Gedenken an Tine Schulze – Gerlach

Am 11. Oktober verließ uns Tine Schulze – Gerlach.

Wir werden sie vermissen, ihre originellen Beiträge in der Runde. Wir erinnern uns an ihre Geschichten besonders in den Anfangsjahren von „Vorschau & Rückblick“ und an ihre vielfältige Unterstützung.

Ihr Kommen zu unseren jährlichen Mitgliederversammlungen war ihr immer ein Bedürfnis.

In den letzten Jahren wurde sie von uns abgeholt und wieder nach Hause gefahren – das war uns ein Bedürfnis. Nur dieses Frühjahr fehlte sie – und nun für immer.

Vielen Dank für alles

 

Im Namen des Vereins

Radebeuler Monatshefte e. V.
Vorschau & Rückblick

 

Ilona Rau

Ohne viel Herz, aber mit umso mehr Verstand

Zur Premiere von „Die drei Schwestern“ am 15./16. Oktober in den Landesbühnen

Drei Schwestern

Zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt in der Saison präsentierte das Schauspiel der Landesbühnen seine erste Inszenierung für den Großen Saal, der allerdings am zweiten Premierenabend beschämend dünn besucht war. Warum eigentlich? Tschechow ist einer der Dramatiker der Moderne, und seine Stücke, mögen es nun Die Möwe oder auch Der Kirschgarten oder eben wie jetzt in Radebeul Die drei Schwestern sein, thematisieren die Unzulänglichkeiten der menschlichen Existenz, gemessen an dem, was die Figuren an Träumen, Hoffnungen und Wünschen mit sich herumtragen. Auch 110 Jahre nach der Uraufführung birgt Die drei Schwestern also genug an dramatischer (Aussage-)Kraft, denn die Lebensleere der russischen Provinz, wie sie Olga (Julia Vincze), Mascha (Sandra Maria Huimann) und Irina (Dörte Dreger) schmerzlich spüren, übersetzt sich in die gefühlte Bedeutungs- und Perspektivlosigkeit der namenlosen Millionen im Europa des Jahres 2011, die der in jungen Jahren noch erträumten Lebensfülle nunmehr nur kraftlos nachdämmern, weil sie den Absprung aus der geistigen Einöde nicht geschafft haben. Der von Thomas Brasch in neuer Übersetzung vorgelegte Text bedient diese Suggestionen und wird um einige Assoziationen zur aktuellen politischen Situation angereichert. Insoweit der Inszenierung (Arne Retzlaff) also dieser rationale und sehr in das Jetzt hineinzielende Ansatz unterstellt werden kann, wird das Bühnenbild (Cornelia Just) auf mehrfache Weise plausibel: Der Bühnenvordergrund ist dauerhaft bedeckt mit welkem Laub, selbst im Mai, in dem das Stück einsetzt. Wer lebt wie die Figuren in Tschechows Stück, der lebt nur unter dem Vorbehalt des jederzeit möglichen Endes. Dazu gehört Armeearzt Tschebutykin (Jost Ingolf Kittel), der sich mit 60 Jahren um sein Leben trinkt und der die Berichte seiner belanglosen Lokalzeitung mit dem wirklichen Leben verwechselt. Dazu gehört Baron Tusenbach (Marc Schützenhofer spielt diesen sympathisch reflektierenden Charakter mit viel Feingefühl aus), dessen Liebe zu Irina unerwidert bleibt und der vom Nebenbuhler (David Müller in der Rolle des Soljony) im Duell erschossen wird. Dazu gehört schließlich Werschinin (Mario Grünewald verleiht der Figur schneidigen Pathos), dessen Frau sich mehrfach umzubringen versucht und der deshalb der attraktiven Mascha verfällt, ohne sie allerdings gewinnen zu können. Im Bühnenhintergrund grenzt sich ein überdimensionales, zwölffach abgeteiltes Regal ab, das den Figuren als individueller Rückzugsort dient. Jede(r) ist für sich allein in seinem kargen Geviert, vereinsamt in Gemeinschaft, weil man zu oft aneinander missversteht und mit sich selbst schon genug zu tun hat. Prototypisch dafür ist Lehrer Kulygin (Olaf Hörbe), Maschas Ehemann, der sich eine große Liebe zu seiner Frau vorgaukelt, weil es den Konventionen nach so sein muss. Der Rolle von Andrej (Tom Hantschel), dem Bruder der drei Schwestern, ist das größte Missverständnis aller Figuren eingeschrieben. Angetreten, um seiner kultivierten Erziehung mit einer Professur in Moskau – sowohl Geburts- als auch Sehnsuchtsort der vier Geschwister – die Krone aufzusetzen, endet er wegen Spielsucht schließlich hoch verschuldet als vertrottelter Angestellter der Landverwaltung, dessen Verantwortungsgefühl abgestumpft ist und an der Ferapont, Bote der Landverwaltung (Michael Heuser), scheitert. Bezeichnenderweise steht am Ende die flotte Lokalschönheit Natalja (Wiebke Adam-Schwarz) im Kreise der Zugezogenen und Soldaten als einzige Figur als Gewinnerin da, indem sie als Andrejs Ehefrau das Haus der Geschwister übernimmt und ein eisernes Regime führt. Das bekommt vor allem die Kinderfrau und Haushaltshilfe Anfissa (Anke Teickner) zu spüren, deren Daseinsberechtigung von Irina gegenüber Natalja mit Hinweis auf deren Menschsein verteidigt werden muss.

Vor der Folie der künstlerischen Gesamtkonzeption lässt sich ein großer Holzrahmen, der von Anfang bis Ende in unterschiedlicher Weise auf der Bühne platziert ist, als Ordnungskraft deuten, die den Figuren und den Zuschauern Sinnangebote macht. Wer lebt denn eigentlich „im Rahmen“ seiner geistigen und körperlichen Möglichkeiten, und wer ist längst „aus dem Rahmen gefallen“? Obwohl die Inszenierung also durch sinnstiftende Bühnendetails überzeugt, konnte sich meinem Eindruck nach die subtile, im Tschechowschen Text meisterhaft ausgeführte Desillusionierung der Figuren im Spiel selbst nicht überzeugend und vollständig entfalten. Diese Interpretation bediente meinen Intellekt, aber erreichte nicht mein Herz. Daran ändert auch eine traurigschöne Pierrot-Szene zum Ende des 2. Aktes nichts, in der Irina als Kontrapunkt zum flachen Karnevalsamüsement die Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben tanzt.

Laudationes

anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Großen Kreisstadt Radebeul an Gottfried Reinhardt und Helmut Raeder am 9. Oktober 2011 auf Schloss Wackerbarth

von Prof. Helmuth Heinze

In Vorfreude auf diesen Tag der Verleihung des Kunstpreises der Großen Kreisstadt Radebeul an Gottfried Reinhardt habe ich mehrere Reden entworfen, um das Werk und Wirken des Preisträgers zu würdigen, habe sie dann alle verworfen. Es war mir alles zu aufgezählt, zu trocken, zu richtig – ja nichts zu vergessen – an alles zu denken. Zu lang sollte die Rede auch nicht werden.

Kunstpreis 2011: Helmut Raeder (l) und Gottfried Reinhardt (r)

Wir haben uns aber auch am Ende des vergangenen Jahres über die große Wertschätzung und Anerkennung, die Gottfried Reinhardt bei den Künstlern in Radebeul gefunden hat, sehr gefreut. Sie alle haben sich sehr gut erinnert, dass Gottfried Reinhardt über Jahrzehnte in Radebeuler Ateliers, in Privathäusern, in Gärten und Wohnungen, in Kirchgemeinden, im Schloss Hoflößnitz und in der Stadtgalerie seine Puppentheaterstücke aufgeführt hat. Er hat durch seine Aufführungen in den Ateliers der Künstler, bei Ausstellungseröffnungen, bei Geburtstagen und Feiern zur Kultur der Stadt beigetragen.

An drei Stationen – eigentlich sind es drei Jahreszahlen – möchte ich versuchen, das Werk und Wirken des Preisträgers zu würdigen.

Die erste Station – 1972: Am 30.Dezember 1972 hatte Gottfried Reinhardts Puppentheater in der Schinkelwache am Theaterplatz in Dresden Premiere. Publikum waren seine Freunde aus dem Architekturstudium. Gottfried Reinhardt hatte von 1953 bis 1961 an der TU Dresden Architektur studiert, aber es zog ihn nach dem Studium zum Theater und zur Malerei.
Obwohl er auch „Menschentheater“ – wie er es nannte – besonders mit dem Choreografen Manfred Schnelle in Rostock entworfen und ausgeführt hat, ist er durch sein eigenes Puppentheater und seinen eigenen Stücken weithin bekannt geworden. Seine Freunde aus dem Studium haben ihn nach der Premiere in der Schinkelwache seiner ersten beiden Stücke „Die Hochzeit im Spreewald“ und „Don Giovanni“ ermutigt, weiterhin zu spielen. Neben Peter Albert und Dieter Schölzel waren Karl-Heinz Georgi und Manfred Wagner bei der denkwürdigen Premiere mit dabei. Der Erfolg war groß: „Wir haben es weiter gesagt“, so erzählte Dieter Schölzel, „und im Lauf der Zeit sind es Hunderte, wenn nicht Tausende geworden, die Dein Spiel erlebt haben, zu denen Du mit deinem Theater – anfangs auf dem Buckel tragend – gezogen bist …“. Bereits bei dieser ersten Premiere hatte Gottfried Reinhardt sein zusammenlegbares Wandertheater aus Stäben und Stoffen. Es geht leicht aufzubauen, leicht wieder abzubauen und wieder fortzutragen.

Die Stücke hat er selbst geschrieben, die Puppen selbst gestaltet, die Bilder selbst gemalt, seine Stücke auch selbst inszeniert und alle Puppen geführt und gesprochen. Er spielte auf private Einladung in jeder Wohnung, in jedem Raum mit der Mindesthöhe 2,65 m. Er verlangte keinen Eintritt, kein Honorar, meist ging der Hut herum. Sein Spiel mit den Stücken, seinen Puppen, dem leicht gebauten Theater war in Farbe und Form ein Gesamtkunstwerk.

Er hat mit einfachen Mitteln große Wirkungen erzielt. Die Tiefe seiner Gedanken und die Leichtigkeit des Spiels machten sein Puppentheater besonders und einmalig. In den frühen griechischen Stücken haben wir diese heitere Dramatik, die nur das Theater mit Puppen möglich macht, begeistert erlebt.

Ein Beispiel: der Beginn des „König Ödipus“

Ödipus: „Ich habe einen rechten und einen linken geschwollenen Fuß
und heiße deshalb Ödipus – der geschwollene Fuß.
Ich gebe euch bekannt, dass nach mir den Ödipus-Komplex benannt;
für solche, die den Vater töten oder hassen,
um sich intensiv mit Mutti befassen.
Weil man mir dies prophezeite,
gehe ich von zu Hause in das Weite.
Will Vater und Mutter nie mehr seh’n,
um mich an ihnen zu vergeh’n.
Heiter bin ich, guter Dinge,
zieh‘ mich hinkend aus des Schicksals Schlinge.“
Kasper: „Ist auch das Wetter nicht heiter,
die Sonne scheint über den Wolken weiter.“

Er hat uns die Antike wieder nahe gebracht.

Die zweite Station: 2008: Am 13. Juni fand in der Stadtgalerie in Radebeul-Altkötzschenbroda die Buchpremiere von Gottfried Reinhardts Buch „Puppentheaterstücke“ statt. Der NOTschriftenverlag mit seinem Leiter Jens Kuhbandner und der Herausgeber Uwe Arnold hatten sich zu einer Gesamtausgabe aller 16 geschriebenen und gespielten Stücke entschlossen. „Ein Buch, ein wunderschönes Buch ist erschienen“ schrieb Undine Materni in der Sächsischen Zeitung „das Puppentheaterstücke in drei Abteilungen versammelt: die Antike, das Theater, die freien Erfindungen, ergänzt durch Faksimiles von Zeichnungen, Theaterzetteln und Notizen. Trotz der fast 500 Seiten liegt es leicht in der Hand.“

Paul Kaiser nannte ihn 1997 in einem Aufsatz im Katalog der Ausstellung „ Bohème und Diktatur in der DDR“ in Berlin „… eine lebende Legende in der ostdeutschen Subkultur.“ Seine Stücke handeln von Macht und Ohnmacht, von Maß und Anmaßung, von Freiheit und Unfreiheit und waren eine Form des subversiven Widerstandes in der DDR.
Vielleicht noch eine Anmerkung: Vom Dezember 1972 bis Juni 2008, das sind knapp 35 Jahre, hatte Gottfried Reinhardt fast über 2000 Auftritte. Bei jedem Auftritt hatte er nicht nur das Stück zu spielen, die Puppen zu führen, die Rollen zu sprechen, sondern auch das Theater zuerst aufzubauen, dann wieder abzubauen und wieder in zu verpacken. Eine große körperliche und geistige Leistung. Er hatte kein festes Haus, er war überall zu Hause, wo man seine Stücke und sein Spiel liebte.

Die dritte Station – 1987: Gottfried Reinhardt nahm zwei kleine verwilderte Katzen mit aus dem Keller der Russisch-Orthodoxen Kirche in Dresden. Die beiden kleinen Katzen nannte er „Iphigenie“ und „Medea“. Es kamen im Laufe der Jahre noch viele Katzen in sein altes Bauernhaus. Der „Iphigenie“ hat er sogar das gleichnamige Puppentheaterstück gewidmet. Seit dieser Zeit sind „Katzenportraits auf alten Brettern“ entstanden. Carla und Friedrich-Wilhelm Junge gaben Carsten Nüssler 2003 ein schmales Bändchen über diese Katzenporträts mit dem Titel „Medea“ und einem Text von Gottfried Reinhardt heraus.

Einige Worte zum Maler und Grafiker Gottfried Reinhardt:

Während seines Architekturstudiums hatte er bei Prof. Nerlich als Wahlfach Technik des Holzschnitts belegt und hatte Unterricht im Malen und Zeichnen bei Otto Westpfahl genommen, der Schüler von Carl Bantzer war und die „Frei-Luft-Malerei“ lehrte. Im Gebergrund bei Goppeln malten sie im Freien. Gottfried Reinhardt hat viel an der Luft, im Freien gemalt und gezeichnet, die Holzschnitte sind dann im Haus entstanden. Seine Landschaften sind offen und locker, ohne feste Konturen. Auch seine Holzschnitte sind fast fließend, ohne flächenhafte Festigkeit. Anders bei seinen Katzenporträts auf alten Brettern. Sie haben Begrenzung und Umriss.

„Mitunter ist eine gewisse Ähnlichkeit mit Ikonen nicht zu vermeiden“, schrieb er in seinem Text. „Manche Katzen auf den Kuchenbrettern leben schon nicht mehr. Ihr Bild soll sie mir wieder nahe bringen.“ Ikonen, so hat er mir erklärt, blicken zu uns, wie aus einer höheren Welt.“

Vielleicht muss ich hier erklären, dass Gottfried Reinhardt Protodiakon der Russisch-Orthodoxen Kirche in Dresden ist und seit seinem Eintritt 1972 in diese Kirche jeden Sonnabend und Sonntag sowie an den Feiertagen des Kirchenjahres gedient hat, zuletzt meist im Ornat gelesen und zelebriert.

Die Tierliebe, die Menschenliebe, die Liebe zur Landschaft, die Weisheit und die Religion hat er in besonderer Weise in seine Kunst mit einbezogen, sei es nun in seinem Puppentheater, in seiner Malerei, in seinen Holzschnitten und in seinen Katzenporträts. Er weiß von den Zusammenhängen frühchristlicher Bildwerke und antiker Kunst.
Apollo, der Gott der Künste und Wissenschaften, olympischer Gott der Weissagungen spricht im Stück „Iphigenie“ von Gottfried Reinhardt:

„Ich mag die Menschen nicht schuldig sprechen,
ich kenne sie und achte ihre Schwächen.
Schwächen sind ehrlich
Stärken oft gefährlich.“

Gottfried Reinhardt hat oft im Gespräch geäußert, sein wichtigster Satz ist aus der „Antigone“ von Sophokles:

„Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da.“

 

Laudatio für Helmut Raeder

von Heiki Ikkola

Ihr naht Euch wieder, wankende Gestalten,
Die übers Jahr im trüben Nirgendwo geweilt!
Willkommen, Freaks, Poetenpack, ihr Durchgeknallten,
Die Ihr mit schönem Wahnsinn jeden Kummer heilt!

Die Zelte stehn, die Buden sind gezimmert.
Es riecht nach Glückshormonen, Rindenmulch und Schweiß.
Die Bühne knarkst, die Violine wimmert,

Der Prinzipal hält lachend sich den Steiß.

Ein jedes Nachtgewächs kann hier gedeihen.
Ein jeder staunt und feiert, was er kann.
Und weißbehemdet winden sich die Reihen:
Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!

Hinaus ins Weite unsrer drastisch schönen Eingeweide!
Es rast die Lust durch Herz, Blut, Nerven und Verstand.
Wir tanzen auf des Messers Schneide
Bis an des Lichtermeeres zwielichtigen Rand.

Ich gratuliere der Großen Kreisstadt Radebeul zu der Entscheidung, ihren Kunstpreis 2011 dem Künstler und Menschen Helmut Raeder zu verleihen.

Wenn es zu beschreiben gilt, was Helmut Raeder von Jahr zu Jahr immer wieder neu auf die Beine stellt, was er mit zahllosen Mitstreitern zimmert, zaubert, zelebriert, dann werden Zeitungsredakteure und Programmheftschreiber zu romantischen Dichtern und verschlossene Griesgrame zu freundlichen Fantasten:

Kunstpreis 2011: OB Bert Wendsche (l) und Helmut Raeder (r)

Straßenzirkus-Direktor, Impresario, Zeremonienmeister, Festivalmacher, schelmischer Frühling – all das ist Helmut Raeder. Jazz-Veranstaltungen in Senftenberg, Weinfeste, Kinderjahrmarkt und das erste Straßentheaterfestival der DDR in Meißen, Spieltour Dresden, Zirkus Luft, Feste im Eselnest, Walpurgisnacht, Straßenfasching, natürlich die Radebeuler Feste: das Karl-May-Fest, das Herbst- und Weinfest, Lichterglanz und Budenzauber, und nicht zu vergessen: der Scheune-Schaubuden-Sommer in Dresden – all das und viel mehr ist Helmut Raeder. Er würde sich sicher dagegen verwahren, all diese Projekte und Feste nur als seine Kreationen zu bezeichnen, was wären sie schließlich ohne all die Vertrauten und Wegbegleiter, Künstler, Musiker, Wolkenschieber? Aber mal ehrlich: was wären Dresden und Radebeul ohne Helmut Raeder?

Seine Kunst ist die große Kunst des Feste-Feierns, vielleicht eine völlig verkannte Kunst. Wie ein Maler Farben auf die Leinwand bringt, ein Regisseur Visionen in Szene setzt und das Bühnengeschehen arrangiert, so versteht es Helmut Raeder, Menschen verschiedenster Kulturen, Gesellschaftsschichten und Berufe zu vereinen, um seine großen und kleinen Kunstfeste lebendig werden zu lassen. Da vereinen sich Visionen, die seit Jahren in seinem Herzen wachsen, mit überraschenden Einfällen zu Augenblicken gelebter Kreativität. Helmut Raeder bringt Künstler zusammen, die sich vielleicht nie getroffen hätten und braut so den Sud für einzigartige Mischungen großen sinnlichen Kunstgenusses.

Er ist ein Mann ohne Berührungsängste, seine Bodenständigkeit ist ebenso beneidenswert wie seine himmelfliegenden Ideen. Zwischen Hochkultur und Volksfest zieht er keine Grenzen, eine Kunst nur für Eliten, das wäre ihm fremd und weiß um den prickelnden Zündstoff, den er da legt.

Gilt es, Musiker zu finden, die die Grenzen des Gewohnten überschreiten, die mit einem Tross von Künstlern durch die Stadt ziehen oder endlos musizieren, um ein Fest im Rausch der Nacht zu zertanzen, dann findet er sie oft in der Nähe seiner Wohnung am Altmarkt: Straßenmusiker aus aller Herren Länder, oft sind es Zigeuner, zu denen Helmut ein ganz besonderes Verhältnis hegt.

Faszinierend, fremd sind sie, nicht immer zu verstehen.

Helmuts Feste sind oft geprägt von diesem besonderen Verhältnis, sind wie ein Kusturica-Film, der ohne Kamera und Leinwand auskommt, weil wir mittendrin sind! Helmut kommuniziert mit Künstlern aus aller Welt, auch wenn er keine Fremdsprache spricht. Wie macht er das? – Das erstaunt mich immer wieder. Er versteht und wird verstanden.Hat er im Vorfeld des Karl-May-Festes mit dem Gast einen nordamerikanischen Indianerstammes einige Stunden in der Schwitzhütte verbracht, ist die Verbindung besiegelt und es bedarf nur noch weniger Worte. Eine weitere erstaunliche Fähigkeit Helmuts ist es, zu wissen, wo braucht es Entscheidungen, Rahmenbedingungen, wo muss radikal und ungewöhnlich aufwändig vorbereitet werden? Und wann ist es Zeit, sich zurück zu ziehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, damit sie sich entfalten.

Ich habe viel von ihm gelernt, die Arbeit mit ihm war für mich stets beglückend und im wörtlichen Sinn ein Lebenselixier.

Und zum Schluss:

Ein Mann sitzt unterhalb von Altkötzschenbroda auf dem Deich, während im Zelt alles ausgelassen tanzt und das gelungene Fest feiert, sitzt dieser Mann mit Hut still, schweigend einfach da, keiner vermag zu sagen, was er denkt. Er blickt auf die verlassene Wiese, die letzten Reste schwelenden Holzes, die Feuerwehrleute drehen eine letzte Runde und bemerken den Mann gar nicht – es ist Helmut Raeder – so wie in nur wenige kennen. Ein Künstler nach getaner Arbeit. Irgendwie leer und doch angefüllt. Fragend, zufrieden, nachdenklich, einfach nur schauend – wer vermag das zu sagen?

Lieber Helmut, du bist kein Künstler im Elfenbeinturm.

Dein Turm ist vielleicht ein Hochsitz aus rostigen Gerüststangen und Treibholz, auf dem du sitzt, wenn eines deiner Feste in vollem Gange ist, freust dich an dem Treiben und lachst mit deinem unverkennbar donnerndem Lachen – ein Dionysos an der Elbe, den nächsten Streich schon im Kopf.

Im Hintergrund singt jemand das Lied vom Mädchen mit den schwarzen Augen …

„Tschüß, ihr alle!“ –

Die Schriftstellerin Tine Schulze-Gerlach ist 91-jährig verstorben

Eine Ahnung davon verspürte sie wohl schon seit langem. Doch diese Ahnung war niemals von Trübsinn, Schrecken oder gar Tränen begleitet. Für die Radebeuler Schriftstellerin Tine Schulze Gerlach hatte der Tod nie ein schwarz verhülltes Gesicht und er verbreitete auch keine Furcht erregende Aura. Ganz im Gegenteil. Sie glaubte an die Erlösung durch ihn. Am 11. Oktober 2011 nun hat er sie schließlich aus einem langen, wunderbar aufregenden und vor allem großartigen Leben mitgenommen auf die andere Seite. Denn so hat Tine Schulze Gerlach sich selbst und ihr irdisches Dasein immer gesehen. Als ein wunderbarer Moment in der Ewigkeit des Planeten Erde.
Ihren 90. Geburtstag im April 2010 hat sie noch im Kreise ihrer Kinder, deren Ehemännern und Ehefrauen und deren wiederum zahlreichen Kindern – ergo ihren Enkeln – gefeiert. Es passte zu ihr, dass sie in einem Frühlingsmonat geboren wurde. Niemand freute sich wohl in jedem Jahr so sehr auf den Frühling wie sie. Denn dann konnte sie endlich wieder aus ihrer Wohnung in den Garten hinaus. Konnte dort sitzen und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen genießen.
Vier Kindern hat sie das Leben geschenkt, den Mann hat sie sehr zeitig verloren. Von Hellerau im Dresdner Norden zog sie um nach Radebeul. Das war um 1960 herum, das Jahr, in dem auch ihr erster Roman entstand. In die Lößnitzstadt brachte sie sich ein mit all der Kraft, die dieser kleinen Frau zur Verfügung stand. So lange wie möglich und so intensiv wie nötig. Und das Bücherschreiben wurde ihr Passion und schließlich Profession. Da war kaum jemand hierzulande, der mit der „Bürgschaft für ein Jahr“ nichts anzufangen wusste. Von ihren insgesamt 15 veröffentlichten Büchern sollte dieses Buch das wohl populärste werden. Eines, das gar sehr mit gutem Erfolg verfilmt wurde.
Als 1990 aus der deutschen Zwei- die Einstaatlichkeit wurde, machte Tine Schulze Gerlach sich auf nach Helgoland. Einmal wenigstens wollte sie auf dieser sturmumtosten Klippe stehen. Und auch von diesem Erlebnis kündet später ein Buch.
Vor mehr als zehn Jahren rezensierte ich in den hiesigen Zeitungen ihr Büchlein „Elbe, mein Fluß“ dass von Gitta Kettner meisterhaft illustriert worden war. In dem Buch beschrieb Tine Schulze-Gerlach in ihrer so typischen luftig leichten und dennoch so tiefgründig analysierenden Sprache eine Schiffsreise auf der Elbe. Beim Grenzübertritt flussaufwärts ins Tschechische hinüber sinniert sie über die dortigen Mädchennamen und dabei fällt ihr natürlich die Rusalka ein. Und dazu wiederum die Textzeile „Oh Mond erlisch mir nicht“ Auf einer Karte dankte sie mir damals für die Besprechung und fügte dann noch den Satz hinzu „Jetzt brauche ich nur noch einen ähnlichen Nachruf eines Tages…wenn es soweit ist“ Nun ist es tatsächlich soweit, Tine Schulze Gerlach hat sich aus dem Leben verabschiedet. Still und leise; so wie sie dieses Leben 91 Jahre lang still und leise gelebt hat. Sie wird nicht nur ihrer Familie, sie wird auch den Radebeulern fehlen.
In ihren „Abschiedskrümeln“ – einem Lyrikband aus dem Jahre 2001 – findet man ein Gedicht mit dem Titel „Lustig“. Das endet mit den Worten “…lachen tut so gut, auf wessen Kosten auch immer“ Und ganz unten drunter hat Tine Schulz Gerlach noch geschrieben „Tschüß, ihr alle!“ Bleibt uns allen nur zu antworten „Tschüß, du auch!“

Tinechens Weg

Am 11. Oktober 2011 hat die Schriftstellerin Tine Schulze Gerlach die Augen für immer geschlossen. Sie war Gründungsmitglied auch unseres Vereines – wir  gedenken Ihrer gemeinsam mit allen, die sie kannten.

von Thomas Gerlach

Rückt zusammen, hast Du gesagt, seid fröhlich, singt und trinkt euch einen! Hast dabei an Tim Finnegan gedacht, und wie ihn seine Freunde trugen durch die Nacht, den irischen Maurer, von Kneipe zu Kneipe, bis endlich der Whiskey durchn Sargdeckel troff – lot of fun at Finnegan’s wake.

Tienchen

Und im Fortgang, so beim Wortklang und beim Glaskling, das im Raum hing lauschst Du dem Singsang im Stimmfang vieltausendmal; und millionenfach hättst dem tausendschönen Leben Du in die Saiten gegriffen und in die Seiten, die prallen Lebensseiten wie Anna Livia Plurabelle, die vielschöne Schönviele, wäre da die Pflicht nicht gewesen, die Kinder, der Mann, die Pflicht, die Dir, wie Du nicht müde wurdest zu behaupten, Bedürfnis war, ganz leicht von der Hand ging, gar nicht der Rede wert, selbstverständliche Selbstverständlichkeit, bis Dir viel später und wie nebenher der Halbsatz entglitt: ich war doch immer nur … die Pflicht also und die Leute, Leute, Leute …
Trinkt euch einen!

Die Mahnung nehmen wir ernst. Keine so gern wie diese. Mit einem fruchtigen Kötzschber zuerst. Reden dabei. Rücken zusammen. Dein erstes Gedicht fällt uns ein, Du hast nur noch erzählt davon, wie Dus beim Anstehn nach Kartoffeln formuliert hast, und daß es von jenem Holderbusch erzählt, von dem Du husch husch husch übern Zaun Dolden gemaust hast und Deinen Kindern dann endlich mal was kochen konntest, das auch schmeckte zu dieser Zeit. Da war der Krieg gerade aus, wir wissen das alle nicht mehr, aber Du hast es gewußt bis zuletzt, wie ihr es alle gewußt habt, Du warst fünfundzwanzig und für zwei Kinder zuständig, die auch nur Hunger hatten in der schweren Zeit, von der heute keiner mehr was wissen will, weil niemand bereit ist, aus Gewesenem zu lernen. Krieg also, von Lebensjahr neunzehn bis Lebensjahr fünfundzwanzig – schön ist die Jugend, sie kehrt niemals wieder. Merkt Euch das, die Ihr heute freiwillig …

Zwei Kinder also, wie gesagt, und der Mann irgendwo und der kleine Bruder in Buchenwald, dort gehen wir ihn suchen bald – darfst nicht suchen, darfst nicht finden, mußt es still für Dich verwinden und vor allem Schnauze halten, bevor andre Mächte walten – Jugend also, aber der Holderbusch hat Dich so beflügelt, daß Du Dein erstes Gedicht …
Trinkt euch einen!

Später – wir sind schon beim Traminer miner miner – reden wir über die heile Welt, wie du sie Dir geschrieben hast und Deinen Lesern; hast den Nerv der Zeit getroffen und die brave Leserschaft ganz so wie mit Rebensaft und natürlich viel Geduld so gewaltig eingelullt, daß keiner gemerkt hat, was Du ihnen eigentlich zugemutet hast: läßt lachend den Ehemann, Deinen Schlumski, zu seiner Liebsten ziehn, der Euch noch eine Schüssel Apfelmus hingestellt hat, daß Ihr ihn nicht vergeßt während er sich selbst vergißt – Apfelmus, so heiter kann die Welt sein, lot of fun at finnegan’s wake, und wer spürte, wer ahnte, was da stand, überblätterts rasch, blätterts rasch, damit das Rascheln den Schreck übertönt: aber nein doch! Und liest im Paradiesischen weiter. Ihr müßt unbedingst den Whiskey probieren!
Trinkt euch einen!

Irgendwann, ziemlich spät erst, hat jemand diesen ganz anderen Satz von Dir gehört: Im Grunde war ich immer allein.

Das späte Bekenntnis überrascht und erschreckt: hattst Dich so schön hinterm Lächeln versteckt, wolltest die Wahrheit nur tröpfchenweis sagen, wußtest, daß wir sie im Wein nur vertragen und die wässrige Lösung auf morgen vertagen …
Und Anna sagt in die Stille hinein, aber wir sind doch im Grunde alle allein –
Was schon niemand mehr hört überm Ruf nachm Wein …
Trinkt euch einen!

Lehrt die Gläser Zug um Zug – nicht umsonst ist Dein Schlumski bei der Reichsbahn gewesen – ja, und dann kam irgendwann der Um-Zug, da waren dann schon vier Kinder zu versorgen, denn der Mann war doch noch heim gekommen, der Umzug also ins mütterliche Erbe: aus der Großstadt raus ins Lößnitzhaus. Da ist Heimat entstanden unterm Wasserturm, den Du Gaston genannt hast, weil es Franzosen waren, die ihn gebaut hatten, Dir aber hat der Turm so manche Parisreise ersetzt, wenn Du ihn anschaun konntest aufm Weg zum Briefkasten.

Vier Kinder also nun: Ihr seid ja zu Hause auch vier Geschwister gewesen. Du warst die älteste und bist es geblieben bis zuletzt. Und wie als zweite Deine Schwester geboren wird, sagt Dein Vater zu Deiner Mutter, von Dir krieg ich ja gar keine Kinder … Welch ein Stern, auf dem wir gern glücklich wärn …
Trinkt euch einen!

Dein Fenster im neuen alten Haus ist das Küchenfenster. Es hat den schönsten Blick in den immergrünen Lößnitzgarten hinaus. Zuerst wars ja ein Nachkriegs-Nutzgarten, der alles hergab, was das Herz begehrte, wenn es denn nach Erdbeeren schrie, das Herz, nach Bohnen, Gurken, Möhren, Kirschen, Birnen und ein paar Blumen natürlich und vor allem Grün grün grün. Im kleinen Zimmer nebenan  Dein Schreibtisch. Und das Fenster daneben zeigt ein gleich schönes Bild wie das aus der Küche. Hier hast Du Dein Leben in die Tasten geklappert, hast nachgeformt, was Dein Völkchen so plappert und hast immer wieder aufgeblickt und hinaus geschaut. Das Fenster stand offen alle Zeit. Denn oben, der Himmel, der war so weit, und Du warst hier unten so klein, so klein – sollte das alles gewesen sein? Du schaust aus dem Fenster als dächtest Du eben – laßt mir doch mein scheiß bissel Leben.
Trinkt euch einen!

Im stets offenen Fenster ein steter Schimmer, die offene Kerze im Fenster brannte fast immer. Sie machte Deine Dunkelheit so besonders, wenn der Himmel die Erde bewegte und der Wind in die Fichte fegte und von dort in den alten Nußbaum sprang, wo ständig irgendein Vogel sang – war es die Nachtigall, die Lärche? – Hast viele Sommer lang unter ihnen gesessen im Dreigesträuch, wo Dein Stuhl noch steht und das eiserne Tischchen und der Korb mit dem Schreibzeug und dem Telefon und dem Flachmann, den nun wirklich nicht jeder sehen sollte. Manchen lieben Abend haben wird dort aufn Vollmond gewartet, ich hol schon mal die Gläser, was trinken wir denn – riefst es, wenn der Besucher den Weg runter kam vom Tore her, Freude klang aus den Worten, warme herzliche Freude, doch wars immer nur ein Gast und nie der Ertäumte, denn Du hattest sie noch, die Träume der Jugend –
Trinkt euch einen!

Bücher, Bücher, Bücher. Dazwischen Dein Leben. Gelesene, geschriebene, gewesene, gebliebene, gebliebene, geliebene – der scheußliche Joyce, der joycliche Scheuß, der arnosche Schmidt, die Bruns gleich selbdritt – Du aber warst die erste und einzige, die den Jesus von Saramago nicht nur gelesen sondern auch geliebt hat: zu Tränen begeistert ob der Sprachkraft, die uns bei allem doch verwehrt geblieben. Stets war die neuste Literatur zu finden bei Dir, wo sonst, und ganz schnell voll von Zeitungsschnipseln und Notizen. Ein Esel, wer sich verzettelt? Nein! Sie gehören in Sommernachtsträume hinein! Anna Livia Plurabelle, lies mal das noch auf die Schnelle!
Trinkt euch einen!

Rückt zusammen, hast Du gesagt, seid fröhlich, singt und trinkt euch einen –
Und was hast Du noch gesagt?

Tschüß, Ihr alle!

Die Antwort folgt Dir nach, vieltausendfach!

Editorial Novemberheft

850 Jahre Weinbau in Sachsen! Ein Jahr großer Feste und Feierlichkeiten geht seinem Ende entgegen. Während die Anfänge der ersten Rebpflanzungen im Elbtal weitgehend im Dunkeln liegen, so lassen spätere Quellen und Artefakte erahnen, wie stilprägend die Rebkultur auf dieses Stückchen Elbtal schon lange wirkt. Es ist heute kaum vorstellbar, welches Bild unsere Heimatstadt noch vor zwei Jahrhunderten bot. Wo sich villenbestückte Parzellierungen auf gerastertem Straßennetz reihen, waren einst ausgedehnte Weinfelder, die sich von den Terrassen herab bis an die Höfe von Kötzschenbroda zogen. Die tiefen Kellergewölbe künden dort und in den versprengten Winzerhäusern der Lößnitz noch immer von der Lagerung des eingefahrenen Rebensaftes.

Nach Einbruch des sächsischen Weinbaus infolge der Reblauskatastrophe an der Wende des letzten Jahrhunderts, dem neuerlichen Aufbruch und schließlich eher traditionsfeindlichen Weinbetrieb zu DDR-Zeiten, erlebte die hiesige Weinkultur seit den Nachwendejahren eine wahre Renaissance. Große und kleine Weingüter zeugen mit einer breitgefächerten Stilistik von individuellen Winzern und charaktereigenen Weinen.

Der Maler Moritz Retzsch hat mit seinem 1840 bebilderten „Winzerumzug“ so ein eindrucksvolles Bild für das kulturelle Gedächtnis der Stadt geschaffen. Das diesjährige runde Jubiläum motivierte die Betreiber von „Schloss Hoflößnitz“ nun gar zu dem kühnen Unterfangen, das historische Vorbild weitgehend originalgetreu nachzustellen. Und tatsächlich: Am 9. Oktober zogen bei durchmischtem Herbstwetter mit Glühweintemperatur kostümierte Winzer, Handwerker und Musiker durch Radebeuler Straßen. Im Zentrum des bunten Treibens thronte Weingott Bacchus auf einem reich geschmückten Triumphwagen.

Unüberschaubare Menschen-„trauben“ drängten sich an Straßenrändern und schließlich im Hofe der Hoflößnitz. Es ist nicht bekannt, wann es dies so jemals schon gegeben hatte. Obgleich die Organisatoren sich mit den aufgestellten Weinbuden gut gerüstet sahen, hatten sie einen derartigen Ansturm wohl kaum erwartet. Dann ist ihnen aber immerhin das Ansinnen des Festes von 1840 gelungen: Die Zusammenführung von Menschen unterschiedlichster Berufungen, und dem Wein und Weinbau, in all seinen Facetten, mit Dank und Freude zu huldigen.

Den Überlieferungen zufolge soll das 1840er Weinjahr in Sachsen, im Gegensatz zum zelebrierten Festcharakter, eher mäßig gewesen sein. 2011, nach zwei durchaus schwierigen Weinlesen, sehen die Winzer indess in Menge und Qualität einem Jahrgang entgegen, von welchem noch in vorgerückten Zeiten zu sprechen sein wird.

Noch ein spezielles Kapitel: Untertraufmalerei in Radebeul

Als ich in den Vorschauheften 08/08 und 09/08 über Beispiele der Drempelmalerei berichtete, hatte ich mit voller Absicht die ähnliche Untertraufmalerei nicht mit in das Thema einbezogen. Und dafür gab es Gründe.

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, das damalige Thema nicht so packend fanden, sollten Sie vielleicht gleich weiterblättern und sehen, ob das Heft für Sie noch interessantere Artikel bringt. Wenn Sie aber neugierig sind und von dem heutigen Thema noch nie gehört haben, dann sollten Sie dranbleiben.

Mozartstraße 6

Während wir die Drempelmalerei an der oberen Partie einer geputzten Wandfläche von Villen und Landhäusern antreffen, es sich also um Malerei in oder auf Putz handelt und diese am besten durch möglichst horizontale Blickrichtung wahrgenommen wird, so ist Untertraufmalerei eine solche auf der Unterseite eines Dachvorsprungs an Traufe oder Giebel, meist eines Dachkastens aus Holz und setzt eine mehr vertikale Blickrichtung des Betrachters voraus. Beide liegen zwar in oberen, benachbarten Partien von Gebäuden, kommen aber äußerst selten am selben Haus vor. Das einzige, mir bekannte Radebeuler Haus ist die „Teekanne-Villa“, Meißner Straße 45, deren Fassaden z.Z. restauriert werden, wo neben Drempelmalerei auch etwas frühe Untertraufmalerei zu erleben ist. Die eigentliche Untertraufmalerei gehört zu einer Bauzeit von ca. 1906 – 1914, ist also jünger als die Drempelmalerei. Es ist die kurze Zeitspanne zwischen dem Jugendstil und dem 1. Weltkrieg, die gern als „Deutscher Werkbund“ oder neuerdings auch als Reformbaukunst bezeichnet wird. Da es sich dabei um einen Übergang von Historismus/Jugenstil zu Moderne/Bauhaus handelt, sind die Ausdrucksmittel der Untertraufmalerei gegenüber der Drempelmalerei stark zurückgenommen und zeigen eine klare, z.T. geometrische Formensprache sowie andere Farbigkeit (sie beschränkt sich meist auf 2 oder 3 Farben, selten mehr). Drempelmalerei wirkt auf uns malerischer und künstlerischer und kann von Hand oder als Schablonemalerei aufgetragen worden sein, während die strengere, symbolhaftere Untertraufmalerei stets als Schablonemalerei hergestellt wurde. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass für denkmalpflegerische Arbeiten an Drempelmalerei ein Restaurator gebunden werden sollte, während die Untertraufmalerei oft auch von einem Maler ausgebessert oder erneuert werden kann.

Häuser, die nach den Regeln der Reformbaukunst errichtet wurden, gibt es einige in Radebeul, aber nicht an jedem finden wir die Untertraufmalerei. Abgesehen von verstreuten Einzelstandorten finden wir Beispiele der Reformbaukunst im Areal der Fa. Eisold, also zwischen der „Goldenen Weintraube“ und der Eisenbahntrasse oder im Gebiet westlich der mittleren Moritzburger Straße, wo eine Fläche durch das Dresdner Büro Schilling & Graebner beplant und bebaut wurde. Hier lohnt es sich, solche Untertraufmalerei zu suchen – ich habe insgesamt 7 Beispiele (6 an Kulturdenkmalen, 1 an einem Nichtdenkmal) gefunden. Erfreulich ist, dass bei den meisten Häusern mit dieser Malerei diese bei Instandsetzungsarbeiten nach 1990 erhalten, bzw. fachgerecht in Stand gesetzt werden konnte.

Die Vorstellung der über ganz Radebeul verstreuten Objekte erfolgt alphabetisch nach der jeweiligen, heutigen Adresse. In einem Fall wird die Gesamtansicht eines solchen Hauses angeboten, damit man das Zusammenspiel der Untertraufmalerei mit den anderen Merkmalen der Reformbaukunst wahrnehmen kann. Sonst werde ich mich auf Detailabbildungen der Malerei beschränken. Dieser eigentlich kaum beachtete, bzw. schwer erkennbare Schmuck an ein paar Radebeuler Häusern trägt doch zum architektonisch-künstlerischen Gesamtbild der Villenkultur bei. Hin und wieder finden wir auch eine ähnliche Gestaltung an Häusern der Reformbaukunst, wo auf die Untersicht der Traufe Quadrate in Abständen plastisch auf den Fond aufgesetzt und alles unifarben gestrichen wurde. Da spätere Bauepochen immer mehr versachlicht wurden oder aber das Bauen in Zeiten fiel, wo stärker gespart werden musste, ist die Untertraufmalerei wohl als die letzte Phase, in der Häuser durch malerische Mittel gestaltet und bereichert wurden, anzusehen. Deshalb ist sie nicht nur für Besucher Radebeuls, sondern auch für die Bürger wichtig und sollte, wie das auch einige Eigentümer derartiger Häuser erkannt haben, weiterhin erhalten werden.

Karl-Marx-Straße 8

Karl-Marx-Straße 8(1911) ist ein villenartiges Landhaus, das nach Renovierung in den 90er Jahren als Pension genutzt wird. Die straff-geometrische Malerei in den Farben Braun, Hellgrau, Beige und Blau wurde nach Originalbefunden erneuert.

 

Louisenstraße 6

Louisenstraße 6(1912), eine Mietvilla, wurde von Johannes Eisold entworfen. Diese Schablonenmalerei in Weinrot und Hellgrau, hier auch an den Gaupen (!), konnte in den 90er Jahren von den Eigentümern selbst erneuert werden. Die filigrane Ornamentik der Malerei korrespondiert in schöner Weise mit der Putzornamentik der Fassaden der Mietvilla.

Makarenkostraße 7

Makarenkostraße 7(1911) wurde als Landhaus von Architekt Johannes Heinsius (Dresden) entworfen. Diese dreifarbige Untertraufmalerei (Weiß, Grün und Orange) aus sich wiederholenden, blumenähnlichen Elementen wurde Anfang der 90er Jahre in Stand gesetzt.

 

Mittlere Bergstraße 41

Mittlere Bergstraße 41(1910), ein Landhaus, mit Untertraufmalerei auch an den Giebelschrägen erhebt sich über einer Sandterrasse des Elbtals. Die Motive wurden hier durch rechteckig gerahmte Felder mit zentralen Vierecken in Dunkelblau auf hellgrauem Grund dargestellt. Die aus unterbrochenen Wellenlinien gebildeten Rahmungen erinnern noch ein wenig an die Jugendstilepoche.

Mozartstraße 6

Mozartstraße 6(1910) zeigt als Malerei unter der Traufe auf dunkelgrauem Grund einen Wechsel aus weißen Quadraten und Rechtecken, jeweils mit ausgeglichenem und gestrecktem Ornament in der Mitte. Hier ist der Charakter einer Villa der Reformbaukunst mit Erker, Dachgaupen, Klappläden und der Malerei vielleicht am authentischsten zu erleben.

Terrassenstraße 1

Terrassenstraße 1(1908/09) ist eine große Villa, wo ein Chemnitzer Architekt demonstriert, dass die Untertraufmalerei natürlich kein Radebeuler Phänomen ist. Wir können bei der Malerei mindestens 4 verschiedene Motive aus Quadrat, Kreis und Ornament und mindestens 5 Farben feststellen. Die Originalmalerei ist z.T. stark verblichen aber erkennbar. Über der Loggia wurden einige Elemente der Malerei im Sinne einer Probeachse neu angelegt. Hier ist vor weiterer Bearbeitung noch eine Diskussion der Probeachse mit den Eigentümern und der Denkmalschutzbehörde erforderlich.

Wichernstraße 4

Wichernstraße 4 (ca. 1890 / 1910) zeigt das Zusammenwirken von zwei Baustilen – ein Wohnhaus von ca. 1890 wurde um 1910 deutlich erweitert. Am Erweiterungsbau ist Untertraufmalerei in Braun und Grün auf weißem Grund, ähnlich der Mozartstraße 6, zu sehen. Erhalt und Erneuerung der Malerei erfolgten hier ohne denkmalpflegerische Auflagen (kein Kulturdenkmal) allein nach dem Wollen der Eigentümer.

Wertschätzung oder heiße Luft

ein Kommentar zum Beitrag „Laudatio für Eckhard Kempin“ von Jürgen Stegmann in „Vorschau und Rückblick“, 09/2011

Dass der Maler und Galerist Eckhard Kempin in der Radebeuler Kunstszene ein Unbekannter wäre, ist eine Untertreibung. Dass es außer Eckhard Kempin noch andere Künstler gibt in Radebeul, ist eine Tatsache. Allein sechs Bildende Künstler (10% aller in Radebeul wirkenden Bildenden Künstler) feiern in diesem Jahr ein rundes Jubiläum. Wie sie dieses Jubiläum begehen, ob mit oder ohne Ausstellung ist zunächst eine private Entscheidung. Möglichkeiten auszustellen gibt es viele – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadt. Wer sich in der Radebeuler Stadtgalerie präsentieren möchte, meldet sich an, muss allerdings etwas Geduld aufbringen. Die Einrichtung bietet pro Jahr Raum für maximal 3 bis 4 Personalausstellungen. Hinzu kommen thematische Gemeinschaftsausstellungen, Ausstellungen mit Werken aus der Städtischen Kunstsammlung sowie die Sommerausstellung des Radebeuler Kunstvereins, zu der jeweils ein auswärtiger Gastkünstler eingeladen wird.

Erster Gedankensprung: Jede Generation hat eigene Probleme und jede Generation muss diese auf ihre Weise lösen. Nur dem Kulturlosen erscheint die heutige Zeit kulturlos. Nur dem Humorlosen erscheint die heutige Zeit humorlos. Nur dem Ignoranten scheint die heutige Zeit ignorant. Nur dem Eiligen, erscheint die heutige Zeit eilig.

Zweiter Gedankensprung: Miteinander reden kostet Zeit, die der Eilige nicht hat. Effektiver ist die Methode „Schnellschuss“. Man nehme also eine Schrotflinte, lade kräftig durch und drücke einfach ab. Sollte der Schütze auf einem Auge blind sein, hat das Zielobjekt Glück oder Pech. Auf alle Fälle macht es Krach.

Dritter Gedankensprung: Internationales Wandertheaterfestival, Kinder-Lese-Sommer, Grafikmarkt, Literaturkino, Kunstsammlung, Karl-May-Festtage, Familienweihnachtsmarkt, Künstlerfest, Kasperiade, Vereinsförderung, Ortsjubiläen, Einweihung

Zeiss-Planetariumsprojektor und Familienbibliothek … alles nur heiße Luft, der subventionierten städtischen Institutionen?

Also wofür sollen sich die Mitarbeiter des Kulturamtes schämen? Und wofür sollen sich die Bürger dieser Stadt schämen? Dafür, dass sie nicht wissen wer Eckhard Kempin ist? Aus der Laudatio von Jürgen Stegmann erfahren sie es leider nicht. Aber vielleicht sind sie durch die Polemik in „Vorschau und Rückblick“ neugierig geworden auf die Jubiläumsausstellung „Malerei aus vier Jahrzehnten“, welche aus Anlass des 70. Geburtstages von Eckhard Kempin vom 18. November bis 18. Dezember 2011 in der Radebeuler Stadtgalerie zu sehen sein wird. Die Mitarbeiter des Kulturamtes freuen sich jedenfalls schon auf die Zusammenarbeit mit Eckhard Kempin, den sie als Künstler und als Vermittler von Kunst sehr schätzen.

Späte Weisheit

Utopien des Friedens bei Karl May und Lev Tolstoj

von Dr. Claudia Woldt

Vor drei Monaten war das Karl-May-Fest Anlass, eine Publikation über Slawisches in seinen Romanen vorzustellen. Diesmal nun soll es um einen anderen Aspekt seines Schaffens gehen, der indirekt wieder mit den Slawen zusammenhängt, genauer gesagt mit einem Slawen, dessen 100. Todestag im vergangenen Jahr begangen wurde: Lev Tolstoj (1828-1910). Man wird sich noch erinnern an Neuübersetzungen seiner Werke und zahlreiche Publikationen biographischer oder literaturwissenschaftlicher Art, die aus diesem Anlass erschienen sind. Eine dieser Publikationen, die allerdings erst seit Kurzem vorliegt, soll hier vorgestellt werden, schlägt sie doch in gewisser Weise die Brücke vom letztjährigen Jubiläum zum im kommenden Jahr anstehenden 100. Todestag von Karl May1. Holger Kuße, Inhaber des Lehrstuhls für slawische Sprachwissenschaft an der TU Dresden und Kenner des Werkes sowohl von Karl May als auch von Lev Tolstoj, weist darin auf einen interessanten Aspekt im Schaffen beider Schriftsteller hin: auf ihre Wandlung zu „Friedens­denkern“, besonders in der Spätphase ihres Lebens. Sowohl May als auch Tolstoj werden nach einschneidenden Erlebnissen in ihrem Leben zu religiösen, nach Formeln der Weisheit suchenden Schrifstellern. Tolstoj schreibt eine Beichte (1879-1882), in der er sein bisheriges Leben als dekadent und von Irrtümern geleitet bereut; May findet spätestens nach seiner Orientreise (1899-1900) zu einer religiös-symbolistischen Erzählweise, die in einem Gegensatz zu seiner früheren spätromantischen Art des Erzählens steht. Geradezu ins Auge fällt, dass beide Spruchsammlungen herausgeben (Tolstoj: Für jeden Tag (1906-1910), Wege des Lebens (1910); May: Himmelsgedanken (1901)), die im Falle von Tolstoj weltweite Verbreitung fanden und in Russland selbst eine treue Anhängerschar, die Tolstojaner, hervorbrachte.

Was heißt nun „religiös“ oder auch „weisheitlich“ in diesem Zusammenhang? Sind nicht beide Attribute auf Spätwerke auch vieler anderer Autoren anwendbar? Sie sind es, zweifellos. Was aber die hier behandelten Autoren betrifft, so steht ein Aspekt im Mittelpunkt, der die beiden tatsächlich in erstaunliche Nähe rückt, und zwar der Gedanke des Friedens, der Versöh­nung und Nächstenliebe. Bei Karl May findet man ihn im ‚Reich der Edelmenschen’, bei Tolstoj im ‚Reich Gottes’. Beide sind davon überzeugt, dass ein gewaltfreies Zusammen­leben aller möglich sei. Karl May entwirft in Ardistan und Dschinnistan (1907-1909) eine utopische Gesellschaft, deren oberstes Gesetz lautet: „Du sollst der Engel deines Nächsten sein, damit du dir nicht selbst zum Teufel werdest!“. Und in einem Brief beschreibt Tolstoj einen erleuchteten Tempel: „Alle müssen nur auf das Licht in der Mitte zugehen, um sich zu vereinen und die Menschheit voranzubringen“ (1896). Wie Kuße zeigt, enden hier aber schon fast die Gemeinsamkeiten. Der einen übergeordneten Idee des Guten werden jeweils unter­schied­liche Wege zu seiner Verwirklichung zugeordnet. Der erste Unterschied lässt sich mit „Pazifismus versus Pazifizierung“ beschreiben. Lev Tolstoj war radikaler Pazifist. Nur durch das Gute könne das Böse besiegt werden. Davon war er fest überzeugt, und es führte ihn so weit, jegliche Form von Staat abzulehnen – schließlich könne alles Böse vom Menschen allein, auch ohne Zutun von staatlichen Instanzen, einzig und allein durch den Willen zum Guten überwunden werden. Karl May dagegen geht es um die Verhältnismäßigkeit der Mittel, wobei physische Gewalt im Laufe seines Schaffens immer seltener gutgeheißen wird. (Old Shatterhand schießt, wenn er es denn muss, bevorzugt auf Knie, Oberschenkel und Pferde!) Er zieht Konfliktlösungen vor, die durch die Kenntnis der jeweils anderen Kultur ermöglicht werden. Seine Helden lernen Sprachen und fremde Bräuche und werden zuweilen gar nicht als Fremde erkannt, womit sich das Problem der Gewaltanwendung von selbst löst. So spricht Winnetou fließend Englisch und Old Shatterhand berichtet von einer gleich dreisprachigen Ausbildung: „Nscho-tschi lehrte mich den Dialekt der Mescaleros, Intschu tschuna denjeni­gen der Llaneros und Winnetou den der Navajos“.

Ein zweiter Unterschied wird erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Vorstellungen die beiden Schriftsteller vom Bösen haben. Bei Karl May ist alles Fremde anfänglich auch das Böse, besonders in seinen frühen Kolportageromanen. Diese Vorstellung weicht der Er­kenntnis, dass das Böse nicht aus kultureller, sondern aus seelischer Fremdheit erwächst. Tangua und Santer im Winnetouzyklus sind eher krank als böse und Old Wabble in Old Shure­hand wird vom Bösen wie von einem Virus befallen. Daraus folgt für ihn, dass man das Böse auch heilen kann. Für Tolstoj dagegen ist das Böse die natürliche Folge von Egoismus, Mate­ria­lismus und Dekadenz, d.h. es ist eher der Normalzustand, der überwunden werden muss.

Und ein dritter Unterschied schließlich besteht in der „Stoßrichtung“ der Utopien des Guten, die von den beiden entworfen werden. Tolstoj ist nicht so sehr am kulturell Fremden interessiert, ihn beschäftigt vielmehr der Unterschied zwischen arm und reich. Er idealisiert das einfache bäuerliche Leben, ja er beginnt selbst ein solches Leben, um zu zeigen, in welcher sozialen Form sich das Himmelsreich auf Erden realisieren ließe. So wird beispielsweise Fürst Nechljudow in der Auferstehung (1889-1899) geläutert, als er auf Besitz und Wohlstand ver­zichtet. Das liegt Karl May ganz und gar fern. Er gehört zu den sozialen Aufsteigern, die sich ihre gesellschaftliche Position hart erkämpft haben und an ihr hängen. Das Geld, das er mit seinen Büchern verdient, ist ihm wichtig, während Tolstoj sogar seine Ehe daran setzt, es möglichst vollständig loszuwerden.

Trotz dieser Unterschiede betont Kuße das eine große Gemeinsame: den Glauben an das Reich des Guten und die Überzeugung, dass es nur durch das Tun des einzelnen verwirklicht werden kann. Tolstoj formuliert es in Der Weg des Lebens so: „Verbessern kann der Mensch nur das, was in seiner Macht steht – sich selbst“. Und Karl May schreibt in Himmelsgedanken: „Man kann die Seele nicht in das Gewand der Tugend kleiden. Die Tugend ist einfach der Gesundheitszustand der Seele“.

Auch wenn dieser Friedensoptimismus in den Gewaltorgien des Ersten und Zweiten Weltkriegs unterging, lässt sich doch fragen, ob Utopien dieser Art tatsächlich veraltet oder gar weltfremd sind. „Dass kulturelles und religiöses Lernen die Voraussetzung des Friedens sind, wird zwar selten bestritten, aber auch selten beachtet“, so Kuße abschließend. „Oder können wir uns, voll der medialen Schreckensbilder, vorstellen, von … der afghanischen Kultur zu lernen? Uns kommt in der Regel gar nicht der Gedanke daran. Hier können uns Lev Tolstoj und besonders Karl May auch nach 100 Jahren noch auf die Sprünge helfen.“

Dem ist nichts hinzuzufügen – bis auf die Empfehlung, den gesamten Beitrag zu lesen. Interessierten sei zudem das Buch desselben Autors über Weisheit bei Lev Tolstoj ans Herz gelegt.

  1. Kuße, Holger: Sehnsucht nach Frieden: Lev Tolstoj und Karl May. In: Der Beobachter an der Elbe, Nr. 16, Heft 6/2011, hrsg. vom Karl-May-Museum Radebeul, S. 12-18. Kuße, Holger: Tolstoj und die Sprache der Weisheit. Göttingen 2010.

Aus dem Stadtarchiv

Mauerbau – ein Schicksal in Coswig (Teil 2)

von Petra Hamann

Lesen Sie den Teil 1 hier.

Anlässlich dieser Wahl-Kundgebung am 12.09.1961 im Zentralgasthof Weinböhla, bei der der damalige erste Sekretär der Bezirksleitung der SED Krolikowski Hauptredner ist, wird K. zu einem Redebeitrag aufgefordert. Er soll seine Haltung öffentlich aufgeben. Aber auch vor über 1000 Anwesenden vertritt er seine bisherige Meinung. Unmittelbar nach dieser Wahlveranstaltung erfolgt vor seiner Haustür seine Festnahme durch die Staatssicherheit. Er wird in die Untersuchungshaftanstalt nach Meißen gebracht, ohne seine Wohnung noch einmal betreten zu dürfen und ohne Frau und Tochter informieren zu können. In Meißen bleibt er bis zu seinem Prozess inhaftiert.

Noch während dieser Zeit erhält K. den Beschluss des Vorstandes der ArbeiterwohnungsGenossenschaft Coswig vom 21.10.1961 über seinen Ausschluss aus der AWG. Die Argumente dafür sind die gleichen wie in seiner Kündigung: Im VEB Cosid-Werke Coswig traten Sie im Hinblick auf die von Partei und Regierung zur Erhaltung des Friedens getroffenen Maßnahmen als Feind unseres Staates auf … Dieser Tatbestand ist unvereinbar mit den Grundsätzen einer sozialistischen Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft. Trotz der verfügten Kündigung dürfen Ehefrau und Tochter nach vielem Hin und Her in der AWG-Wohnung wohnen bleiben.

Nach fast zwei Monaten Untersuchungshaft verurteilt das Kreisgericht Meißen K. am 1. November 1961, 2 Tage vor seinem 34. Geburtstag, wegen Staatsverleumdung zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis. Dieser Straftatbestand (§ 20) wurde neben „Staatsgefährdende Propaganda und Hetze“ (§ 19) erst im Januar 1958 mit dem Strafrechtsänderungsgesetz eingeführt.

Über die Gefängnisse in Dresden und Cottbus kommt K. als Häftling mit der Nummer 480/61 am 18.11.1961 in das Haftarbeitslager Seese bei Lübben und später in das neuerrichtete Zweiglager beim Spreewerk Lübben. Die schwere körperliche Arbeit dort wurde erträglicher, da er fast nur mit gleichgesinnten politischen Häftlingen inhaftiert ist. Untergebracht sind die Gefangenen in Baracken, zu zwölft in einem Raum. Der Kontakt mit der Familie ist durch monatlich einen Brief, ein Päckchen zu Weihnachten und zum Geburtstag und pro Vierteljahr einen Besuch reglementiert. Kinder haben keinen Zutritt. Als weitere Repressalie erreicht ihn noch im November 1961 in der Haft die Mitteilung des Volkspolizei-Kreisamtes Meißen, dass er auf Grund seiner Verurteilung wegen Staatsverleumdung seine Fahrerlaubnis für ein Jahr, geltend ab Haftentlassung, entzogen bekommt.

1962 – am 9. August wird K. wegen guter Führung vorzeitig aus dem Haftarbeitslager entlassen. Im September wird seine Tochter das dritte Schuljahr beginnen. Seine eigene Zukunft liegt dagegen im Ungewissen. Er findet zunächst in seinem Beruf eine Anstellung in einem kleinen Privatbetrieb.

1968 – nach einer weiteren Station in einem halbstaatlichen Betrieb reift in ihm der Entschluss, sich selbständig machen zu wollen. Er hat die bisherige Zeit auch zum Forschen und Entwickeln genutzt. In seinem AWG-Kellerraum entwickelt er ein Verfahren auf Epoxidharzbasis, mit dem man haltbare farbig gestaltete Glasscheiben herstellen kann. Das meldet er 1966 als Wirtschaftspatent an. Vom Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR wird es in der Patentschrift 64375 vom 20.10.1968 mit dem Titel: Verfahren zur Herstellung vorzugsweise farbiger Bilder, Dekors und Schriften, insbesondere auf Glasscheiben, veröffentlicht.

In der Anwendung seiner Entwicklung sieht er eine neue berufliche Perspektive. Im Mai 1968 stellt er deshalb einen Gewerbeantrag beim Rat der Stadt Coswig, der prompt abgelehnt wird. Das dazu einzureichende polizeiliche Führungszeugnis wies keine Strafen mehr aus. Seit Anfang 1967 war der Eintrag über seine Verurteilung im Strafregister getilgt. Trotzdem enthält die Ablehnung den internen Vermerk, dass die gesellschaftlich-politische Einstellung des Antragstellers zu beachten sei.  Mit Beharrlichkeit erstreitet er durch die Instanzen Rat der Stadt Coswig, Rat des Kreises Meißen, Rat des Bezirkes Dresden seine Gewerbeerlaubnis, die er schließlich nach über einem Jahr im August 1969 erhält. Sein Gewerbebetrieb entwickelt sich zu seiner Zufriedenheit, dennoch erreicht er erst nach über 20 Jahren einen vergleichbaren Lebensstandard wie vor seiner Verhaftung. Über die Vergangenheit spricht er kaum. Es ist ihm wichtig, dass er weitgehend unbehelligt arbeiten und seine Entwicklung vervollkommnen kann.

1989 – 9. November: wiederum ahnt er nicht, wie auch der Tag des Mauerfalls seinem Leben eine neue Wendung geben sollte. Noch im Dezember erfährt er von den Bemühungen ehemaliger „Cosidler“, seine Rehabilitierung gegenüber dem VEB Cosid betreiben zu wollen. 121 Veteranen des Betriebes sind sich einig, dass das Unrecht, das ihm 1961 widerfuhr, wieder gut gemacht werden muss. Mit der Genugtuung darüber spürt er zugleich, dass er seinen inneren Frieden auch nach so langer Zeit noch nicht gefunden hat. Über den Jahreswechsel fasst er den Entschluss, seine Rehabilitierung selbst zu veranlassen. Fast möchte man meinen, dass es ein Glück war, dass die Marktwirtschaft den Absatz seiner kunsthandwerklichen Erzeugnisse drastisch zurückgehen ließ, und er mit Beginn des Jahres 1992 Altersrente beziehen kann. So ist es ihm möglich, all seine Zeit und Kraft in sein Rehabilitierungsverfahren zu investieren. Die gesetzlichen Grundlagen dafür werden im September 1990 von der Volkskammer der DDR mit dem Rehabilitierungsgesetz und vom Bundestag mit dem Ersten und Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz 1992 und 1994 geschaffen.

2011 – 50 Jahre nach dem Mauerbau ist ein dicker Aktenordner entstanden, angefüllt mit den Zeugnissen seiner Bemühungen, Gerechtigkeit bei den unterschiedlichsten Behörden zu erlangen und mit seiner dokumentierten Vergangenheit seit jenem 13. August 1961. Briefe, von Kinderhand geschrieben an den Vater im Gefängnis, berühren auch nach 50 Jahren noch. – Rehabilitiert wird er im Januar 1993 durch das Landgericht Dresden, das das Urteil von 1961 aufhebt und ihm eine Haftentschädigung zuspricht. 2007 gewähren neue Bestimmungen auch ihm die sogenannte SED-Opferrente als Ausgleich für rentenrechtliche Nachteile. Es erfolgt damit eine Würdigung des schweren Schicksals der Opfer und ihrer Angehörigen, die unter der kommunistischen Gewaltherrschaft in vielfältiger Weise Unrecht und Willkür erlitten haben und es soll den durch den Entzug ihrer Freiheit am schwersten Betroffenen vorrangig Genugtuung geben, ihnen aber auch durch Entschädigung und Versorgungsansprüche, die freilich das Maß an Leiden und Demütigungen nie aufwiegen können, einen gewissen Ausgleich für das erlittene Unrecht anbieten, so das Anliegen des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes.

Herr K. hadert nicht mit seinem Schicksal und möchte kein großes Aufheben um seine Person. Für das politische Geschehen interessiert er sich noch immer und sein Sinn für Gerechtigkeit ist ihm auch mit über achtzig Jahren nicht abhanden gekommen. Wenn das öffentlich machen seines Schicksals zum Nichtvergessen dieses dunklen Kapitels DDR-Geschichte beitragen könnte, wäre für ihn ein weiteres Ziel erreicht.

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