Von Fall zu Fall: Die Flucht des Dissidenten

Eine Sonderausstellung im Lügenmuseum

Angeregt durch den Fall der Mauer vor fünfundzwanzig Jahren hat Richard von Gigantikow am 23. Mai im Lügenmuseum eine Sonderausstellung eröffnet. An Hand von Collagen, Lithografien und Objekten, die der Künstler meist gemeinsam mit seinem Freund und Wegbegleiter Albrecht Hillemann geschaffen hat, wird der Weg nachgezeichnet, den Reinhard Zabka zu gehen hatte, um Richard von Gigantikow werden zu können. In dem er die Ausstellung dem Gedenken an die friedliche Revolution widmet, stellt der Betreiber und Kurator sich und sein Museum in eine Reihe mit denjenigen Einrichtungen und Persönlichkeiten (die beginnt beim Bundestag und hört beim Dorfclub noch lange nicht auf), die Jahrestage und andere Äußerlichkeiten nutzen, innere Befindlichkeiten öffentlichkeitswirksam in Ordnung zu bringen. Er zeigt sich damit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit enger und deutlicher verbunden, als seine Kritiker wahrhaben wollen.

Emma von Hohenbüssow, die legendäre Gründerin des Museums fühlt sich inzwischen auch in dem noch immer weißgekachelten Raum der ehemaligen Fleischverkaufsstelle einigermaßen sicher. Dank ihrer Erfahrung, daß das Ei, dem sie ihre eigene Herkunft verdankt, von jemandem gelegt worden sein mußte, der noch früher da war, konnte sie das für die Ausstellung entscheidende Stichwort geben: Früher da war ziemlich alles ziemlich banal.

Zabkantikow hat das Banale materialisiert. In einer der Collagen vereinigte er schreibmaschinenschriftliche Zeilen zum Bild. Sie stammen aus offiziellen Schreiben diverser Staats- und anderer Räte, mit denen diese auf Einsprüche des Autors gegen die Ablehnung einer Urlaubsreise nach Ungarn reagierten.

Auf diese Weise bewahrt und dokumentiert der Betroffene Erinnerungen an Geschehnisse, von denen selbst die Bundeskanzlerin nicht müde wird zu betonen, daß sie nie vergessen werden dürfen: Erinnerungen an staatliche Willkür und die versuchte Unterdrückung von Individualität und freiem Gedankengut. Er bewahrt sie in puris naturalibus, also in lächerlicher Nacktheit. Damit ist er weit entfernt von jeder ostalgischen Verklärung, die sich nur gar zu gern und allzu rasch in der kabarettistischen Schwebe zwischen Das war nicht alles schlecht und Das war alles nicht schlecht so häuslich eingerichtet hat.

Noch während der Eröffnung wurde offenbar, daß, wie Emma zu Protokoll gab, damals sogar das freie Eierlegen aus Sicherheitsgründen untersagt war.

Doch auch in der Kunst gilt: Jede Aktion ist Re-aktion. Deshalb lag für viele Führungsoffiziere der Schluß nahe, Künstler seien reaktionär, was sie zu höherer Aufmerksamkeit spornte. Dabei kamen ihnen die zahlreichen Malergesellen zu Hilfe, die sich vor allem aufs Anschwärzen verstanden, was sich später an ge-schwärzten Unterlagen nicht mehr vollständig ablesen ließ. Auch dafür bietet die Ausstellung Beispiele.

Hier ist nun ein Hinweis von Kurt Schwitters wichtig: Für die Herren Kunstkritiker füge ich hinzu, daß es selbstverständlich ein weit größeres Können erfordert, aus der künstlerisch nicht geformten Natur ein Kunstwerk auszuschneiden, als aus einem eigenen künstlerischen Gesetz ein Kunstwerk mit beliebigem Material zusammenzubauen. (K. Schwitters: i, ein Manfest)

Auch auf die Gefahr hin, in Widerspruch zu biblischen Geboten zu geraten, ist jedermann aufgerufen, sich nicht nur ein Fest, sondern vor allem selbst ein Bild zu machen. Das ist bis Jahresende zu den Öffnungszeiten möglich, und ich füge hinzu: Es lohnt sich auf jeden Fall.

Thomas Gerlach

Mit Jürgen Stegmann auf Reisen durch Sprachwelten und Wörterdschungel

Der Radebeuler Schauspieler Jürgen Stegmann, über viele Jahre hinweg Ensemblemitglied der Landesbühnen Sachsen (bis 2012), machte bereits früher mit einem Balladen-Programm auf sich aufmerksam, das auf Schüler zugeschnitten war und deshalb gern von Schulen gebucht wurde. Nun, da er als freischaffender Schauspieler nicht mehr den Zwängen des Proben- und Spielplans eines überregional tätigen Reisetheaters unterworfen ist, hat er für mancherlei Projekte Zeit und Muße. Mehr »

Geschichte und Geschichten zum Mitfühlen und Mitdenken

Es gibt Wörter und Wortgruppen, die dem Englischen entspringen und in das Gegenwartsdeutsch eingeflossen sind, weil unsere Sprache keine vergleichbar präzise oder griffige Wendung den Sprechern zur Verfügung stellt. Eine solche Formulierung ist „Win-win-Situation“, womit man auf das englische Verb „to win“ (gewinnen) Bezug nimmt und ausdrückt, dass ein bestimmter Vorgang von allen beteiligten Personen als vorteilhaft empfunden wird. Mehr »

Die Villa „Eugenie“ auf der Eduard -Bilz -Straße 42 –

verein für denkmalpflege und neues bauen
ein Rückblick auf unsere Veranstaltung „Häuser und ihre Besitzer“ im Hause Szymkowiak

Anmutig und einladend liegt die schön restaurierte Villa im oberen Teil der ehemaligen Sophienstraße, der einstigen Vorzeigestraße der Baumeister Ziller. Hohe Bäume umrahmen das helle Gebäude, attraktive Blumenbüsche beleben die großen Rasenflächen. Eine Fontäne plätschert im Vorgarten. Im gebogten Giebel des Hauses steht der Name der Villa, EUGENIE Mehr »

10 Jahre Sächsischer Weinwanderweg

In diesem Jahr gibt es ein weiteres Jubiläum im Elbtal zu feiern oder genauer: zu begehen. Zwei Jahre nach der 20-Jahr-Feier der Sächsischen Weinstraße (für Autos) gilt es nun, den Weinwanderweg (für Fußgänger) gebührend zu beachten und zu beschildern.

www – galt diese Abkürzung bisher nur für das weltweite Netz, so verwenden Fachleute in diesem Jahr die Abkürzung für den WeinWanderWeg (das sächsische Element fällt weg, da es selbstverständlich ist). Das dazu gehörige Logo am Wegesrand zeigt eine stilisierte weinrote Traube mit einem großen S darüber in einem ovalen Rahmen.
1_pfeil
Initiator des 90 Kilometer langen Wanderwegs war damals Werner Starke, der dann auch Autor der Broschüre über den Sächsischen Weinwanderweg wurde. Er hatte bereits 1997, inspiriert durch das Wandern entlang der Deutschen Weinstraße, die Idee und wandte sich damit an den Tourismusverband Sächsisches Elbland und die Anlieger-Kommunen.
Nach vielen Begehungen und Hürden aller Art, vor allem bürokratischen, wurde der www im Jahr 2004 eingeweiht und gilt heute nicht nur als Wein-, sondern vor allem als Weitwanderweg mit sechs Tagesetappen, wenn man im Durchschnitt 15-18 Kilometer am Tag bzw. 5-6 Gehstunden zugrunde legt.

Natürlich gab es vorher schon Wege durch die oder entlang der Weinberge zwischen Pirna und Diesbar-Seußlitz, die seit alters her bestehen. Aber es bedurfte doch etlicher Initiativen, rühriger Ortsvereine – besonders auf dem Gebiet des Dresdner Elbhangs -, um den Weg durchgängig als solchen begehbar und erkennbar zu machen, das heißt: zu beschildern.
1_blaue-traube
„Dass die Route leider nicht immer dem idealen, landschaftlich schönsten Verlauf folgen kann, liegt in vielen Fällen am Privatbesitz von Wegen, an fehlenden Mitteln, bestimmte Wegabschnitte zu sanieren oder zu sichern, zum Teil aber auch an nicht nachvollziehbaren kommunalpolitischen Erwägungen“, schreibt Werner Starke in seinem Vorwort „zum Geleit“ in der Broschüre „Sächsischer Weinwanderweg“ (3. Auflage, 2008). Das hat sich bis heute nicht geändert.

Die Broschüre wird nicht mehr neu aufgelegt, ist aber noch für 4 Euro zu haben. Sie enthält zwar viele Infos, was sich am Wegesrand zu besichtigen und für die Einkehr lohnt, aber sie hat vor allem in kartographischer Hinsicht einige Mängel und insofern auch Beschwerden eingebracht, was die Reihenfolge der Karten und die Anschlusskarten betrifft. Auch erwies sich die Klebebindung als unpraktisch für die Wanderer während des Wanderns. Und schließlich waren die Aktualisierungen der Karten problematisch, da die Kartographie 2003 noch über den Lehrstuhl für Kartographie der Technischen Universität Dresden im Rahmen einer Diplomarbeit erstellt worden waren, die Diplomanden aber längst aus der Uni raus sind.

Weinwanderweg bei Diesbar-Seußlitz

Weinwanderweg bei Diesbar-Seußlitz


Auch heute im Jubiläumsjahr ist nicht alles perfekt. Deshalb hat sich es der Tourismusverband Sächsisches Elbland zur Aufgabe gemacht, zumindest die Beschilderung zu komplettieren, fehlende, gestohlene oder beschädigte Schilder zu erneuern. Mit Schildern, Nägeln und Farbe im Rucksack sind etliche Ehrenamtliche unterwegs: Es gibt zwei Kreiswegewarte (historisch bedingt durch den ehemaligen Landkreis Großenhain = Kreiswegewart Nord und den ehemaligen Landkreis Meißen = Kreiswegewart Süd) sowie die Ortswegewarte der neun (!) Anliegerkommunen. Alle Kreis- und Ortswegewarte arbeiten ehrenamtlich nur gegen eine kleine Aufwandsentschädigung. Ansonsten werden seitens der Orte auch Bauämter, Grünflächenämter o. ä. Bereiche einbezogen. Die Koordination läuft über die beiden Kreiswegewarte.

Größere Änderungen beim Routenverlauf des www soll es nicht geben, heißt es aus dem Tourismusverband Sächsisches Elbland. Die einzelnen Kommunen hatten ihre Etappen zur Korrektur erhalten, auch die Kreiswegewarte – aber da soll es nur kleine Ergänzungen am Rande der Strecke gegeben haben. Und in Pirna ist der Startpunkt verändert worden. Dies alles ist in eine neue Kartenmappe eingeflossen. Die Klarsichthülle enthält wieder die 6 Einzelkarten pro Etappe, größer und aufklappbar, dazu noch einen linkselbischen Wanderweg (allerdings ohne Beschilderung), jeweils im Maßstab 1:30.000. Sie finanziert sich aus Werbeeinnahmen und dem Verkauf zu 6,50 €. Auch die Anbindungen an den öffentlichen Nahverkehr sind darin aktualisiert worden – im Laufe von 10 Jahren erfolgten dort sicher die meisten Änderungen -, ebenso die Fotos. Wer keine Karten kaufen kann oder will, vertraut entweder auf die (verbesserte) Markierung entlang des 90 Kilometer langen Weges oder macht sich online vorher schlau: im www, und damit ist nun wirklich das world wide web gemeint.

Karin Funke

Editorial

Sommerabendvergnügungen in Radebeul 2.0 – das herrliche Wetter zieht die Menschen in ihre Gärten. Ein jeglicher sucht im Schutze des Grüns Erholung und Zerstreuung auf seine Weise. Während einige mit Bier, Wein oder Longdrinks auf Rekonvaleszenz bedacht sind, mühen sich andere mit schlichtem Gartengerät im Jäten und Grubbern. Ein Massenphänomen stellt allerdings die Schar der Grillmeister dar, deren nahezu täglich erprobten Künste die Abendluft mit einer verdächtigen Mischung aus gegrilltem Fleisch und Grillanzünder smokeartig schwängert. Aber all dies ist im Grunde Frieden pur. Gäbe es da nicht die rasch wachsende Zahl der modernen Kleingärtner, die sich »baumarktverwöhnt« ein Arsenal von nützlichen Ohrenquälern zulegen. Schließlich gibt es immer was zu tun. Ein Rasenmäher wirkt da hier noch wie ein Wiegenlied. Allseits beliebte Rasentrimmer haben da schon einen anderen Sound. Schreiende Sägen im Lichte der Abenddämmerung traktieren ganze Straßenzüge. Auch fauchende Flammenwerfer zur Bekämpfung des unerwünschten Unkrauts im Schnittgerinne mindern an Sonntagvormittagen nachhaltig den Erholungswert. Selbst für den Herbst gibt es für den ambitionierten Kleingärtner nunmehr ein neues Sportgerät: Das Laubgebläse. Aber, liebe Leserinnen und Leser. Es gibt noch eine nicht immer zu beneidende Anwohnerschaft, die vermeintlich zu den Privilegierten zählt: Nämlich die, die am Fuße der Weinberge residieren. So zauberhaft sich der Anblick darstellt, so trügerisch ist nicht selten die akustische Wirklichkeit. Im Umfeld der wenigen gewerblichen Winzer, bilden die zahllosen Hobbyweingärtner mit ihren in den Abendstunden am Limit laufenden Motorspritzen und Motorsensen eine hartnäckige Gilde. Naturgemäß frönen sie ihre Leidenschaft ja in den Feierabendstunden. Dennoch sollten wir dankbar sein, dass nicht wenige Weinbergverliebte mit ihrer Schufterei zum Erhalt der wertvollen Kulturlandschaft beitragen.

Sascha Graedtke

Zum Titelbild Juni 2014

Mit flottem Strich zeichnete Lieselotte-Finke Poser für unser Juni-Titelbild zwei Frösche. Den einen als Dirigenten, den anderen als Sänger. Vor allem der Sänger – vermutlich ein Tenor – wirkt ziemlich aufgeblasen, was wohl als ironischer Seitenhieb auf die Eitelkeiten in der Welt der Musik zu verstehen ist, zu der die Künstlerin seit jeher eine innige Beziehung pflegt. Der Großvater war Klavierbauer und der Vater führte die Familie jede Woche in die Oper. Obwohl die angehende Künstlerin eigentlich niemals heiraten wollte, war es die Musik, die sie mit dem Musikstudenten Willi Finke, ihrem späteren Mann, zusammenbrachte. Als dieser dann eine Flötisten-Stelle an den Landesbühnen Sachsen angeboten bekam, zog sie mit ihm nach Radebeul. Die Musik begleitet sie bis heute. Vor allem wenn sie malt oder zeichnet, hört sie dazu sehr gern klassische Musik. Als wenig musikalisch gilt hingegen der Frosch, was ihn jedoch kaum zu stören scheint. Völlig uneinsichtig sitzt er in jedem Tümpel, quakt zum Gott erbarmen und hält sich für einen großen Sänger. Sein Gesang indessen ist so schaurig, dass sich der Storch entschloss, dem Gequake ein wirksames Ende zu bereiten. Auch die Mäuse erklärten dem Frosch den Krieg und hätten zu guter Letzt die Götter nicht eingegriffen, so würde längst kein Frosch mehr an Schwarzes Teich den Chören zum alljährlichen Waldparksingen Konkurrenz machen können. Den Göttern sei Dank!

Karin (Gerhardt) Baum

David, 29

schmidtAm 29. April hat David Schmidt seine letzte große Reise angetreten. Mehr als genau 29 Jahre waren ihm hier nicht gegeben. Er war so vieles für viele Menschen in Radebeul und anderswo auf der Welt: Freund, Bruder, Gesinnungsgenosse, Punk, Rebell und Partner. Er hat sich immer wieder zu Wort gemeldet, im Stadtrat, in seiner Partei, unter Bürgern verschiedenster Auffassungen. Auch in dieser Zeitschrift. Schön, gerecht, demokratisch und nazifrei wollte er seine Heimatstadt haben. Wir werden ihn sehr vermissen, doch seine Inspiration wird weiterwirken.

 

David, 29

er war doch gerade noch da
und hat aus seinen augen geblitzt
hat sich für das essen bedankt und das bier
ist vor uns in pose gegangen für ein gartenfoto
hat gelacht über alle schmerzen hinweg

er kam doch gerade noch gelaufen
mühselig und langsam als lässig verpackt
aber lebendig

es ist ja nicht lange her
dass wir spaß mit marmelade gemacht haben
seine klitzige schrift steht noch auf den deckeln von
made in radebeul bio stachelbeer himbeer marmelade und
the stachelbär himbeer monster marmelade und
johannisbeer gelee lecker und bekömmlich

und ganz vor kurzem hat er sich für die massage bedankt
weil er dann seine füße wieder spüren konnte

jetzt schwebt er irgendwo
und wir versuchen seine hand zu fassen
verbunden zu bleiben
für spätere späße
bei denen er zuschauen und kichern kann

schnell noch hat er seiner liebsten eine amsel geschickt
black bird, mit beatles begleitung
und dem tip mit den gebrochenen flügeln weiter zu fliegen
wir haben das lied mitgepfiffen
singen hätten wir nicht gekonnt

so weit kann er einfach nicht weg sein
wenn wir wachsam bleiben
augenblitze gibt es immer wieder

lasst sie uns sammeln
sterntalergleich
und weitersprühen
überallhin

christine ruby

Wulf Kirstens Landschaft

Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers

Das Linkselbische liegt zwar in Sichtweite, aber der trennende Fluss hält uns auf Abstand. Grund genug, dem nahen und zugleich fernen Landstrich nachzuspüren – mit einem realen Besuch. Wer einen anderen oder ergänzenden Zugang zur jenseitigen Landschaft sucht, der möge im umfangreichen und nicht nur lyrischen Werk von Wulf Kirsten lesen.

Wulf Kirsten wurde am 21. Juni 1934 in Klipphausen geboren. Nach Tätigkeiten im kaufmännischen Bereich und sogar als Bauarbeiter verließ er erst 1957 den „häuslerwinkel“ seines Heimatdorfs, wobei er selbst den Begriff Heimat eher meidet – trotz aller gedanklichen Verwurzelung im ehemaligen Zuhause, um in Leipzig nach dem Abitur ein Pädagogik-Studium in den Fächern Deutsch und Russisch zu absolvieren.5-wulf-kirsten
Während der Leipziger Studienzeit bot ihm die „Deutsche Bücherei“ die Möglichkeit, sich erstmals umfassend in das gesamte verfügbare literarische Schaffen einzulesen. Sicher ein deutlicher Zugewinn für sein späteres Schreiben. Ein weiterer wichtiger Baustein dafür war das „Wörterbuch der obersächsischen Mundarten“, für das er während der Studienzeit mehr als 1000 Belege sammelte, von denen uns oft Bespiele in seinen Gedichten begegnen.
Nach dem Studium arbeitete er nur kurz als Lehrer. 1965 wurde er Lektor beim Aufbau- Verlag in Weimar und lebt seither dort. In dieser Zeit begann sein eigentliches Schreiben, auch im fruchtbaren Austausch mit schon namhaften Autoren. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller und Herausgeber.

Es ist kaum möglich, hier die Fülle seiner Arbeiten – Gedichte, Prosa, Reden, Aufsätze oder Beispiele seiner Herausgebertätigkeit – aufzulisten. Gleiches gilt für die mehr als 20 Literaturpreise und Auszeichnungen, mit denen man sein Werk würdigte.

Deshalb sollen hier eher die sächsischen Bezüge beleuchtet werden, die sein Schaffen ein ganzes Leben geprägt haben. Während der Kindheits- und Jugendjahre hat er sich in besonderer Einfühlsamkeit seine Heimatregion in all ihren Facetten angeeignet. Diese Eindrücke und Erkenntnisse aus dem Linkselbischen sind – wie er sagt – „pars pro toto“, ein unverrückbares Fundament seiner Landschaftsbetrachtung, und um Landschaft geht es fast immer: Landschaft in ihrer enormen Vielschichtigkeit, um ihrer selbst willen, aber auch als Metapher.
Kirsten hat sich immer wieder mit dem Landschaftsbegriff auseinandergesetzt. So sagt er etwa: „Meine Landschaft baut auf ein dicht verwobenes Geflecht, das auf Landschaftskunde, Landschaftsgeschichte gründet und dabei auch Naturgeschichte einbezieht. Bedeutsamer sind mir die historischen Schichten, die ihr aufliegen. Ebenso die sozialen Strukturen, ausgehend von der Siedlungsgeschichte. Eng damit verknüpft sind Bewohnbarkeit, Architektur, Agrargeschichte im zivilisatorisch-kulturellen Prozess. Davon abgeleitet Flächennutzungsmöglichkeiten Bodenbeschaffenheit und schließlich als moderne wissenschaftliche Errungenschaft das weite Feld der Ökologie, die bewusst gemacht hat, wie leichtfertig die Existenz der menschlichen Spezies zunehmend auf Selbstvernichtung zusteuert.“ Man sollte hinzufügen, dass auch der jeweils vorgefundenen Pflanzenwelt seine besondere Hinwendung gilt.
Aus diesem Verständnis heraus betrachtet und beschreibt er Landschaft, immer geleitet von den Erfahrungen mit seinem Linkselbischen.
Mit großer Detailtreue verdichtet er Landschaft in seiner ganz eigenen lyrischen Sprache, die bewusst „körnig“ und spröde sein soll. Er will Landschaft poetisieren, nicht romantisieren. Das setzt innere Distanz zum Sujet voraus, die aber erst gewonnen werden muss. Wer sich über mehr als 60 Jahre immer wieder mit demselben Gegenstand befasst, muss eine tiefe innere Bindung zu ihm haben. Man könnte auch von ungebrochener Landschaftsliebe reden. Unbeteiligt bleibt er, der „Landschafter“ jedenfalls nie.

Der erstmals 1970 erschienene Lyrikband „erde bei meißen“ umfasst zahlreiche Gedichte, die dem Linkselbischen gelten – so etwa „schloß Scharfenberg“ oder „klosterruine Altzella“, aber ebenso der anderen Elbseite gewidmet sind: „selbdritt durch die Lößnitz“, um nur einige Beispiele zu nennen.
Auch später beschäftigt ihn – längst in Thüringen zu Hause – seine Herkunftsregion. 1999 entstand das „große randseil“ – eine Betrachtung des Linkselbischen von Radebeul aus. Das Gedicht entstand in seiner Zeit als Stadtschreiber von Dresden in Zusammenarbeit mit dem leider zu früh verstorbenen Werner Wittig, und es heißt darin: …kirchtürme von der sonne ins land gestaucht, erinnerungspunkte, überelbisch gesetzt, die mir nachhelfen wollen, hinaufzukommen und hinweg über das große randseil, wenn ich nur wüsste, wer das flußband so benannt hat vorzeiten …
2000 erschienen unter dem Titel „Die Prinzessinnen im Krautgarten“ seine Kindheits-erinnerungen aus den letzten Kriegsjahren, die zugleich ein Stück Heimat- und auch Landschaftsgeschichte von Klipphausen festhalten. Nur wenige Beispiele aus seinem Werk.
Sein für uns wohl wichtigstes Verdienst ist es, einen eher „unberühmten“, aber uns nahen Landstrich zu poetisieren und ihm damit einen besonderen Wert zu verleihen.

Dafür ist ihm zu danken, und es bleibt, ihm zu seinem 80. Geburtstag alles Gute zu wünschen
und noch viele gesunde Jahre – auch für sein weiteres lyrisches Wirken, das sein Fundament im Linkselbischen hat und uns bereichert.

Dr. Ulrike Schaksmeier

Gedanken über die Elbe hinüber – gibt es etwas Verbindendes?

Prof. Högg

Prof. Högg an seinem 80. Geburtstag 1947

Ein Fluss von der Größe der Elbe bei Dresden kann schon trennend wirken für Städte und Dörfer am linken und rechten Ufer. Die Menschen haben aber über die Jahrhunderte bis heute immer wieder nach Möglichkeiten gesucht, um diese Trennung zu überwinden.
Da wir uns in der Redaktion seit diesem Jahr vorgenommen haben, Vorschau & Rückblick auch „drüben“ anzubieten, wollen wir auch Themen von dort, also über Gohlis, Cossebaude oder Niederwartha, aufgreifen. Mein heutiges Anliegen ist es, ältere Verbindungen über die Elbe im Raum Radebeul skizzenartig darzustellen und ein Thema – das Pumpspeicherwerk Niederwartha und seine Schöpfer – deutlicher herauszuarbeiten.
Eine wichtige historische Verbindung erfolgte 1645: dem Waffenstillstand der Schweden mit den Sachsen im Pfarrhaus von Kötzschenbroda ging eine Vorverhandlung in Cossebaude voraus bis schließlich der Dreißigjährige Krieg 1648 mit dem Westfälischen Frieden endgültig beendet werden konnte.
Die älteste Verbindung zwischen Kötzschenbroda und Cossebaude dürfte eine Furt, eine Stelle am Fluss an der Wagen und Gespanne diesen bei Normalwasser queren konnten, gewesen sein. Das war nicht ungefährlich, aber im Mittelalter auch andernorts durchaus üblich. Ich vermute diese Furt am untersten Ende der Bahnhofstraße, da, wo der Elbradweg in die Streuobstwiesen abbiegt. Genau da steht ein Sandstein-Wegweiserstein aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, leider über die Jahre stark beschädigt und was die Schrift anbetrifft, kaum lesbar. Noch im 18. Jahrhundert waren Kötzschenbrodaer Bauern von den Wettinern als Landesherren verpflichtet worden, etliche Sensen- und Sicheltage im Jahr im Bereich des kurfürstlichen Vorwerks Ostra (Ostragehege) zu erbringen – wie kamen sie über die Elbe? Die nächsten Brücken waren zu der Zeit in Dresden oder in Meißen.
Von alters her gab es natürlich auch Fähren zur Querung der Elbe. An Personenfähren zwischen Serkowitz und Gohlis und im Raum der späteren Berliner Eisenbahnstrecke werden sich einige noch erinnern, eine Wagenfähre gibt es heute noch bei Coswig. Man erkennt, um eine Wagenfähre zu erreichen, musste man schon mal Umwege fahren. Fähren waren auch nicht immer einsetzbar, bei Hochwasser oder Eisgang etwa. Aber schließlich entstand 1875 bei Niederwartha eine Eisenbahnbrücke, die neben den Gleisen auch eine schmale Fahrspur für Fuhrwerke und später auch Autos erhielt. Noch am 8. Mai 1945 wurde diese Brücke gesprengt, sinnlos, denn da war der Krieg längst verloren. Die Reparatur der Brücke hatte zunächst nur das Ziel, den Eisenbahnverkehr wieder zum Laufen zu bringen. Viel später erst wurde eine Spur für Fußgänger und Radfahrer errichtet. Fahrverkehr für PKW und LKW über die Elbe war erst seit Dezember 2011 durch die neue Straßenbrücke wieder möglich.

7-pumpspeicherwerk-II

PSW Verwaltungsgebäude 1930


Ein Phänomen waren aber auch die „überelbischen“ Besitzungen von Bauern aus Naundorf und Kötzschenbroda. Es waren Streifenfluren am späteren Niederwarthaer Brückenkopf, die seit der frühen Neuzeit (etwa 16. Jahrhundert) bestanden. Bauer Karl Reiche (Altkötzschenbroda 45) erinnert sich, dass er als Kind zusammen mit seinem Vater auf der anderen Elbseite Heu gemacht und es dann mit dem Pferdewagen über die Brücke rübergeholt hatte. Die „überelbischen“ Wiesen (etwas über 50 ha) sollten 1928 den Radebeuler Bauern bis auf eine kleine Restfläche für den Bau eines Pumpspeicherwerkes genommen werden. Da die Bauern damit nicht einverstanden waren, folgte ein Rechtsstreit, der erst 1952 offiziell beendet wurde. Das Werk und vor allem das große Unterbecken wurden trotzdem gebaut.
Ältere Stadtpläne zeigen noch den alten Grenzverlauf mit „unseren“ Wiesen auf der linken Elbseite, spätere Pläne (so 1957) lassen nur einen schmalen, praktisch nicht nutzbaren Streifen direkt an der Elbe erkennen und nach 1989 fehlt dieser dann auch – die Grenze zwischen Dresden und Radebeul verläuft nun sinnvoller Weise in der Flussmitte.
Da fällt mir gerade eine elbübergreifende Kindheitserinnerung ein. Es dürfte 1952 gewesen sein, als ein Klassenausflug von Oberlößnitz zum Osterberg auf dem Plan stand. Damals wurde die Gaststätte auf dem Osterberg noch bewirtschaftet und außer Gaudi gab es grüne Faßbrause.
Eine die Elbe übergreifende Idee, genauer gesagt ein Projekt, war schließlich der Bau des Pumpspeicherwerkes in Ober- und Niederwartha, weil zwei damals in Radebeul lebende Architekten, Prof. Emil Högg und Dr. Friedrich Rötschke, den Auftrag für die Planung der Großbaustelle am linken Elbufer bekamen. In ihrem Dresdner Büro arbeiteten sie daran von 1929 – 30 (Restarbeiten noch bis 1933). Die technischen Möglichkeiten eines Pumpspeicherwerkes unter Ausnutzung der topografischen Verhältnisse, also durch bewusste Steuerung den richtigen Zeitpunkt zu finden, wann das Wasser vom Oberbecken ins Unterbecken fließen muss, damit der Strom aus dem Pumpspeicherwerk dann fließt, wenn die Stadt den größten Strombedarf hat, war im Murgtal in der Schweiz bereits zwischen 1914 und 18 getestet worden. Der Unterschied bestand in der Größenordnung: das Murgwerk lieferte max. 22 MW, das PSW Niederwartha 1930 dagegen 132 MW Strom, das ist mehr als das Fünffache! Das Herz der Anlage waren sechs Turbinen der Fa. AEG, die durch Umschalten auch als Pumpen arbeiten konnten – die Technik ist über die Jahre erneuert, bzw. erweitert worden, ich glaube, zuletzt sah ich noch eine letzte AEG-Turbine. Für das technologische Projekt waren andere Ingenieure zuständig, Högg und Rötschke lieferten die baulichen Hüllen dazu. Ob sie auch für die Einordnung der Gesamtanlage in die Landschaft verantwortlich waren, kann ich nur vermuten. Fest steht aber, dass dieser Industriebau eine der größten Aufgaben im Büro Högg (u.a. Kraftwerk Böhlen oder Fotowerk Ernemann in Dresden) gewesen ist. Professor Högg, über dessen Leben und Wirken ich bereits in Heft 8, 1994, V&R schrieb, näherte sich sehr vorsichtig dem modernen Bauen im 1. Viertel des 20. Jh. an. So wetterte er in einer seiner frühen Publikationen über Häuser mit Flachdächern, die nichts in Deutschland zu suchen hätten, ja, er beschimpfte diese Art zu bauen als Kameltreiberhäuser! Diese starre, wohl auch nationalistische Haltung überwand er jedoch bei den Bauten des Pumpspeicherwerkes und kommt hier der Bauhausarchitektur recht nahe. Vielleicht war das der Einfluss seines jüngeren Partners Rötschke. Dass er hier Klinkersteine für die Fassaden verwendete, hängt wohl mit seiner Schaffensphase in Bremen (1904-11) zusammen – in Norddeutschland haben Klinker eine lange Tradition. Ein besonderer gestalterischer Reiz wird in Niederwartha dadurch erreicht, dass die Klinker abweichend vom klassischen Ziegelverband bildhaft-geometrische Muster zeigen. Technologisch bedingte Bauteile werden in Sichtbeton von den Klinkerflächen abgesetzt. Horizontale Fensterbänder schaffen helle Räume und gliedern zusätzlich die großen Fassaden. Spaziergänger und Vorbeifahrende empfinden das Gebäudeensemble des Pumpspeicherwerkes immer noch als moderne Architektur, und das noch nach mittlerweile über 80 Jahren! Von den Radebeuler Höhen nimmt man dagegen als erstes die spiegelnde Wasserfläche des Unterbeckens wahr.
Eine andere Verbindung über die Elbe hat sich daraus ergeben, dass wir seit Jahrzehnten über eine 110-KV-Freileitung Strom vom an das Pumpspeicherwerk angeschlossenen Umspannwerk beziehen. Welche künftigen Absichten die schwedische Firma Vattenfall mit dem Pumpspeicherwerk hat, ist derzeit in Diskussion. Hier spielen die aktuelle Preispolitik und spezielle Bindungen von erzeugtem Strom eine eher negative Rolle, was wiederum die geniale Erfindung von Pumpspeicherwerken leider in Frage stellt. Ich hoffe, dass die Unterschutzstellung der Anlage als Kulturdenkmal einen Erhalt bei gleichzeitiger Nutzung sichern wird.

7-pumpspeicherwerk-I

Fertiggestellte Turbinenhalle 1930

Ich hoffe weiterhin, dass die neue Straßenbrücke weitere gute nachbarschaftliche Beziehungen über die Elbe hinweg befördern kann und dass die Probleme von fehlenden Folgemaßnahmen zur Anbindung des südlichen Brückenkopfes an die Autobahn bzw. an Dresden (es hängt, glaube ich, am Geld) bald gelöst werden.
Fazit: Trotz breiter Elbe gibt es m.E. mehr Verbindendes als Trennendes!
Ich bedanke mich herzlich für Unterstützung und Information bei Frau Moosche (Tochter von Dr. Rötschke, Radebeul), Frau Butze aus Cossebaude, Herrn Karl Reiche (in Kötzschenbroda nur als „Bauer Reiche“ bekannt), Herrn Andert, Radebeul und Herrn Lange (Leiter des Radebeuler Kulturamtes).

Dietrich Lohse

Copyright © 2007-2025 Vorschau und Rückblick. Alle Rechte vorbehalten.