, also vorgeburtlich dazu ausersehen war, die irdische Mutter des kommenden Wahrheitsbringers Jesus zu werden, ist bei einiger Kenntnis der geistigen Welt […] nicht schwer zu verstehen.“ (ebd.). Sehr interessant finde ich im weihnachtlichen Zusammenhang auch, dass Abd-ru-shin in einem seiner Vorträge („Weihnachten“) grundsätzlich darüber nachdenkt, welche Rolle den Hirten zukommt, denen der Überlieferung nach auf den Feldern der Engel erschienen war und die Frohbotschaft von der Geburt des Heilands verkündete hatte. Abd-ru-shin betont, dass nur wenige Auserwählte Zeugen der Geburt waren und schreibt: „Niemand sah und hörte als die wenigen der dazu auserwählten Hirten, die in ihrer Einfachheit und Naturverbundenheit am leichtesten dafür geöffnet werden konnten.“ (Abd-ru-shin, S. 715) Wie es im Neuen Testament heißt, machten sich die Hirten dann vom Stall in Bethlehem auf, um aller Welt von der Geburt des Kindes zu erzählen. Diesen Gedanken nimmt Abd-ru-shin auf und fragt sich, wie man in der Moderne mit Menschen umgeht, die schier Unglaubliches zu verkünden haben: „Damals glaubte man den Hirten, wenigstens für kurze Zeit. Heute werden derartige Menschen nur verlacht, für unbequem gehalten oder gar noch für Betrüger, welche irdisch Vorteile dadurch erreichen wollen, weil die Menschheit viel zu tief gesunken ist, um Rufe aus den lichten Höhen noch für echt nehmen zu können, namentlich, wenn sie sie selbst nicht hören und auch selbst nichts schauen können.“ (ebd.). Es liegt nahe, dass Abd-ru-shin damit indirekt auch sich und seine Wirkung auf die Menschen seiner Zeit meint. Denn bei allem Zulauf, den seine Bewegung ab den späten 1920ern aufgrund auch äußerer Umstände erfuhr – in einer Zeit der Wirtschaftskrise, der sozialen Instabilität, der zunehmenden politischen R9adikalisierung – so blieb seine Gralsbewegung dennoch auch auf lange Sicht eine Randerscheinung, was sicherlich daran lag, dass zentrale Aussagen quer zur katholischen und auch zur evangelischen Lehre stehen. Zusammenfassend zitiere ich wie folgt: „Sein Anspruch, der ‚Menschensohn‘ zu sein, fordert vornehmlich Christen heraus, für die dieser Hoheitstitel unlösbar mit Jesus Christus verknüpft ist. Ob Bernhardt als Gründer einer christlichen Religionsgemeinschaft oder Bewegung zu bezeichnen ist, wird umstritten bleiben. Elemente christlicher Tradition und christlichen Denkens sind in seiner Lehre zweifellos vorhanden. In ihren Grundaussagen ist sie jedoch […] nicht christlich.“ (Obst, 571).
Damit schließe ich meine Ausführungen ab. Eine Frage aber habe ich noch nicht beantwortet, ich hatte sie eingangs des Beitrages im letzten Heft gestellt: Wieso bin ich auf Oskar Ernst Bernhardt alias Abd-ru-shin ausgerechnet bei einer Radtour durch kleine Örtchen bei Salzburg gestoßen? Die Antwort: Mir fiel in Sighartstein, ein nur wenige Dutzend Häuser umfassender Ortsteil von Neumarkt/Wallersee, ein neugebautes Haus ins Auge, das ich bei früheren Aufenthalten in der Region noch nicht gesehen hatte, es schien mir eine Art Tempel zu sein. Am Grundstückseingang konnte man sich aus einem Kästchen ein Faltblatt entnehmen, das auf die Gralsbotschaft eines gewissen Abd-ru-shin hinwies. Und also nahm ich mir eines davon mit… und begann zu recherchieren.
Bertram Kazmirowski


¹) Paul Otte: Der Sinn des Lebens. S. 95. 2020
² https://gralsbewegung.net/andachten-und-gralsfeiern/

i) Helmut Obst: Apostel und Propheten der Neuzeit. S. 546-574. Halle/Saale 2000; Karin Verscht-Biener/Hans-Diether Reimer: „Die Gralsbewegung“. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Stuttgart 1991.
ii) Abd-ru-shin: Im Lichte der Wahrheit. Gralsbotschaft. Vomperberg. 2. Auflage 1960.

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