Vergangenes sichtbar machen

Förderpreis Heimatforschung für Karl Uwe Baum

Bereits im November vergangenen Jahres erhielt das Redaktionsmitglied von Vorschau und Rückblick Karl Uwe Baum den vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus und vom Landesverein Sächsischer Heimatschutz e. V. vergebenen Förderpreis des „Sächsischen Landespreises für Heimatforschung 2020“ zugesprochen. Mit Karl Uwe Baum sprach Karin (Gerhardt) Baum.

Zunächst möchte ich dir im Namen der Redaktion für die Auszeichnung herzlich gratulieren. Nun sind seit der Ehrung schon einige Monate vergangen. Hat sich die Freude bereits gelegt?

Die Auszeichnung hat mich natürlich schon überrascht, auch wenn man mit der Teilnahme an so einem Wettbewerb dies erhofft. Mein eigentliches Ziel aber war, das Thema „Geschichte des nichtprofessionellen Theaters“ besser in die Öffentlichkeit zu bringen. Das ist gelungen und insofern hält die Freude auch heute noch an.

Kannst Du uns das genauer erklären?

Gern. Ausgezeichnet wurde ja die von mir seit 2017 betriebene Homepage www.amateurtheater-historie.de. Bis Oktober vergangenen Jahres haben im Schnitt rund 1.800 Nutzer monatlich auf die Seite zugegriffen. Nun ist ja die Geschichte des nichtprofessionellen Theaters kein besonders populäres Gebiet. Man kann es eher als ein „Orchideenfach“ bezeichnen. Regelrecht unzufrieden war ich also nicht. Aber es lag mir schon daran, mein Anliegen stärker bekannt zu machen. Nach der Veröffentlichung der Auszeichnung stiegen die Zugriffe auf die Seite mit weit über 11.000 auf das Sechseinhalbfache im Monat. Darüber hinaus haben sich auch Bürger gemeldet, die mir Informationen und Material angeboten haben.

Szene aus Des Teufels goldene Haare von Gernot Schulze, gespielt vom Arbeitertheater der Bauarbei-ter Dresden mit Karin Bräuer als Hexe Igittigitt und Uwe Baum als Räuber Bums 1980
Bild: Archiv Baum


Dein Anliegen ist es also, Material zur Geschichte des Amateurtheaters zusammenzutragen. Warum und was steckt dahinter?

Das Verrückte ist, dass dieses Theater in der Freizeit zu allen Zeiten in großer Zahl, besonders auch in Sachsen, gepflegt wurde und wird, aber in der Geschichtsschreibung der letzten 30 Jahre wie auch in Archiven und Museen nur in geringem Maße anzutreffen ist. Das hängt auch mit der Besonderheit des Metiers zusammen. Ein Theater, und sei es nur ein Amateurtheater, zu betreiben, ist teilweise kostenintensiv sowie ungeheuer zeitaufwendig und verlangt auf vielen unterschiedlichen Gebieten Kenntnisse. Für die Dokumentation bleibt dann oft keine Zeit und Kraft mehr. Auch haben Kriege, Katastrophen sowie gesellschaftliche Umbrüche den Archivbeständen stark zugesetzt.

Wer sich aber mit diesem Gebiet einmal näher beschäftigt hat, wird feststellen, dass dieses nichtprofessionelle Theater über Jahrhunderte hinweg eine große kulturelle Leistung in der Gesellschaft vollbracht und so wesentlich zu deren Funktionieren und Herausbilden beigetragen hat. Sachsen kann man als ein „Mutterland des nichtprofessionellen Theaters“ bezeichnen.

Mit meiner Homepage aber auch mit meiner Sammlung will ich ein wenig dazu beitragen, dass das Wissen und die Kenntnisse um diese Freizeitbeschäftigung nicht verloren gehen.

Auf deine Antwort fallen mir jetzt sehr viele Fragen ein… Du hast Sachsen als das „Mutterland des Amateurtheaters“ bezeichnet, wie muss man das verstehen?

Die Geschichte des nichtprofessionellen Theaters ist ja noch nicht erforscht. Da tut sich die Wissenschaft schwer. Sicher auch aus den von mir genannten Gründen. In Sachsen sind wir erfreulicherweise in der Lage, diese Geschichte bis ins 14. Jahrhundert konkret zurückverfolgen zu können. So weiß man, dass 1322 in Eisenach – damals noch zu Sachsen gehörig – das geistige Schauspiel von den klugen und unklugen Jungfrauen durch Mönche und Schüler zur Aufführung gelangte. Mindestens seitdem ist das Theaterspielen durch Menschen aus dem Volk in Sachsen nicht mehr wegzudenken. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich dieses Bedürfnis dermaßen, dass die nichtprofessionelle Theaterszene zu den stärksten im Deutschen Reich und der Weimarer Republik zählte. Auch in der DDR führten die drei sächsischen Bezirke das Feld der Amateurtheater nicht nur zahlenmäßig an.

Du hast dich offensichtlich gründlich mit diesem Gebiet beschäftigt. Wie bist du dazugekommen?

Der DNN-Beitrag ist darauf schon ausführlich eingegangen, deshalb nur eine kurze Antwort. Ich habe natürlich vor langer Zeit selbst in einem Amateurtheater gespielt und von 1990 bis 2013 den sächsischen Verband für Amateurtheater geleitet. Von daher war ich schon länger auch an deren Geschichte interessiert. So konnte ich u.a. im Neuberinmuseum in Reichenbach (Vogtl.) Anfang der 1990er Jahre ein Archiv für Amateurtheater initiieren. Der eigentliche Auslöser aber folgte reichlich 10 Jahre später. Im Landesverband war die Überzeugung gereift, selbst eine Publikation zur Geschichte des sächsischen Amateurtheaters herausgeben zu müssen. An diesem Unternehmen, an dem ich maßgeblich beteiligt war, haben wir fünf Jahre gearbeitet. Herausgekommen ist dann die Publikation Auf der Scene 2013, die heute in vielen Hochschulbibliotheken gelistet ist. Mit dieser Arbeit ist mir die Situation auf diesem Gebiet so richtig bewusst geworden und so habe ich begonnen, das über die Jahre bei mir angesammelte Material aufzuarbeiten.

Und wie bist du auf die Idee mit der Website gekommen?

Hanna Rosemann und Volkmar Weitze, die Darsteller von Christine und Egon aus der Inszenierung Egon und das achte Weltwunder durch das Jugendtheater Radebeul 1967 bei einem Gastspiel an der Jugendhochschule Bogensee
Bild: Archiv Baum


Ehrlich gesagt, das weiß ich gar nicht mehr so genau. Durch meine ehrenamtliche Arbeit im Landesverband war mir der Umgang mit derartigen Seiten natürlich vertraut. Also nicht von der technischen Seite her, mehr von der Sinnhaftigkeit und vom Inhalt. Das Technische besorgte ein mit allen atlantischen Wassern gewaschener IT-Spezialist. Der Dresdner Mike Bormann hatte in den USA studiert und betreute u. a. auch die Homepage des Verbandes. Daraus hatte sich eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Ihm habe ich die Website letztlich zu verdanken. Ohne Mike also kein Preis!

Du hast sicher eine große Menge an Material zu Hause. Wie muss man sich das vorstellen?

Nach dem ich 2013 meine Funktion im Verband niedergelegt hatte, habe ich mit der Sichtung und Systematisierung des Materials begonnen. Daraus hat sich dann langsam ein Archiv geformt, welches heute weit über 10.000 Artefakten enthält. Im Wesentlichen ist das sogenannte „Flachware“, bestehend aus Dokumenten, Programmheften, Plakaten, Abbildungen, Fotos, Beiträgen aus Printmedien aber auch Filmen. Dazu kommt noch die Bibliothek, die gegenwärtig über 800 Bände und Zeitschriften umfasst.
Das Material befindet sich größtenteils in meinem Arbeitszimmer. Der Rest musste leider an anderen Stellen gelagert werden. Zum Glück konnte ich Ende des vergangenen Jahres knapp 20 Ordner dem Deutschen Archiv der Theaterpädagogik an der Universität Osnabrück übergeben.

Osnabrück, liegt das nicht im Bundesland Niedersachen?

Ja, leider. Der theaterwissenschaftliche Bereich an der Universität Leipzig schien offensichtlich nicht interessiert. Seit 2017 stand ich mit dem dort neugegründeten CCT (Centre of Competence for Theatre) in Verbindung. Zu einer konkreten Vereinbarung ist es leider nicht gekommen, so dass ich mich Ende 2019 entschlossen habe, nach neuen Partnern zu suchen. Mit dem in Lingen ansässigen Archiv kam es dann sehr schnell zur Übergabe einer ersten Charge. Ehrlich gesagt bin ich froh, einen interessierten Partner gefunden zu haben, wo durch die Anbindung an den Studiengang Theaterpädagogik auch die Chance besteht, dass mit meinem Material wissenschaftlich gearbeitet wird. Genau darin sehe ich den Sinn meines Tuns.

Sammelst du das Material nur oder arbeitest du auch damit?

In der Hauptasche trage ich Materialien und Informationen zusammen. In der wissenschaftlichen Arbeit liegt sicher nicht meine Bestimmung. Der Mangel an wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet begründet sich gerade in einem Mangel an Quellenmaterial und der Unkenntnis über deren Lagerungsorte. Deshalb sehe ich neben dem Zusammentragen dieser Materialien meine Aufgabe auch in deren Aufbereitung. So habe ich beispielsweise eine Erfassung aller mir bekannten Inszenierungen des nichtprofessionellen Theaters von 1821 bis 1990 mit Quellenangaben erstellt. Auf meiner Website befinden sich sogenannte Zeittafeln, die Ereignisse rund um das nichtprofessionelle Theater von 1300 bis 1990 dokumentieren. Die Zeittafel 1944 bis 1990 enthält beispielsweise auch über 60 Eintragungen zu Radebeul. Hier kann der Nutzer ebenfalls auf die Quelle zurückgreifen. Für die Forschung ist das eine „wahre Fundgrube zur Geschichte des sächsischen Amateurtheaters“, wie die Jury des Sächsischen Heimatpreises einschätzte.

Einige kleine Aufsätze habe ich schon verfasst. Aktuell arbeite ich mit meinem Leipziger Freund Roland Friedel unsere Erinnerungen an die gemeinsame Zeit im Landesverband Amateurtheater Sachsen auf. Auch habe ich hin und wieder Studenten bei der Erstellung ihrer Abschlussarbeiten beraten.

Wir haben uns deine Website angesehen. Da sind ja tatsächlich eine Unmenge von interessanten Daten zu finden. Woher kommen die alle?

Der größte Teil stammt aus meinem Archiv. Natürlich führe ich auch ständig weitere Recherchen durch. Erst neulich bin ich auf zwei Theatergruppen in Cunewalde (Lausitzer Bergland) gestoßen, die nur etwa 20 Jahre existierten. Darüber hinaus halte ich auch Kontakte zu Kollegen und bin Sprecher des Bundesarbeitskreises „Geschichte, Kultur und Bildung“ im Dachverband „Bund Deutscher Amateurtheater“. Außerdem schreibe ich ja auch hin und wieder für Vorschau und Rückblick.

Die Redaktion dankt für das Interview und wünscht dir weiter viel Kraft für diese interessante Tätigkeit.

Erinnern ist Wissen, Denken und Fühlen

Ein Gespräch mit Ingrid Lewek zum 27. Januar

Erinnern kann vieles sein: der Versuch, angenehme Gefühle zurückzuholen, eine Person zu würdigen, Vergessenes aufleben zu lassen. Nicht immer ist es leicht. Am 27. Januar gedenkt Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus. Ganz groß im Bundestag, kleiner in Radebeul.

Ingrid Lewek und Wolfgang Tarnowski an den Ehrensteinen vor dem Radebeuler Rathaus. Beide erhielten 2017 den Preis des Couragevereins Radebeul
Bild: privat


Frau Lewek, das, woran wir jährlich am 27. Januar oder auch am 9. November erinnern, ist nun schon über 70 Jahre her. Die moderne Gesellschaft ist nicht dafür bekannt, sich lange mit der Vergangenheit zu befassen. Offiziell gibt es Gedenkfeiern im großen Rahmen. Warum ist es Ihnen dennoch wichtig, der Opfer des Nationalsozialismus hier in Radebeul zu gedenken?

Ingrid Lewek | Die großen Feierlichkeiten sind wichtig, aber sie gehen ins Weite. Wenn man aber der Menschen an dem Ort gedenkt, wo das schreiende Unrecht geschah, entsteht ein eigener Bezug.

Fünf Stolpersteine an der Moritzburger Straße 1 in Radebeul leuchten mehr oder weniger gegen das Vergessen an. Jedes Jahr am 9. November kommen hier Menschen zusammen, um an zwei Familien zu erinnern, die von den Nazis verschleppt und umgebracht wurden. Sie kannten das Mädchen Irmgard Zeitler, das diese Familien besucht hat.

Ingrid Lewek | Irmgard wohnte im Hinterhaus, und ihre Familie hat ihr erlaubt, sich um das jüdische Mädchen Marion zu kümmern – bereits das ein Wagnis. Ich erzähle immer wieder gern davon und freue mich, wenn jedes Jahr ein paar mehr Menschen zum Gedenken kommen und zuhören. Sich in der Nazizeit um jüdische Menschen zu kümmern, war gefährlich. Deren Isolation war damals das Normale. Kontakte zwischen jüdischen und nicht jüdischen Menschen waren sehr gewagt, für beide Seiten. Das Mädchen, das das dennoch tat, wurde selbst diskreditiert, auch von ganz normalen Leuten. Ihrer Familie sagte man nach, sie sei „tüchtig rot“. Allein das war eine Gefährdung. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Nachdem Marion Freund als jüdisches Kind nicht mehr zur Schule gehen durfte und auf dem Hof andere Kinder nicht mit ihr spielten, ging Irmgard zu ihr, brachte ihr Hausaufgaben, spielte mit ihr und sie machten gemeinsam Handarbeiten mit ihrer Großmutter. Wenn die „Kontrollen“ kamen, wurde sie schnell im Wandschrank versteckt, damit nicht auch sie in den Fokus der Gestapo geriet. So sorgten sich die Verfolgten um andere!

Immer wieder haben Sie jungen Menschen von ihnen und ihrem Schicksal erzählt. Leugner gibt es immer noch.

Ingrid Lewek | Den ewigen Leugnern kann man nichts erzählen. Die hören gar nicht hin. Sie haben ihre Anschauung und bleiben dabei. Wichtiger finde ich, dass inzwischen viele Jüngere sich fragen, wie ihre Eltern und Großeltern damals gelebt haben. Ob sie auch nichts sahen, vielleicht weil sie weggeschaut haben? Oft bekommen sie keine Antworten. Es ist ja kein angenehmes Thema, das eigene Unvermögen einzugestehen. Die meisten bleiben dabei, sie hätten nichts gewusst. Ich weiß aber, dass es auch in Radebeul Nachbarn gab, die sich beklagt haben, sie wollten nicht mit Juden unter einem Dach leben. Und wenn die Menschen deportiert wurden, gab es oft genug Plünderungen ihrer Wohnungen. Die Nachbarn warteten hinter ihren Wohnungstüren, und sobald die Gestapo mit den festgenommenen Menschen das Haus verlassen hatten, fielen sie über die Habe der Deportierten her. Es gab Prügelszenen um die Dinge. Das Wort „Schnäppchenjagd“ fiel in diesem Zusammenhang. Ich kann es nicht mehr hören! Sehr viele haben sich so verhalten. Aber in der Moritzburger Straße 1 soll das nicht so gewesen sein.

Sie haben das hilfreiche Mädchen, Irmgard Zeitler, später noch am Telefon gesprochen?

Ingrid Lewek | Ja, als schon ältere Frau. Als ich an unserem Buch schrieb, bekam ich ihre Telefonnummer und konnte viel mit ihr über Marion und ihre Familie sprechen. Irmgard lebte in Thüringen. Sie war gerührt und dankbar dafür, dass es hier ein Erinnern gibt. Marion war ihre einzige Freundin geblieben. Inzwischen lebt auch Irmgard nicht mehr.

Frau Lewek, ist Ihnen jemals erklärlich geworden, warum jüdische Menschen immer wieder gehasst, oft auch einfach abgelehnt werden?

Ingrid Lewek | Ich denke, ein Motiv war von jeher der Neid auf Bildung und Besitz. Bei den Juden konnten die Kinder schon ab vier Jahren lesen und schreiben lernen. Übrigens: seit dem Mittelalter war das so. Und deren wirtschaftliche Erfolge waren auch vielen ein Dorn im Auge. „Jüdischer Besitz in arische Hände“ war tatsächlich ein Slogan in Deutschland!

Die Wegnahme und Verwertung des Eigentums jüdischer Menschen hatte System. Bevor die Menschen weggebracht wurden, mussten sie ihre Habe in Pakete packen und genau beschriften. Deshalb die „Kontrollen“. Wertvolle Gegenstände wie Kunstobjekte, Porzellan oder Besteck waren schon vorher konfisziert worden. Was dann nicht von den Nachbarn geplündert wurde, gelang oft auf den „Hamburger Markt“, wo es für günstige Preise die Besitzer wechselte. Es stand nicht direkt dabei, aber jeder wusste, wo die Dinge herstammten. Soviel zur landläufigen Aussage: Wir haben nichts gewusst.

In unserer Gegend ist zu beobachten, dass es deutliche Ablehnung von politischem Engagement, gar in Parteien, gibt. Können Sie diese Haltung verstehen?

Ingrid Lewek | Mein Verstehen ist, dass ich auch ein politischer Mensch bin. Das heißt, in die Verantwortung für die Stadt und die Gesellschaft eingebunden zu sein. Das ist ein allgemeiner Auftrag für alle, sofern sie das können. Auf der Suche nach Menschen, die sich mit ums Wissen und Denken kümmern, habe ich immer Leute gefunden. Natürlich ist überall etwas, was einen ärgert. Doch nach der Wende war mir schnell klar: wenn eine Partei, dann nur die SPD. So bin ich seit 1993 Mitglied des Radebeuler Ortsvereins der SPD. Eins muss man wissen: Harmlos und gutgläubig darf man nicht in die Politik gehen. Da muss ich an die Gründungszeit der SPD 1990 in Sachsen denken und heute noch schmunzeln. Einer sagte damals: Wir müssen erst einmal lernen, dass man bezahlen muss, was man vorhat. Das habe ich schon als Kind und als Hausfrau gelernt! Im Ernst: Der kritische Austausch und der Abgleich der Interessen sind wichtig. Dafür braucht es einen politischen Ort. Irgendwann gewöhnt man sich daran, dass es Grenzen des Machbaren und Möglichen gibt.

Was können wir heute tun?

Ingrid Lewek |Wir können dafür sorgen, dass das geschieht, was die Nazis immer verhindern wollten und Leugner heute noch nicht wollen: Dass verfolgte und getötete Menschen ihren Namen und ihr Gesicht behalten können. Und dass es nicht wieder passiert, was damals geschah, dass zu wenig entgegnet wird. Hinschauen ist auch heute Pflicht, Zurückziehen hilft nicht. Ich halte es da sehr mit Imre Kertesz*, der gesagt hat: Der Mensch ist geschaffen, um zu wissen und zu denken. Wir können uns weder das eine oder das andere ersparen. Wir sind verpflichtet, uns wissend machen. Das hat mich gerade in dieser Weihnachtszeit sehr beschäftigt. Dieses Stück Arbeit müssen wir, jeder der es kann, leisten! Und ist es nicht auch etwas sehr Schönes, nachzudenken, Zusammenhänge zu erkennen und mit anderen darüber zu reden?

Für das Gespräch mit Ingrid Lewek bedankt sich Christine Ruby

*ungarischer Schriftsteller, Nobelpreisträger, 1929 – 2016
Die Gedenkstunde des Bundestages am 27. Januar beginnt um 11 Uhr und wird live im Internet unter www.bundestag.de übertragen.
Der Couragepreisverein veröffentlicht auf seiner Homepage www.couragepreis.de eine Videobotschaft zum Thema
Für ein stilles Gedenken treffen sich Radebeuler*innen am 27. Januar 2021 am Erinnerungsstein auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ab 17 Uhr.
Dort können Blumen niedergelegt werden.

Nachruf

Dr. phil. habil. Manfred Altner (+ 27.11.2020 in Radebeul)

Nachdem ich diesen Text ursprünglich als Glückwunsch zum 90. Geburtstage verfasst hatte, erfuhr ich aus der Sächsischen Zeitung, dass Herr Dr. Manfred Altner einen Monat vor seinem Geburtstag in Radebeul verstorben ist. Mit diesem Text möchte ich an ihn erinnern:

Kennengelernt habe ich Herrn Dr. Altner erst, als er im Ruhestand seine Forschungen zu Radebeuler Persönlichkeiten intensivierte. Sein besonderes Augenmerk war dabei auf die „richtigen“ biographische Angaben von Schriftstellern, Schauspielern… gerichtet, die hier in der Lößnitz kurz oder lang gewirkt haben. Oft fanden sich nämlich Fehler in vielen Lexika u.a. wiss. Publikationen. Neben deren Werken war auch die genaue Adresse auf der Wunschliste des „Heimatforschers“, wie wir es im Archiv gern bezeichnen. So kam es, dass er meinem Aufruf im Amtsblatt und in Vorschau & Rückblick an der 1. Auflage des Stadtlexikons Radebeuls mitzuwirken mit großem Engagement folgte, wofür wir ihm zu großem Dank verpflichtet sind.

Am 26. Dezember 1930 in Leipzig geboren, folgte nach der Schulzeit und nach dem 2. Weltkrieg Germanistikstudium und Promotion an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Anschließend unterrichtete er als Lehrer die angehenden Pädagogen an der PH Dresden von 1959 bis 1972, wirkte anschließend als Dozent für Ästhetik an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden (1972-1992). Seit 1977 lebte er mit seiner Familie in Radebeul. Seine Forschungsschwerpunkte waren: Exilliteratur, Kinder- und Jugendliteratur und Kulturgeschichte.

Zahlreiche Werke entstanden u.a. Aufsätze über Robert Grötzsch, August Kaden, August Lazar; Herausg. (Jacobs wunderbare Reise von Martin Andersen Nexö, Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik (1991), Geschichte der Dresdner Kunstakademie, 1990 (Ltg.); Biographie der österreichischen Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen (1997). Im Ruhestand forschte er zur literarischen Kulturgeschichte der Lößnitz (Werke: „Das Lächeln der Lößnitz“, „Dresden – Stadtführer durch Vergangenheit und Gegenwart“; Sächsische Lebensbilder; Hrsg. „Die Schwestern von Hohenhaus v. Hansgerhard Weiß“, Forschungen zu Carl und Gerhart Hauptmann.

Am 18.11.2005 erhielt er deshalb den Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur „Volkacher Taler“ für sein Lebenswerk.

2018 übergab er dem Stadtarchiv Radebeul einen großen Teil seiner Forschungen (Unterlagen über Carl und Gerhart Hauptmann u.a.). Auch unsere Archivbibliothek bereicherte er mit Ausgaben von Wilhelmine Heimburg und seiner eigenen Werke.

Nun ist er kurz vor seinem 90. Geburtstage verstorben. Wir möchten seiner Witwe und seinen Söhnen und deren Familien unser Beileid aussprechen. Gern schauen wir in dankbarer Erinnerung an die Zusammenarbeit mit ihm zurück. Seinen Humor und seinen Witz werden wir vermissen!

Annette Karnatz
Stadtarchivarin

Kultur (T)Raum Radebeul (Teil 1)

Vom Leben vor und hinter hohen Mauern

„Wer schreibt, der bleibt.“ Wieder so ein Spruch, bei dem keiner so richtig weiß, wie das gemeint sein könnte. Zumindest macht sich nicht jeder Schreiber (m/w/d) beliebt. Aber wer schreibt schon, um sich beliebt zu machen?

»LABratorium« / Lügenmuseum – Alphörner zum Auftakt der intermedialen Performance- und Mitmachaktionen auf den Elbwiesen in Altkötzschenbroda, August 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Als gebürtige Radebeulerin gehöre ich einer beständig schrumpfenden Minderheit an, seitdem es in der Großen Kreisstadt keine Geburtenklinik mehr gibt. Ist das etwa die späte Rache der Dresdner, weil ihre Eingemeindungsabsichten bis jetzt gescheitert sind? Ganz schön schlau eingefädelt, könnte man meinen.

Wenn ich ehrlich bin, stimmt das ja auch nicht so ganz mit der Formulierung „gebürtige Radebeulerin“. Eigentlich müsste ich einen Dreifachpass besitzen mit dem Eintrag „geboren in sowohl als auch: Radebeul-Kötzschenbroda-Niederlößnitz“. Vielleicht erklären sich aus diesem verworrenen Umstand meine beständigen Versuche, herausfinden zu wollen, wie die Lößnitzstadt tickt und wohin sich dieses Konglomerat entwickelt?

Glücklicherweise hatte ich das Privileg über viele Jahre im Radebeuler Kulturamt einer Tätigkeit nachzugehen, die voll und ganz meinen Neigungen und Interessen entsprach. Aus heutiger Sicht wohl eher eine Ausnahme. Damit der Eintritt in den sogenannten „Ruhestand“ ein wenig rebellische Würze bekommt, erteilte mir vor zwei Jahren mein geschätzter Redaktionskollege Dr. Bertram Kazmirowski (seit 1995 Mitglied der Jugendredaktion des Monatsheftes „Vorschau und Rückblick“) den Auftrag, „knapp 30 Jahre nach der politischen Wende immer wieder daran zu erinnern, welch hohes Gut Meinungs- und Pressefreiheit sind und wie unsere Demokratie auch davon lebt, dass unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden.“ (VUR, 03/2019) Derart legitimiert und der Wahrheit verpflichtet, möchte ich in dieser Beitragsserie einige Themen aufgreifen, welche in Radebeul vermutlich nicht nur mich beschäftigen. Es geht um städtische und private Räume, es geht um den Einzelnen und die Gemeinschaft, es geht um Gestalten und Verwalten, es geht um Gelungenes und Gescheitertes …

„Gute-Laune-Stelzen-Zwerge“ – zur Kasperiade in Radebeul-Ost, Juni 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Das alles hat eine Vorgeschichte. Diese fängt mit dem Trauma an, dass ich zwar eine gebürtige Radebeulerin bin, aber keine Alteingesessene mit bodenständiger Ahnengalerie. Meine Mutter und Großmutter gehörten zu den „Ausgebombten“, die im Februar 1945 durchs brennende Dresden bis nach Radebeul gelaufen sind. Mitnehmen konnten sie außer ein paar Dokumenten und Fotografien praktisch nichts. In Radebeul fanden sie fürsorgliche Aufnahme und später ihr Zuhause. Mein Vater wiederum fand in Radebeul meine Mutter und blieb. Aus dem klimatisch raueren Vorerzgebirge stammend, erfreute er sich immer wieder aufs Neue an der üppigen Vegetation zwischen Elbe und Hang. Besonders der Frühling, wenn der Flieder, die Magnolien, Forsythien, Kirsch- und Aprikosenbäume blühten, hatte es meinem Vater, dem Zugezogenen, angetan. Seine „Besitzergreifung“ der neuen Wahl-Heimat erfolgte auf eine sehr ideelle Art. Schließlich muss man nicht alles besitzen, um sich daran erfreuen zu können.

Mit dem gesellschaftlichen Umbruch ging jedoch auch so manche Utopie in die Brüche. Als sich das DDR-Volk für den Unterschied zwischen „Privateigentum“ und „Volkseigentum“ zu interessieren begann, war es bereits zu spät. Viele Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt ein völlig anderes Verständnis von Eigentum hatten, waren diesem Prozess wehr- und hilflos ausgeliefert. Ein Großteil der Ländereien und Immobilien wechselte zu neuen Besitzern aus den „alten“ Bundesländern. Statt Glasperlen gab es diesmal Bananen. Ironisch könnte man meinen: „Selber schuld, Augen auf bei der Partnerwahl“. Nein, die DDR will ich ganz bestimmt nicht wieder haben. Und doch bin ich sehr froh, in diesem untergegangenen Land gelebt zu haben, in diesem Land, wo es nur selten Bananen gab.

„Mitsommernachtsträume“ – Fassadenillumination von Claudia Reh in Altkötzschenbroda, Juli 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Der gesellschaftliche Umbruch war eine Zäsur und wirkt bis heute nach. Was mit der DDR in Beziehung stand, wurde immer mehr zum Observations- oder Sammelobjekt. Und mit dem zeitlichen Abstand wuchs das Interesse am Vergleich zweier sehr verschiedener Gesellschaftssysteme. Das Reflektieren, gespeist durch das eigene unmittelbare Erleben, empfinde ich als eine biografische Bereicherung. Dass sich neuerdings immer mehr junge Menschen für die ehemalige DDR zu interessieren beginnen und fragen, was denn da so anders war, finde ich schon deshalb spannend, weil sich durch deren Unvoreingenommenheit auch für mich Vieles zu relativieren beginnt. Was den Dauerstreit über Rechts- oder Unrechtsstaaten anbelangt, verlor dieser plötzlich an Präsenz. Denn wieder war es ein existenzielles Ereignis, welches das bis dahin Dagewesene übertraf und in ein Leben davor und ein Leben danach unterteilen sollte. Die Corona-Pandemie stellte das Funktionieren der Systeme in allen Ländern auf eine harte Probe und hielt ihnen den Spiegel vor. Globalisierung hatte man sich anders vorgestellt. Mit ausgleichender Gerechtigkeit hat die Pandemie ohnehin nichts zu tun, denn wie so oft, gibt es nur wenige Gewinner aber sehr viele Verlierer. Angesichts der Toten und Schwerstkranken mutet es ohnehin mehr als zynisch an, in einem solchen Zusammenhang von „Gewinnern“ zu sprechen.

Geradezu prädestiniert zum Unwort des Jahres 2020 wäre wohl auch der Begriff „Systemrelevanz“ gewesen. Doch bei wem liegt eigentlich die Deutungshoheit, wenn es darum geht den einzelnen Bereichen einen „systemrelevanten“ Platz auf der Wichtigkeitsskala zuzuweisen? Werden nur die Lauten gehört und die Leisen gehen unter? Museen, Galerien, Kinos, Theater und Konzerthäuser wurden geschlossen und schienen zunächst als steuerverschlingendes Beiwerk am ehesten entbehrlich zu sein. Aber selbst die „Erbsenzähler“ haben inzwischen erkannt, dass es nicht nur ums nackte Überleben geht.

„Atelier auf Abruf“ – Arbeitsbereich von Manuel Frolik in der Alten Molkerei, Juli 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

In Radebeul, der einzigen Stadt im Landkreis, die noch über ein Kulturamt verfügt, hatte man frühzeitig Nägel mit Köpfen gemacht. Kreiert wurde unter dem Slogan „Radebeuler LebensArt“ eine zeitlich und räumlich „entzerrte“ Veranstaltungsreihe, die eine Art zusammenfassenden Überbegriff für weitere kulturelle Angebote bilden soll. Die neuen Projekte erhielten griffige Bezeichnungen wie „Kunst geht in Gärten“, „Traumfabrik“, „KulTour“, „Mitsommernachtsträume“, „Weinboulevard“, „Weinherbst“, „LABratorium“ oder „Lichterpfad. Es wurde spontan improvisiert und in den unterschiedlichsten Konstellationen zusammengearbeitet. Künstler zogen von Ort zu Ort und das Publikum folgte ihnen. Selbst die Kasperiade und der Grafikmarkt wurden 2020 coronagerecht modifiziert und haben auf alternative Weise stattgefunden.

Was die Veranstalter allerdings mit dem Begriff „Radebeuler LebensArt“ meinen, hat sich mir als Radebeulerin noch immer nicht vollständig erschlossen. Haben sie nur ihre kleinen und größeren kulturellen Höhepunkte im Blick oder sind auch wir als Bewohner dieser Stadt gemeint, mit unserer nicht ganz so spektakulären „Radebeuler LebensArt“, die den Alltag vor und hinter den Radebeuler Mauern prägt? Der Erfolg dieser kulturellen Großoffensive war für die Veranstalter jedenfalls Dank und Bestätigung zugleich. Das Engagement aller Beteiligten sowie die unbürokratische Umwidmung bzw. Aufstockung von Fördergeldern haben diesen ganzjährigen Veranstaltungsmarathon möglich gemacht. Eine Fortsetzung in ähnlicher Form ist geplant.

Und doch bleiben einige Fragen offen. Hat sich mit der Organisation von Veranstaltungen bereits die Verantwortung der Stadtgesellschaft für ihre Künstler und Kulturschaffenden erschöpft? Will denn überhaupt jemand ernsthaft wissen, wie es den zumeist freischaffenden Einzelakteuren, die ohnehin noch nie auf Rosen gebettet waren, im Wechselbad der mehr oder weniger strengen Lockdowns ergeht? Dass über fünfzig Bildende Künstler sowie zahlreiche Musiker, Schriftsteller, Tänzer, Schauspieler u. v. m. in Radebeul ansässig sind, ist kein Geheimnis. Unter welchen Bedingungen sie leben und arbeiten, wurde in ihrer Komplexität allerdings noch nie untersucht. Natürlich ist die Kunst- und Kulturszene sehr flexibel, vielseitig und innovativ. Dieses aus finanzieller Sicht recht selbstgenügsame Metier erneuert sich immer wieder von innen heraus, vorausgesetzt es gibt verfüg- und bezahlbare Wohn-, Arbeits-, Proben-, Präsentations- und Veranstaltungsräume. Dass unter städtischer Regie der Radebeuler Grafikmarkt auch in diesem Jahr stattgefunden hat, war wichtig, aber eben nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine nachhaltige und langfristige Strategie zur Unterstützung der Kunst- und Kulturschaffenden vor Ort, ist das Gebot der Stunde. Der 2019 gegründete empathische Radebeuler Kulturverein wird die anstehenden Probleme allein nicht lösen können.

„genius loci“ – nur noch eine Erinnerung, Atelier von Gunter Herrmann (1938-2019) im Grundhof, Oktober 2020
Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Hier schließt sich der Kreis. Wie eingangs erwähnt, war die Zerstörung Dresdens und der Totalverlust von nahezu allem, was man einmal besessen hatte, in meiner Familie immer präsent. Was noch funktionierte, wurde nicht weggeschmissen. Vielleicht resultiert aus dieser lebenslang praktizierten Haltung mein Drang, all das zu bewahren, was andere einmal unter Mühen geschaffen haben. Der willkürliche Gebrauch des Wortes „Schandfleck“, als vorgeschobenes Scheinargument, um sanierungsfähige Gebäude abreißen zu können, verursacht bei mir ein großes Unbehagen. Dieses Verhalten ist in meinen Augen destruktiv und unsozial. Zumal es andererseits einen dringenden Bedarf an bezahlbaren Kreativräumen gibt. Die Stadtgesellschaft und die jeweils zuständigen Verantwortungsträger sollten sich der öffentlichen Diskussion nicht länger entziehen. Wenngleich es so scheint, als hätten wir gegenwärtig ganz andere Probleme, hoffe ich mit diesem und den noch folgenden Beiträgen darauf aufmerksam zu machen, dass alles mit allem im Zusammenhang steht. Wenn Kunst und Kultur auch künftig ein ernstzunehmender Bestandteil der „Radebeuler LebensArt“ bleiben sollen, bedarf es eines verlässlichen und stabilen Fundaments. (Fortsetzung folgt)

Karin (Gerhardt) Baum

Editorial 2-21

Mit vorliegendem Heft halten Sie die letzte Ausgabe der traditionsreichen Kulturzeitschrift von „Vorschau & Rückblick“ in den Händen.

Geschätzte Leserinnen und Leser, sicher wird dem einen oder anderen beim Lesen der vorangestellten Zeilen jetzt kurz der Atem gestockt haben – und dies war rhetorisch durchaus beabsichtigt – denn gerade in unserem Metier ist größte Vorsicht geboten. Aber keine Sorge, soweit ist es glücklicherweise bei uns noch nicht.

So oder so ähnlich könnte jedoch die Meldung einer vertrauten Kulturinstitution lauten die unter den vielmonatigen Einschränkungen, insbesondere im kulturellen Bereich zu leiden haben.

Die tief und schmerzlich einschneidenden Maßnahmen begleiten die Gesellschaft nunmehr einen ganzen Jahreskreis und schlossen ausnahmslos alle Festivitäten ein. Die tatsächlichen Folgen und Verwerfungen sind bisher nur zu erahnen.

Steht die Kultur nun ganz still in Radebeul? Nicht ganz!

Im Verborgenen bereiten sich Einrichtungen auf das noch zeitlich unbestimmte Frühlingserwachen mit großem Engagement vor. Besonders anerkennenswert sind daher die umfänglichen Bemühungen auf erzwungenermaßen digitaler Ebene, auf die wir sie auf unserer letzten Seite aufmerksam machen wollen. Dort sind Aktivitäten und Webseiten einschlägiger Kultureinrichtungen aufgeführt, deren Besuch sich unbedingt lohnt.

Die Kultur ist tot, es lebe die Kultur! Irgendwie, irgendwo, irgendwann…

Sascha Graedtke

750 Jahre Kötzschenbroda (1271–2021)

Anlaß für Gedankenspiele zwischen gestern, heute und morgen

Dominierte im Jahr 2020 zunächst die nationale Nachwende-Nabelschau, wurde diese immer mehr von der Corona-Pandemie überlagert. Nur eine kurze Unterbrechung dachte man zunächst, danach geht alles weiter wie bisher. Ein großer Trugschluss! Heute sind wir klüger. Unser Blick hat sich „welt-weit-web“ geweitet.

Sinnspruch an der Fassade des Lügenmuseums
Repro K. (Gerhardt) Baum

Die Corona-Pandemie ist allerdings auch keine Begründung, um gar nichts mehr zu tun, wohl eher eine Herausforderung. Die gesundheitlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen sind noch lange nicht abzusehen. Auch einzelne Bereiche gegeneinander auszuspielen ergibt keinen Sinn. Geplant wird nur noch unter Vorbehalt und mehr oder weniger komplex. Die allzeitbereiten Zukunftsdeuter wurden zunehmend stiller, die sogenannten „Querdenker“ umso lauter. Dabei haben wir doch schon in der „guten Kinderstube“ gelernt: Wer schreit hat unrecht. Aber wie hängt das nun alles mit dem 750-jährigen Jubiläum von Kötzschenbroda zusammen?

Gestern habe ich mir im neuen SZ-Treffpunkt das Buch „Ich habe einen Knall“ von Oliver Kreider gekauft. Die Reaktion meiner Familie: Bist Du verrückt, willst du den etwa noch reicher machen? Natürlich war das nicht der Grund. Ich wollte wissen: Was hat uns dieser Mann mitzuteilen? Was ist ihm so wichtig, dass es in Form eines Buches Verbreitung finden soll? Immerhin schaut Oliver Kreider aus seiner „Friedens“-Burg von oben herab und weit über Radebeuls Grenzen hinaus. Ich wiederum schaue von unten nach oben, erinnere mich an Eierschecke, Apfelsaft, Sonntagsspaziergänge, den schönen Blick und meine kindliche Freude, sobald ich in der Draufsicht unser Haus entdeckt hatte. Die zerstörerische Logik der Treuhand kann ich bis heute nicht nachvollziehen, selbst wenn mich fortan der Ruf als nörgelnde Spaßbremse verfolgen sollte.

Die AG »Machbarkeitsstudie Stadtmuseum« auf Exkursion im Januar 2006 v.l.n.r.: Frank Andert, Gerd Schindler, Frank Thomas,
Dr. Dieter Schubert, Thomas Gerlach, Karin Gerhardt, Prof. Dr. Hans Dieter Blanek Foto: K.U. Baum

Doch das ist eigentlich nur Nebensache, denn spätestens hier wird es wirklich interessant. Aus Gedankenspielereien ergeben sich Fragen wie: Was und wer ist historisch relevant? Wie und wann ist Radebeul zur Stadt in ihren heutigen Grenzen zusammengewachsen? Geschah es freiwillig oder unter Zwang, als 1876 Fürstenhain, 1920 Lindenau, 1923 Naundorf, Zitzschewig und Niederlößnitz nach Kötzschenbroda eingemeindet wurden?

Gelebte Stadtteilkultur – Staffettenstabübergabe von Serkowitz an Zitzschewig im August 2009 zur Veranstaltungsreihe »Radebeuler Begegnungen« im März 2010 Foto: S. Preißler;

Und welches Kötzschenbroda ist nun eigentlich gemeint, wenn wir den 750. Geburtstag feiern: Altkötzschenbroda oder die Ursprungsgemeinde Kötzschenbroda ohne bzw. mit Kötzschenbroda-Oberort? Oder ist die Stadt Kötzschenbroda (mit ihren sechs Ursprungsgemeinden) gemeint, die allerdings nur zehn Jahre (1924-1934) existierte? Also wer ist denn nun ein waschechter Kötzschenbrodaer? Um die Verwirrung noch etwas zu steigern, stößt man auch auf Radebeul 1 bis 6 sowie Radebeul Ost, West und Mitte. Während der Bahnhof Radebeul-West in S-Bahn-Haltepunkt Kötzschenbroda umbenannt wurde, bezeichnete man das inmitten von Kötzschenbroda befindliche dritte Sanierungsgebiet der Stadt Radebeul als Sanierungsgebiet „Zentrum Radebeul-West“. Ich hoffe, die geneigte Leserschaft kann mir noch folgen.

Spannen wir nun den Bogen von der ersten urkundlichen Erwähnung Kötzschenbrodas im Jahr 1271 bis heute, wird uns zunehmend klar, wie wenig wir eigentlich über diesen langen Zeitraum wissen. Skelettfunde belegen, dass dieses Gebiet schon viel eher besiedelt war. Immer wieder fanden Naturkatastrophen, Seuchen, Kriege und gesellschaftliche Umbrüche statt. In guten wie in schlechten Zeiten galt es, den Alltag zu bewältigen. Die Menschen arbeiteten viel und hart. Sie haben sich geliebt, gefreut, gehasst und getötet. Sie haben gefeiert, gebetet, rebelliert und versucht, im irdischen Dasein einen Sinn zu erkennen.

Vieles lässt sich sowohl aus der näheren als auch der ferneren Geschichte lernen. Vorausgesetzt, man wird fündig in öffentlichen Museen und Archiven. Vermutlich weiß ein Großteil unserer künftigen Leistungsträger (Irrtum nicht ausgeschlossen!) mehr über Europa oder Amerika als über die Geschehnisse in Gegenwart und Vergangenheit vor der eigenen Haustür. Andererseits hatte sich schon Radebeuls erster Stadtarchivar Paul Brüll (1892–1983) in den 1960 er Jahren darüber beklagt, dass die Möglichkeiten des Archivs von den Schulen noch zu wenig genutzt werden würden.
Antworten auf Fragen zur Stadtgeschichte erhält man jedoch nicht nur im Stadtarchiv. Fündig wird man u. a. im Sächsischen Weinbaumuseum Hoflößnitz, im Karl-May-Museum, im Sächsischen Schmalspurbahnmuseum, im Lügenmuseum, in der Städtischen Kunstsammlung, in den Heimatstuben Kötzschenbroda und Naundorf, im Bilz-Museum, in den Kirchen und auf den Friedhöfen. Aber auch die Bibliotheken, Buchhandlungen und der Notschriftenverlag haben interessante Lektüre über Radebeul im Angebot.

Karl Reiche am häuslichen Küchentisch beim ordnen seiner handschriftlichen Aufzeichnungen im März 2010 Foto: K. (Gerhardt) Baum

Aufzeichnungen aus eigenem Erleben sind eine besonders wertvolle Bereicherung und lassen Stadtgeschichte lebendig werden. Das Tagebuch von Dr. Wilhelm Brunner (1899–1944), dem letzten Bürgermeister der Stadt Kötzschenbroda, vermittelt Einblicke, unter welchen Umständen die Vereinigung von Kötzschenbroda mit Radebeul von statten ging. Der kötzschenbrodaer Bauer Karl Reiche (1920–2017) wiederum schildert in seiner jüngst erschienenen Autobiografie „Ein Leben mit der Landwirtschaft“.

Zu den wichtigsten Informationsquellen gehören Ortschroniken, Kirchenbücher, Personenstandsregister, Adressbücher, das Stadtlexikon, die Denkmaltopografie, die Schriftenreihe zur Stadtentwicklung, das integrierte Stadtentwicklungskonzept (INSEK), aber auch Festschriften, Vereinsdokumentationen, Brigadetagebücher, Hausbücher und, und, und …. Hinzu kommen Periodika wie „Vorschau und Rückblick“ oder die „Naundorfer Nachrichten“ sowie die lokale Tagespresse. Auch das Spektrum von themenbezogenen Sonderausstellungen ist äußerst vielfältig und aufschlussreich.

Was jedoch in Radebeul fehlt, ist ein zentraler öffentlich zugängiger Ort, an dem sich die Geschichte der Stadt und ihrer zehn Ursprungsgemeinden in aller Komplexität anhand von Sachzeugnissen zu Geologie, Besiedlung, Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Alltag, Politik, Kunst, Kultur, Architektur und Brauchtum sowie zu besonderen Ereignissen, sozialen Strukturen oder Persönlichkeiten usw. übersichtlich nachvollziehen lässt. Dass Radebeul die einzige Mittelstadt in Sachsen zu sein scheint, in der es kein Stadtmuseum gibt, könnte man schon fast als ein Alleinstellungsmerkmal hervorheben.

Wie es dazu kam, dass die Große Kreisstadt Radebeul eine Stadt ohne Stadtmuseum ist, vollzog sich gleitend und fast geräuschlos. Ab Mitte der 1980er Jahre begann sich die Museumsleitung zunehmend auf den inhaltlichen Schwerpunktbereich Weinbau zu konzentrieren. Aus dem einstigen Heimatmuseum Haus Hoflößnitz (bzw. Schloß Hoflößnitz) wurde das Weingutmuseum Hoflößnitz und schließlich das Sächsischen Weinbaumuseum Hoflößnitz. Der plötzlichen Erkenntnis, dass der Stadt Radebeul nunmehr etwas Wichtiges fehlen könnte, folgte die Bildung einer Arbeitsgruppe, welche eine Machbarkeitsstudie für ein künftiges Stadtmuseum erstellen sollte. Als mögliche Museumsstandorte wurden u. a. das ehemalige Postgebäude in Radebeul-West, das ehemalige Rathaus Niederlößnitz, das ehemalige Bahnhofsgebäude in Radebeul-West vorgeschlagen. Alle erarbeiteten Machbarkeits-Varianten wurden 2006 mit der Begründung zurückgewiesen, dass man die raren Steuergelder nicht mit einem Stadtmuseum „verfrühstücken“ könne.

Natürlich ist es preiswerter, sich mit fremden Federn zu schmücken. Doch die Abrechnung erfolgt zum Schluss, wenn man plötzlich als Stadt mit leeren Händen dasteht, so wie bei der Puppentheatersammlung oder dem Zeitreisemuseum.

Auch Träume können schnell zerplatzen. Vom lebendigen Handwerksmuseum in einer ehemaligen kötzschenbrodaer Korbmacherwerstatt blieb dem Verein „Zunftlade Hartmann-Hof e. V.“ nur das sorgfältig und kompetent erarbeitete Konzept. Das Heimatgeschichtliche Kabinett im ehemaligen Rosenhof hat es tatsächlich gegeben – aber leider nur für eine sehr kurze Zeit.

Warum erwähne ich das alles? Weil man aus der Vergangenheit lernen sollte. Andererseits will ich mit diesem Beitrag dazu anregen, einmal in Augenschein zu nehmen, was in den letzten Jahren außerhalb der etablierten musealen Einrichtungen entstanden ist.

Kötzschenbroda im Wandel – Abriss des Nähmaschinenteilewerkes (Nähmatag) im Februar 2013 Foto: K. (Gerhardt) Baum

Eine Sonderausstellung erinnerte im Herbst 2018 an das erste sanierte Gebäude in Altkötzschenbroda vor 25 Jahren Foto: K. (Gerhardt) Baum

Die Heimatstube Kötzschenbroda wurde 2006 eröffnet und befindet sich auf städtischem Grund und Boden im ehemaligen Auszugshaus eines historischen Dreiseitenhofes. Für das fehlende Stadtmuseum ist das natürlich kein Ersatz. In drei Etagen und auf einer Fläche von insgesamt etwa 30 m² können die Besucher etwas über die Geschichte und den gelebten Alltag von Kötzschenbroda erfahren. Die Bewirtschaftung der Einrichtung erfolgt durch die städtische Galerie in Zusammenarbeit mit der AG Kötzschenbroda. Eine Besichtigung ist auf Anfrage möglich.

Die AG Stadtmuseum wiederum durfte von 2010 bis 2013 das Dachgeschoß eines Schulgebäudes für Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Lagerzwecke nutzen. Danach erfolgte der Umzug in die wesentlich kleineren Räume des Wasaparkes, wo sich seit 2014 auch das Radebeuler Stadtarchiv und die Städtische Kunstsammlung befinden. Am neuen Standort haben seitens der AG keine Ausstellungen und Veranstaltungen mehr stattgefunden. Diesbezügliche Aktivitäten erfolgten extern.

Die 2011 eröffnete Naundorfer Heimatstube wird privat betrieben. Im Untergeschoß befindet sich ein Schreib- und Kreativcafé mit reichlich Platz für Workshops und kleine Feierlichkeiten. Im Obergeschoß werden alte Gebrauchs- und Einrichtungsgegenstände sowie Bild- und Textdokumente aus Naundorf gezeigt. Ein Großteil des ausgestellten Spielzeuges kann auch benutzt werden. Vor allem Familien sind herzlich willkommen. Die aktuellen Öffnungszeiten sind der Homepage zu entnehmen.

Das Bilz-Museum im Eingangsbereich des Bilzbadgeländes wurde durch den Bilzbund angeregt und ausgestaltet. In einem kleinen Gebäude mit original erhaltener Bausubstanz wird seit 2012 an das Wirken des Naturheilkundlers und Lebensreformers Friedrich Eduard Bilz (1842–1922) erinnert. Die Besichtigung kann während der Badesaison und darüber hinaus auf Anfrage beim Bilzbund erfolgen.

Zum 350. Jahrestag der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages zwischen Schweden und Sachsen im Pfarrhaus zu Kötzschenbroda wurde 1995 in der Friedenskirche ein Gedenkraum eingerichtet, der an dieses bedeutende Ereignis erinnert und zu den Öffnungszeiten der Kirche frei zugängig ist.

Auch die „Stolpersteine“ auf der Moritzburger Straße in Radebeul-West sind ein wichtiger Bestandteil unserer Erinnerungskultur, die es an die nächste Generation zu übermitteln gilt.

Engagierten Freizeithistorikern, Heimatforschern bzw. Multiakteuren wie Lieselotte Schließer (1918–2004), Isolde Klemmt (1927–2008), Gottfried Thiele (1936–2006), Hans-Georg Staudte, Erika Krause, Gudrun Täubert, Gert Morzinek oder Barbara Mazurek sind kaum jüngere nachgefolgt. Die IG Heimatgeschichte und der Kunstverein haben sich hauptsächlich wegen Überalterung aufgelöst. Gegenwärtig aktiv sind in Radebeul der „verein für denkmalpflege und neues bauen“, der Dorf- und Schulverein Naundorf, der Heimatverein Wahnsdorf, der Bilzbund, die AG Stadtmuseum und die AG Kötzschenbroda. Anzumerken wäre hier allerdings, dass diese Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Letztendlich ist festzustellen, dass in Bezug auf die beschriebene Problematik in Radebeul zahlreiche lose Enden existieren, die es miteinander zu verknüpfen gilt. Wer, was, wann und wo zu stadtgeschichtlichen Themen anbietet, das sollte für interessierte Heimatfreunde und Touristen in Form einer Übersicht unkompliziert ersichtlich sein. Auf den frischen Wind aus dem Radebeuler Kulturamt und die kreativen Impulse der Bürger, Künstler und Vereine sind wir vorurteilsfrei gespannt.

Der 750. Geburtstag von Kötzschenbroda könnte einen würdigen Anlass für Initiativen und Beiträge der unterschiedlichsten Form bieten. Die Redaktion des Monatsheftes „Vorschau und Rückblick“ würde sicher gern darüber berichten.

Karin (Gerhardt) Baum

 

Coswiger Straße 23

Coswiger Straße 23

Die neuzeitliche Zuordnung des Hauses ist etwas verwirrend, denn es liegt mehr in der Flucht der Meißner Straße als in der Coswiger Straße. Da war die alte Bezeichnung Altzitzschewig Nr. 2 (an der Torsäule) logischer.
Wir sehen hier den Grundtyp eines mittelgroßen Bauernhauses mit Fachwerk an den Langseiten, massivem Giebel und steilem Satteldach vor uns. Es ist aber nur noch der Rest eines ehemaligen Bauernhofes, die Scheune, ehemals auf der Südseite querstehend, fehlt schon lange, für ein Auszugshaus gibt es zZ. keinen Nachweis. Das Anwesen entstand um 1750 und hieß Trobischhof. Das Wohn-Stallhaus brannte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bis auf den nördlichen Giebel ab und wurde danach vereinfacht wieder aufgebaut, wobei der Südgiebel abgewalmt wurde. Bereits vor 1900 wurde die Landwirtschaft in eine Baumschule umgewandelt. Unter Georg Roßberg (Vater und Sohn gleichen Namens) war es das Wohnhaus einer Gärtnerei. Teile des EG wurden zuerst an einen Sattler und Tapezierer vermietet, es folgte ein Friseurgeschäft mit Schaufenstern nach der Straße und schließlich ein Laden der Firma Rodax, die hier Haushaltchemie verkaufte. Als Dr. Bernd Kastler um 2005 das Grundstück erwarb, herrschte Leerstand und beginnender Verfall der Substanz. Es wurde unter Denkmalauflagen und einem Projekt des Architekturbüro Scharrer saniert und dient heute unter dem Namen „Gaumenkitzel“ als Wein- und Speiselokal.

Dietrich Lohse

Aufwachen ins Jahr

Tobias Märksch

Schon vor langer Zeit träumte mir von
Quellen,
die aus dem Dunkelrot eines jeden Neujahrsmorgens steigen.

Doch ist die Nacht dann qualmschwer meist und
klirrt
nicht letztenjahresoft aus zertretenem Pfützeneis.

Mitternachts hatte ich die neue Zahl in
Luft
geschrieben, nur im Schwung sternensprühender Wunder,

und das Ausschlafen ist längst nächsten-
tags
verschoben. Lass uns auf einen Berg in der Weite laufen,

wo Gruß, Vertrautheit und heißer Honigwein zur Aussicht
warten
und ein Rinnsal in das Morgen Flüsse gebiert.

Auszüge aus den biographischen Notizen zu Bernhard Theilmann von Detlef Krell

Unser Monatsheft trägt den Untertitel: „für Radebeul und Umgebung“ und so haben wir uns für unsere Lyrikseiten 2021, den leider 2017 verstorbenen Dresdner Lyriker Bernhard Theilmann ausgesucht.

Erinnerungen an Bernhard Theilmann. Den Freund. Den Dichter. Den Familienvater. An das Räuspern des Geschichtenerzählers, an seinen Humor. An den Feingeist. Alexis Sorbas an der Elbe. Billardspieler, Skatfreund, Blueskenner, Chansonliebhaber, Tazabonnent, Bergsteiger, Koch, Hundefreund, Bocciabahnbauer, Maultrommelspieler. An den Raucher, Trinker, den Einzelgeher.
Den Leser, den Wortwerker, den Handwerker. Den Erkrankten. Den Dichter. Den Freund.
Am 28. März 1949 wird Bernhard Theilmann im Kurort Rathen in der Sächsischen Schweiz geboren.
Nach dem Abschluss der 10. Klasse erlernt Theilmann in der Victoria Heidenau den Beruf des Druckmaschinenbauers.
Nach dem Arbeitstag erwirbt er ab 1967 auf der Abendschule in Pirna das Abitur. Sein besonderes Interesse gilt der Literatur, er schreibt Gedichte.
Theilmanns Wehrpflicht endet mit der Ausmusterung wegen eines Herzfehlers.
Theilmann beginnt ein Studium der Kulturtheorie und Ästhetik an der Karl-Marx.Universität Leipzig und beendet es im Dezember offiziell mit der Begründung, er müsse sich um seine Familie kümmern. Mit dem Ausstieg aus dem Studium kommt er seiner Exmatrikulation zuvor.
Am 11. Mai 1972 heiraten Hanna-Rose [Faust] und Bernhard in Leipzig. Er nimmt [ Hanna-Roses
drei Kinder] als Söhne an. Das gemeinsame Kind […]wird 1972 geboren. Bernhard arbeitet als Werkzeugmacher in einer Fabrik für Blechspielzeug. Die Familie wohnt auf 35 Quadratmetern.
Als die Bildhauerin Kathrin Steisinger nach Berlin umzieht, übergibt sie ihre geräumige Wohnung in Dresden an Bernhard Theilmann.
Theilmann arbeitet als Maschinenschlosser, Hanna-Rose führt eine Betriebskantine.
Neben seiner beruflichen Tätigkeit ist Bernhard Theilmann als Lokalreporter unterwegs für das Sächsische Tageblatt. Nach dem unmissverständlichen Angebot eines inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit, die weitere journalistische Karriere durch IM-Tätigkeit zu befördern, betritt er die Redaktion nie wieder.
Gemeinsam mit Michael Wüstefeld wird Bernhard Theilmann aus der Dresdner Arbeitsgemeinschaft
Junger Autoren ausgeschlossen. Beide haben offen ihre Sympathie für Wolf Biermann und ihren Protest gegen dessen Ausbürgerung erklärt.
Beim Rat der Stadt Dresden beantragt Theilmann am 14, Juli 1977 die Druckgenehmigung für fünf Gedichte, die mit fünf Grafiken von [Eberhard] Göschel [dem langjährigen Freund] veröffentlicht werden sollen. Schließlich wird die Druckgenehmigung doch […] erteilt.
Während der Arbeit an der Auflage wissen Göschel, Theilmann und [Jochen]Lorenz [Drucker], daß sie nun einfach weitermachen werden. Gemeinsam mit Peter Herrmann und Ralf Winkler gründen sie die
Obergrabenpresse. Sie ist Druckwerkstatt, Galerie und Verlag. Etwas, das es unter den Verhältnissen der DDR gar nicht geben soll. Die Obergrabenpresse unternimmt mit der Herausgabe von Grafik-Lyrik-Editionen mit höchstem künstlerischen Anspruch nichts direkt Verbotenes, sondern etwas in den Hirnen der damaligen Macht Undenkbares. Theilmann: „Regen von unten.“ Das Credo der Gruppe ist nicht , eine Opposition zu formieren, sondern für sich selbst und ausgewählte Künstler Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, ohne Reglementierung.
Bernhard Theilmann ist nicht [immer] als Lyriker beteiligt.
Er ist der ohne große Worte und ohne Salär anerkannte Geschäftsführer der Obergrabenpresse, bis zu deren Beendigung im Jahr 2003.
Vor den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 engagiert sich Bernhard Theilmann im Bündnis Vereinigte Linke für eine souveräne DDR, die Umwandlung des Staatseigentums in gesellschaftliches Eigentum, Basisdemokratie und Abrüstung.
Im März 1990 erscheint das erste Heft des Stadtmagazins SAX. […] schon im Februar lud er [Bernhard Theilmann] zum Arbeitstreffen in seine Wohnung ein; die Stadt habe eine von der Vergangenheit unbelastete engagierte Zeitschrift nötig. Theilmann wurde als einer der beiden verantwortlichen Redakteure eingestellt.
Bernhard Theilmann vertritt konsequent einen engagierten Journalismus, der sich einmischt in die Belange der Stadt und dabei Haltung bewahrt. Bis 1993 wird er als Redakteur streitbar und geradlinig die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in seiner Heimatstadt hinterfragen und das Profil jeder Ausgabe des Monatsheftes schärfen, auch mit Ausstellungsbesprechungen, Buchrezensionen, Restaurantkritiken, mit Interviews, Porträts und immer wieder gern, bissigen Glossen. Theilmann wird namhafte Autoren für die Mitarbeit gewinnen, jungen Leute entdecken und ermutigen, Anzeigenkunden begeistern, Redaktionsbesprechungen bis in die Nachtstunden führen, wenn es das nächste Heft nötig hat.
Am 4. Oktober 1990 liest der Dresdner Lyriker im Deutschlandsender Kultur seine Gedichte zu Musik des Jazzgitarristen Joe Sachse. Unter den ausgewählten Gedichten: „Ich bin Miguel begegnet“ für Miguel Hernandez Gilabert, der am 28.März 1942, vom Franco-Regime zu dreißig Jahren Haft verurteilt, und im Gefängnis verstorben ist.
Von 1993 an schreibt Theilmann auch für die wöchentliche Szene-Seite der Sächsischen Zeitung.
Theilmann und der Drucker Jochen Lorenz reisen im Sommer 1995 auf Einladung der Künstlerkolonie ArtsAcre nach Calkutta zur Eröffnung der Ausstellung „Shuttle“. Sie ist ein Projekt der Obergraben-presse und der indischen Künstler.
Wieder in Dresden, wird Bernhard Theilmann plötzlich von schweren Krankheitssymptomen befallen. Eine konkrete Ursache wird nicht diagnostiziert.
1996 lädt ein Dresdner Reisebüro Journalisten ein, nach Peru zu fliegen und über die Reise zu berichten. Theilmann schreibt und fotografiert eine Reportage über die Salzterrassen von Maras bei Cuzco und die Menschen, die dort wie zu Zeiten der Inkas das Salz gewinnen.
Bald darauf brechen erneut Symptome seiner Erkrankung hervor. Die Ärzte stellen Borreliose fest.
Im Sommer 2001 erhält der Lyriker ein zweimonatiger Stipendium im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf. Er präsentiert dort die im Vorjahr bei der burgart-presse Rudolstadt verlegte Mappe „Piratensegel“ mit neun Gedichten von ihm und zehn Aquatintaradierungen von Göschel. Die Blätter hängen an einer Wäscheleine, der Dichter ist ganz in Weiß gekleidet. Er spielt auf der Maultrommel und liest seine Texte.
Aus einem Brief vom 23. August 2004:

zerbrochen ist meine maultrommel
die stählerne
geschmiedet
in der form des herzens
die mit mir sang
weil sie mich im atmen verstand

Am 13. August 2017 fällt Bernhard Theilmann ins Koma. Er stirbt im Kreis seiner Familie am 22.August. Seine letzte Ruhestätte findet er im Familiengrab auf dem Johannisfriedhof.

Detlef Krell

Gekürzte Fassung mit freundlicher Genehmigung
von Hanna-Rose Theilmann

 

Radebeuler Miniaturen

Was wird bleiben?
(für N.)

Morgenröte verkündet den neuen Tag.
Auf den Dächern der Häuser und im Geäst der hohen Bäume glitzert Raureif. Die Wiese glänzt wie von tausend Diamanten. Frühdunst schwebt über dem Wasser, und Susanna steigt, aufrecht, stolz und schön und ohne sich weiter um die Blicke der Neugierigen zu kümmern, aus dem Bade. In wärmende Wolle gehüllt setzt sie sich auf die Terrasse, atmet die Frische des erwachenden Tages und lauscht in die Stille hinein. Hin und wieder schwirren, eifersüchtig von den beiden Katzen beäugt, ein paar Meisen ums Vogelhaus. Susanna liebt das sanfte und doch auch harte Klack, mit dem sich die kleinen Federbällchen an die Brüstung krallen. Unten im Park reibt sich das Einhorn den Hals am schorfigen Stamm der alten Eiche und knabbert dann an der Rose.
Was wird bleiben von der Ruhe, sinniert Susanna, wenn der Stillstand Geschichte, die Pandemie bewältigt ist? Werden wir Langsamkeit gelernt haben, oder wird das Rasen noch irrsinniger als vorher?
Da geschieht etwas auch für Susanna höchst Merkwürdiges: Gemessenen Schrittes, ganz der feierlichen Morgenstimmung angepaßt, tritt ein Landschaftsgärtner aus dem Dunst und legt einen Laubbläser vor ihr auf die Terrasse. Mit einer angedeuteten Verbeugung verschwindet er im Ungewissen und macht einem Hausmeisterdienst Platz, der eine Motorsense und einen Laubsauger ablegt. Es folgen, zünftig in Ledermontur und mit Fransen an den Nähten, Biker mit ihren hochgetourten Maschinen, nicht mehr ganz so jugendliche Mopedpiloten, deren Maschinchen sich nur im Vollgas ganz langsam fortbewegen und dabei ein Geräusch verursachen, als würden sie über sich selber weinen. Die Reihe der Bringer reißt nicht ab. Schließlich liegen all die schweren Bohrhämmer vor Susanna auf der Terrasse, die Rüttelplatten, Motorspritzen, Rasenmäher, usw. usf., die uns übers Jahr den Aufenthalt im Freien unerträglich machen. Am Ende deckt ein Lufthansapilot den Kondensstreifen eines Überschallflugzeuges über alles Dargebrachte.
Susanna erhebt sich mit einem Lächeln.
Das braucht nun niemand wehr, sagt sie zum Einhorn und weist mit flinker Hand auf den Stapel der seltsamen Gaben, bring das hier weg, bevor sichs einer anders überlegt.
Die Zeit ist reif, heißt es im Lied.
Drauf steigt sie, ohne sich weiter um die Blicke der Neugierigen zu kümmern, ins Bad.
Leise beginnt es zu schneien.
Der Schnee macht die Stille noch tiefer.

Thomas Gerlach

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