Fast eine Glosse

Aufgewacht!

Da kennt die Welt oder zumindest die deutschsprachige, so manche unschuldigen Sprüche. Etwa wie „Gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen“ oder „Wer schläft, der sündigt nicht“. Zumindest Letzterer wiederum ist so urdeutsch nun auch nicht. Diesen Spruch kann man in Slowenien, in Italien hören und neuerdings auch in den USA. Aber besitzen denn diese ollen Kamellen heute noch Gültigkeit?
Das mit dem Gewissen haben wir ja längst über Bord der riesigen Fressdampfer geworfen, auf denen sich der kleine Mann und die kleine Frau wie Gott und Göttin in Frankreich fühlen dürfen. Da werden die Schöpfer des legendären Filmes Das große Fressen mit den großen Schauspielern Michel Piccoli, Marcello Mastroianni und Philippe Noiret 1973 wohl regelrecht eine göttliche Eingebung gehabt haben. Heute hat man es nicht mehr nötig, sich hinter zugezogenen Vorhängen heimlich in einer Privatwohnung den Bauch vollzuschlagen. Seit dem in den 1990er Jahren die Mega-Kreuzfahrtschiffe aufkamen, lässt sich die Völlerei in aller Öffentlichkeit betreiben. All-Inclusive!
Dieses Thema beschäftigt die Menschheit ja schon seit langem. Bekannt ist sicher vielen der Gebrauch von Gänsefedern bei römischen Festessen im Altertum oder das spezielle Gemälde des Georg Emanuel Opitz von 1804 über einen bestimmten Personentyp.
Sei es drum, über Völlerei wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, wohl aber darüber, ob man heute aus alten Weisheiten noch etwas lernen kann. Also, zurück zur Sünde.
Das ist nun wieder so ein Begriff, bei dem ich mich nicht mehr so ganz sicher fühle, ob der heutzutage überhaupt noch zu gebrauchen ist. Zumindest in Sachsen ist doch der überwiegende Teil der Bevölkerung keiner Religion mehr zuzurechnen. Aber egal, dass was einmal Sünde war, ist heute sowieso anders. Und werden sie nicht ständig übertreten, die göttlichen Gebote? Das fängt doch nicht erst beim „du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“ an. Das Wort „Sünde“ hat außerdem längst in die Alltagssprache Eingang gefunden, wie zum Beispiel die Bezeichnungen „Parksünder“ oder „Bausünde“ belegen.
Da können die Radebeuler auch ein Lied davon singen. Und ich wüsste so manches Objekt, welches gut und gerne in Turit Fröbes Publikation Die Kunst der Bausünde von 2013 passen würde. Fast jede Stadt hat so ihre Bausünden – die guten wie die schlechten. Hamburg zum Beispiel „versteckte“ bisher die ihren am Stadtrand.
Die meisten Bausünden findet man bei den Eigenheimbauern, erkannte die Architekturhistorikerin Fröbe. Aber auch Gebäude der öffentlichen Hand oder der privaten Wirtschaft sind nicht immer in makelloser Architektur errichtet. Wir müssen da nicht erst mit der Straßenbahn bis nach Dresden fahren. Es reicht schon, wenn wir in Radebeul-Ost an der Haltestelle „Hauptstraße“ aussteigen. Freilich gibt es immer noch Steigerungen. In Gera habe ich mal einen Plattenbau gesehen, dessen Fassade mit Fachwerkhäusern bemalt war. Farbe aber macht eben doch nicht alles. Und das Interessante ist bei dieser Entwicklung, dass die Bauindustrie mittlerweile „Bausünden von der Stange“ anbietet. Ist eigentlich schade, weil dadurch die kreative Energie der Bürger verloren geht.
Auch wenn Radebeul nicht mehr über viel freie Baufläche verfügt, ist das Kapitel keinesfalls abgeschlossen. Und Bausünden kann man ja nicht nur an oder mit Gebäuden begehen. Überall, wo gebaut oder instandgesetzt wird, besteht dafür wieder eine reelle Chance. Denn bedenken sollte man, dass Bausünden eine ungeheure Anziehungskraft auf Touristen ausüben.
Also, aufgewacht! Die Chancen sollten nicht verschlafen werden. Denn wer schläft, sündigt in diesem Fall, meint

Euer Motzi.

Lügenmuseum in Radebeul (un)erwünscht?

Oder ein Plädoyer für Kunst und Künstler, diesmal in einfacher Sprache

Die meisten Besucher kommen per Fahrrad ins Lügenmuseum, 2023, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Bereits zum dritten Mal wurde der historische Gasthof Serkowitz in kurzer Folge von der Großen Kreisstadt Radebeul zum Verkauf ausgeschrieben. Das darin befindliche Museum mit dem kreativen Künstlerteam und den vielen außergewöhnlichen Exponaten spielt im Ausschreibungstext keine Rolle. Man scheint darauf verzichten zu können, ohne genau zu wissen, was man damit verliert. Stattdessen wird „eine öffentliche Nutzung, vorzugsweise als Gaststätte mit angegliedertem Saal“ bevorzugt. Dass dann endlich Ruhe in Altserkkowitz einzieht, darf allerdings bezweifelt werden, denn eine Gastwirtschaft mit Saal muss sich rechnen. Statt der Museumsbesucher, die heute überwiegend mit dem Fahrrad kommen, werden die Gäste dann wohl hauptsächlich mit PKWs und Bussen anreisen.
Eindeutig auf der monetären Gewinnerseite befindet sich die Radebeuler Stadtverwaltung. Sie macht mit der Transaktion keinen Verlust. Das Objekt wurde für 10.000 Euro ersteigert. Verkauft werden soll es nun für 310.000 Euro. Wenn man alle Ausgaben für bisherige Sanierungsarbeiten und sonstige Maßnahmen abzieht, bleibt immer noch ein stattliches Sümmchen übrig, um es in den städtischen Haushalt einfließen zu lassen. Aus Sicht der Steuerzahler hat der „Konzern Stadt“ sehr klever gehandelt. Respekt!
Auf der Gewinnerseite befindet sich die Radebeuler Stadtverwaltung auch noch aus einem anderen Grund. Seit 2012 schmückt sie sich mit dem überregional bekannten Kunstmuseum, obwohl dieses ja angeblich gar kein richtiges Museum ist und mit seiner „Ansammlung von Flohmarkt-Exponaten“ das Image der Lößnitzstadt als Premiummarke vor den Toren der Kulturstadt Dresden (laut einem Gutachten) beschädigen könnte.
Unbeeindruckt von dieser Verächtlichmachung hält das Lügenmuseum regelmäßige Öffnungszeiten vor, ohne die Stadtverwaltung mit Personalkosten zu belasten. Geöffnet ist diese Kultureinrichtung seit 2012 zuverlässig jeden Samstag und Sonntag sowie während der Schulferien und an den Feiertagen von 13 bis 18 Uhr. Was nicht nur mich empört ist, dass die Leistungen des Kunstpreisträgers Reinhard Zabka und all seiner motivierten Mitstreiter eine unbeschreibliche Geringschätzung erfahren.
Als ehemalige Stadtgaleristin habe ich mich immer als eine Art Dolmetscherin verstanden, zwischen den produzierenden Künstlern und den konsumierenden Kunstbetrachtern. Missverständnisse inklusive! Das Lügenmuseum provoziert und polarisiert. Nicht jeder findet das lustig. Andererseits habe ich in Besucherbüchern selten so geistreiche Eintragungen gelesen. Einen Grund muss es doch geben, dass es so viele Menschen drängt, ihre Gedanken und Empfindungen zu beschreiben. Und das nicht nur im Besucherbuch! Andererseits scheint es auch Gründe zu geben, dass der Verbleib des Lügenmuseums im Gasthof Serkowiztz selbst nach zehnjährigem Museumsbetrieb einigen Menschen bis heute ein Dorn im Auge ist.
Meine Arbeitsbeziehung zu Reinhard Zabka alias Richard von Gigantikow begann im Jahr 2009. In Vorbereitung der Ausstellung „Der Schein des Seins“ war ich im Gutshaus Gantikow bei Kyritz an der Knatter, wo sich seit 1997 das von ihm gegründete Lügenmuseum befand. Vor Ort wählten wir einige Exponate von Zabka aus, welche in der Radebeuler Stadtgalerie gezeigt werden sollten. Das Museum mit dem seltsamen Namen hatte mich in seiner künstlerischen Komplexität stark beeindruckt und meine Erwartungen bei Weitem übertroffen. Durch das seit 1999 zum Herbst- und Weinfest errichtete Labyrinth war mir der Künstler Reinhard Zabka bereits ein Begriff. Als es dann hieß, das Lügenmuseum zieht nach Radebeul, konnte ich es kaum fassen.

Originelles Wegweisersystem aus Abfallhölzern vorm Lügenmuseum, 2023, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Das begehbare Labyrinth auf den Elbwiesen, 2012, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Dass ich einmal in der 42-teiligen „Tatort Radebeul“ Serie als „Kulturleiche“ ende, war damals noch nicht abzusehen. Freud und Leid liegen eben dicht beieinander! Auch für den brandenburgische Museumsverband, der immer stolz auf „sein“ Lügenmuseum gewesen ist, wie Susanne Köstering 2014 in ihrer Laudatio zur Verleihung des Kunstpreises an Reinhard Zabka bekannte, war der Wegzug ein kultureller Verlust.
Innerhalb der Radebeuler Künstlerschaft gehen die Meinungen zum Lügenmuseum weit auseinander, so wie ja auch die jeweiligen Künstler sehr verschieden sind. Zu den bekennenden Team-Akteuren, die an verschiedenen Projekten unter der künstlerischen Leitung von Zabka immer wieder aktiv mitwirken, gehört der 82jährige Freigeist, Restaurator, Performer, Maler, Grafiker, Objektbauer, Literatur-, Film- und Jazzkenner Klaus Liebscher. Allerdings haben sich auch andere Radebeuler Künstler wie Sophie Cau, Cornelia Konheiser, Jan Oelker, André Wirsig, Dorothee Kuhbandner, André Uhlig, Günter „Baby“ Sommer oder Thomas Gerlach bereits mehrfach an verschiedenen Projekten und Aktionen beteiligt. Die vielen anderen, auch internationalen Künstler seien hier aus Platzgründen nicht genannt.
Die erneute Aussschreibung des Gasthofes Serkowitz im August 2023, bot den aktuellen Anlass, um Sinn und Nutzen des Lügenmuseums noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Aber wo anfangen?
Im ehemaligen Serkowitzer Gasthof befinden sich nicht nur die Exponate des Lügenmuseums. Hier wird geplant, gefachsimpelt, getüftelt und produziert. Hier befindet sich das Basislager, von dem Kontakte zu Künstlern in aller Welt geknüpft und in kurzen Abständen immer wieder neue kreative Signale ausgesendet werden. Allerdings fällt es nicht immer leicht, der schnellen Taktung zu folgen. Auch die Homepage ist eine große Herausforderung mit ihren ständig wechselnden Texten, Fotografien und Filmen.
Es gibt in Radebeul keinen zweiten Kunstort, der so experimentierfreudig, gegenwartsbezogen, philosophisch, gesellschaftskritisch und weltoffen ist! Für Künstler und Bürger bieten sich zahlreiche Möglichkeiten zur kreativen Mitwirkung. Sei es an themenorientierten Projekten, Workshops, Gesprächsrunden oder verschiedenen Festivitäten.

Veranika Chykalava, Belarus, »Maya« (Kuh), Henkelkunst, Mischtechnik, 2023, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Getúlio Damado, Brasilien, »Lauraalicy«, Figur, Mischtechnik, 2017, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Komatsu Tsunetaka, Japan, »Das niedrigste Storchennest Deutschlands«, Objekt, 1995, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Projekte wie „Funken schlagen“ oder „Kunstbrücke“ dienten der Vernetzung von Kunst- und Kulturschaffenden dies- und jenseits der Elbe. Dabei ging es u. a. um die öffentliche Wahrnehmung unterschiedlicher Kunstorte sowie um die Belebung leerstehender Gebäude. Zu den offenen Diskussionsrunden waren Gemeindevertreter, Projektentwickler, Innenstadtmanager, Touristiker, Kulturarbeiter, Museumsleiter, Galeristen, Künstler, Politiker und Interessierte eingeladen.
Selbst in der schwierigen Corona Zeit herrschte vor und hinter den Kulissen des Lügenmuseums kein Stillstand. So wurde das „Museum to go“ erfunden, die „Fassadengalerie“ eröffnet und auf dem Dorfanger von Serkowitz mit Künstlern und Anwohnern die „Offene Kunsthalle“ initiiert.
Erst kürzlich fanden einige Workshops zur Produktentwicklung aus Recyclingmaterialien statt. Entstanden sind u.a. Kunstwerke mit Henkel, die man wie eine Gucci-Tasche ausführen kann, bizarre Leuchtobjekte und originelle Ohranhänger. Erwerben kann man die Unikate im neu entstandenen Museumsshop.
Während das Lügenmuseum für viele Künstler ein Produktionsort ist, können sich die Museumsbesucher in eine Welt der Träume, Kindheitserinnerungen und Absurditäten begeben.
Hier werden alle Sinne gleichzeitig angesprochen. Die Kunstwerke bewegen sich, klappern oder blinken. Film-, Bild- und Tondokumente werden raffiniert (gewollt beiläufig) präsentiert. Den roten Faden muss jeder selber finden. Die einstige Museumsgründerin Emma von Hohenbüssow, kann keine museumspädagogische Hilfestellung mehr leisten. Ihr legitimer Nachfolger Richard von Gigantikow trägt leider auch nur wenig zur Aufklärung bei und stiftet eher noch mehr Verwirrung, indem er Lüge und Wahrheit geschickt vermengt. Trotzdem sollte man sich den Lügentee und seine fantasievollen Geschichten nicht entgehen lassen, sind sie doch ein Bestandteil des Gesamtkunstwerkes „Lügenmuseum“. Eigenständige Entdeckungstouren sind beim nächsten und übernächsten Museumsbesuch empfehlens- und lohnenswert.

Die (späteren) Radebeuler Kunstpreisträger Helmut Raeder und Reinhard Zabka im Gespräch, 2005 Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Die Künstlerinnen Dorota Zabka und Veranika Chykalava, 2023, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Wenngleich Reinhard Zabka alias Richard von Gigantikow Erfinder, Leiter, Kurator und mediales Aushängeschild des Lügenmuseums ist, werden sowohl das Museum als auch die vielen Projekte von Künstlern aus aller Welt geprägt. Die Exponate der thematischen Rauminszenierungen stammen von bekannten und völlig unbekannten Künstlern aus Deutschland, Polen, Chile, England, Thailand, China, Burma, Indonesien, Japan, Italien, Marokko, Mali, Frankreich, Bulgarien, Holland, Persien…
Einen interessanten Ausstellungsschwerpunkt bildet die Rauminszenierung „Interieur Underground“. Sie gibt Einblick in die Boheme und Subkultur der späten DDR. Zu sehen sind im konspirativen Ambiente zahlreiche Werke rand- und widerständiger Künstler, die sich eigener Codes und künstlerischer Mittel bedienten, darunter Arbeiten von Cornelia Schleime, Harald Hauswald, Lutz Fleischer, Gabriele Stötzer, Jürgen Gottschalk, Ellen Steger, Günter Starke… und natürlich auch Reinhard Zabka.
In Vorbereitung einer speziellen Museumsführung zur „Langen Nacht der Frauen“ arbeitete ich erstmals mit Dorota Zabka (44) und Veranika Chykalava (41) zusammen. Meine Neugier war geweckt und ich wollte mehr über die beiden Frauen erfahren.
Dorota Zabka wurde in Polen geboren und lebt seit über zwanzig Jahren in Deutschland. Sie ist die Vorsitzende des Vereins „Kunst der Lüge“ e.V.. Der 2008 in Kyritz gegründete Verein fördert Kunst, Kultur und Denkmalpflege, im Besonderen das Lügenmuseum als Gesamtkunstwerk, den Dialog der Kulturen, internationale Kunstprojekte und soziokulturelle Aktivitäten. Dorota gehört zum engeren Team des Lügenmuseums. Sie ist zuständig für die Beantragung von Fördermitteln, die Organisation von Projekten und die Betreuung der Webseite, wirkt künstlerisch-gestalterisch mit, hilft bei Sanierungsarbeiten und Kleinstreparaturen. Sie ist davon überzeugt, „dass das Lügenmuseum sehr viel Potenzial hat und sich mit einer klugen Strategie zu einem wichtigen Anziehungspunkt der Umgebung oder sogar Sachsens entwickeln kann“. Denn die Lage ist optimal: Elbradweg, Achse Dresden-Meißen, Kooperationsmöglichkeiten mit nahegelegenen Kultureinrichtungen.
Veranika Chykalava stammt aus Belarus, hat ursprünglich Upcycling-Schmuck hergestellt und ist als autodidaktische Fotografin tätig. Seit 2022 absolviert sie im Lügenmuseum ihren Bundesfreiwilligendienst. Als sie hier ankam, war sie „erst einmal entsetzt und irritiert, weil“ sie „so etwas Einzigartiges und Skurriles noch nie im Leben gesehen hatte und zunächst nicht alles erfassen konnte“. Mit der Zeit wurde sie offener und wissbegieriger, denn das Museum wäre „der beste Lehrer“. Früher war sie eher „eine Einzelgängerin, was ihr allerdings nicht wirklich dabei geholfen habe, ihre Ziele zu erreichen und auch glücklich zu sein“. Sie liebt es, „mit anderen Künstlern und kreativen Menschen an interessanten Projekten zu arbeiten, sich auszutauschen und somit gegenseitig zu bereichern“. Im Lügenmuseum ist sie zuständig für Museumsdienste, Führungen und die Kommunikation mit den Besuchern sowie für die Bezeichnung, Inventarisierung und Dokumentation der Museumsobjekte. Sie hilft mit bei der Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen und Projekten.

Szene aus »Tatort Radebeul« mit Kulturleiche im Keller des Lügenmuseums, 2022, Foto: Karin (Gerhardt) Baum

Beide wünschen sich, dass die Radebeuler Entscheidungsträger die zukunftsweisende Qualität des Lügenmuseums erkennen und diesen Ort gemeinsam mit den Akteuren weiterentwickeln. Vor allem aber wünschen sie sich, dass die Unsicherheit bald ein gutes Ende findet.
Auf Dorota, Veranika, Reinhard und all die anderen warten in den nächsten Wochen „viel Arbeit aber auch eine Menge Spaß“. Denn schon bald werden die Besucher des Herbst- und Weinfestes auf den Elbwiesen durch das temporäre Skulpturenlabyrinth aus Paletten und Abfallholz wandeln, um es schließlich zum feurigen Finale in Flammen aufgehen zu sehen. Hoffen wir, dass uns das Lügenmuseum in Radebeul noch etwas länger erhalten bleibt. Denn Inspiration und Freude strahlen aus auf unser aller Leben.

Karin (Gerhardt) Baum

Biedermeierhäuser – Häuser, die es eigentlich gar nicht gibt

Winzerstraße 3, Foto: D. Lohse

Da könnte ja der Artikel bald schon beendet sein und käme der Faulheit von Herrn Lohse sehr entgegen. Na, warten wir’s mal ab. Es geht heute also um die Betrachtung einer Gruppe von Biedermeierhäusern in Radebeul. Biedermeier als Zeitalter der Empfindsamkeit (im Kern von 1815 -1848) ist eine Epoche in der Kunstgeschichtsbetrachtung bei der immer nur Beispiele der Malerei (Caspar David Friedrich, Anton Graff, Ludwig Richter), Gläser und Porzellan, Biedermeierstühle und andere Möbel, wie auch Gartengestaltungen (Seifersdorfer Tal, Gräfin Christiane von Brühl) angeführt werden. Häuser aus dieser Zeit finden dagegen kaum eine Erwähnung. Wenn man heute Jemanden danach fragt, gibt es meist ein Kopfschütteln. Vielleicht sind diese Häuser zu bescheiden, zu unspektakulär?
In der Zeitspanne von knapp einem halben Jahrhundert müssten doch auch ein paar Häuser errichtet worden sein? Ja, es gibt auch in Radebeul solche Häuser, nur fallen diese nicht so auf, weil sie einfach und eher schlicht daherkommen, man wollte bürgerlich sein und sich auch in der Architektur deutlich von Barock und Rokoko absetzen. Sie wirken städtebaulich nicht zusammen, sondern sind über Radebeul verteilt. Hinzu kommt, dass am Anfang und am Ende der Epoche andere Baustile – erst Klassizismus und später Neogotik – das Biedermeier überlagern konnten. Da gibt es Unschärfen hinsichtlich der stilistischen Einordnung. Es wäre am besten, hier von Häusern der Biedermeierzeit zu sprechen, anstatt von Biedermeierhäusern. Auf die Radebeuler Ortschaften bezogen sollten wir die o.g. Zeitspanne etwas weiter fassen, so von 1810 bis 1860, denn manche Mode kam in Radebeul etwas später als in der Residenzstadt Dresden an.
Bei einem ersten Überblick konnte ich in Radebeul zehn Beispiele von Häusern der Biedermeierzeit finden, es könnte aber noch ein paar von mir noch nicht entdeckte Häuser dieser Kategorie geben. Bei der Betrachtung dieser Häusergruppe fallen mir ein paar Gemeinsamkeiten ein, die ich vorab darstellen möchte.
Als erstes ist offensichtlich, dass für die Häuser mit einer einzigen Ausnahme kein Entwerfer, Baumeister oder Architekt, auszumachen ist. Das könnte damit zusammenhängen, dass offensichtlich erst durch die preußische Ordnung im Kaiserreich (ab ca. 1870) Bauunterlagen regelmäßig einzureichen und zu archivieren waren, vorher bestand diese Verpflichtung nicht. Erst von dieser Zeit an kann man die Entwurfsverfasser von Bauwerken in den Akten finden und benennen.
Die Häuser eint eine gestreckte Rechteckform der Grundrisse, die massive Zweigeschossigkeit und Fensterachsen im Verhältnis an Längs- und Schmalseite von 5:2 bzw. 4:2. Die Längsseite (Schauseite) zeigt regelmäßig zur Straße, wobei da häufig die Tür in der Mittelachse liegt, manchmal aber auch an der Schmalseite. Fensteröffnungen können eine Rechteckform oder oben einen Rundbogen haben. Oft finden wir bei den betrachteten Häusern auch Klappläden vor den Fenstern.
Die aufgemauerten Wände (Naturstein und / oder Ziegel) haben Glattputz, dazu kommen in ein paar Fällen in Putz ausgeführte Eckquaderung und horizontale Putzbänder.
Die Dächer sind als flachere Walmdächer ausgeführt und können konstruktiv Sparrendächer (geringer Dachüberstand) oder Pfettendächer (sichtbare Pfettenköpfe, weiterer Dachüberstand) sein. Gaupen kommen selten vor, weil der niedrige Dachraum kaum für eine Wohnnutzung ausgelegt ist. Die wenigen Gaupen haben dann eine Satteldachform. Üblicherweise sind die Dächer mit roten Ziegeln (Biberschwanzziegel) eingedeckt, seltener mit Schiefer. Erker oder Balkone waren bei dem Haustyp offensichtlich nicht üblich, bzw. wurden später angebaut. Trotz wiederkehrender Kubaturen und Gestaltungsmerkmale hat jedes einen individuellen Entwurf. .
Die betrachteten 10 Häuser werden nach dem Erbauungsjahr geordnet aufgeführt:

Pfeifferweg 51, Foto: D. Lohse

1. Bei der Gaststätte „Zum Pfeiffer“, Pfeifferweg 51, entspricht nur das Hauptgebäude der betrachteten Gruppe, nicht die Anbauten und Nebengebäude. Das flache Giebeldreieck auf der SW-Seite ist noch ein klassizistisches Merkmal. Das Haus ist auch wegen der Größe (7 Achsen auf der Längsseite) in Randlage der betrachteten Gruppe, es wurde 1825 erbaut.

Höhenweg 1, Foto: D. Lohse

2. Das „Paradies“, Höhenweg 1, wurde 1827 gebaut und war nur bis etwa 1960 eine Gaststätte. Auch hier muss man sich bei der Betrachtung den Bau ohne die Anbauten vorstellen. Heute ist es ein privates Wohnhaus.

Augustusweg 4, Foto: D. Lohse

3. Das Haus auf dem Augustusweg 4 war von 1834 an ein Wohnhaus. Der Vater der Gebr. Ziller, Christian Gottlieb Ziller, entwarf und baute es und wohnte selbst hier. U.a. die Veranda ist eine spätere Zutat. Das Fotografieren des Hauses erschwert leider inzwischen üppig gewachsenes Groß- und Kleingrün.

Altkötzschenbroda 19, Foto: D. Lohse

4. Unter der Adresse Altkötzschenbroda 19 entstand anstelle zweier Giebelhäuser 1839 ein kompakteres, zweigeschossiges Haus früher mit einem Bäckerladen, heute finden wir hier die Gaststätte „Schwarze Seele“. Über der mittigen Eingangstür sehen wir in biedermeierlicher Manier die Initialen F.W.P. sowie die Jahreszahl in römischen Ziffern. Die Dachgaupen sind eine Zutat der Generalinstandsetzung um 2000. Die charakteristischen 5 Achsen finden wir nur im EG, das OG weicht mit 6 Fensterachsen etwas ab. Dieses Objekt ist insofern eine Ausnahme, dass es nicht freistehend ist, sondern in Reihe steht.

Winzerstraße 3, Foto: D. Lohse

5. Das Wohnhaus Winzerstraße 3, das vom Platz Paradiesstraße / Winzerstraße aus gut wahrnehmbar ist, ist ein typischer Vertreter der Häuser der Biedermeierzeit. Es wurde 1840 erbaut und hat eine markante, in der Front mit Schiefer belegte Gaupe.

Winzerstraße 35, Foto: D. Lohse

6. Ein weiteres Wohnhaus der betrachteten Gruppe befindet sich auf der Winzerstraße 35. Es wurde um 1850 errichtet und besticht durch seine Schlichtheit, ein wesentliches Merkmal dieser Häuser. Es hat 4 Fensterachsen auf den Längsseiten, je eine kleine Satteldachgaupe und Klappläden an den Fenstern.

Am Bornberge 5, Foto: D. Lohse

7. Ebenfalls um 1850 muss das Wohnhaus Am Bornberge 5 entstanden sein. Die Fledermausgaupe (zuvor Satteldachgaupe) entstand um 2000 bei der Sanierung des völlig heruntergekommenen Hauses. Auch hier finden wir nur 4 Fensterachsen nach der Straße und 2 nach den Seiten.

Hermann-Ilgen-Straße 30, Foto: D. Lohse

8. Auf der Hermann-Ilgen-Straße 30 gibt es ein um 1860 errichtetes biedermeierliches Wohnhaus, das heute im Schatten der größeren Sparkasse steht. Der ehemals charakteristische, mittige Eingang wurde vor längerer Zeit zu einem Fenster umgebaut. Die Tür war insofern gestalterisch betont, dass sie in einem Rundbogen endet, über der eine horizontale Verdachung erscheint darunter zwei symmetrisch angeordnete Kreisbögen im Putz.

Winzerstraße 49, Foto: D. Lohse

9. Noch ein drittes Haus in der Winzerstraße, die Winzerstr. 49, gehört zu dieser Baugruppe. Der ursprüngliche Bau von um 1860 hatte sicher weniger Anbauten als das heutige Wohnhaus. Insofern können wir in der Winzerstraße eine gewisse Konzentration biedermeierlicher Häuser feststellen, ohne dass diese aber einen städtebaulichen Zusammenhang bilden.

Vorwerkstraße 14, Foto: D. Lohse

10. Auch das frühere Schulhaus von Kötzschenbroda, Vorwerkstraße 14, sollte man noch zu der Gruppe zählen, obwohl es erst 1863 gebaut wurde. Der Eingang befindet sich hier auf der Schmalseite. Es ist heute ein kirchliches Wohnhaus.

Die auf den ersten Blick ähnlichen Landhäuser (u.a. in der Wilhelmstraße) der Baufirma Große, erbaut nach 1860, sind m.E. nicht mehr zur Biedermeierzeit hinzuzurechnen. Es waren schon Typenhäuser, die den großen Bauboom auf ehemaligem Weinland in Niederlößnitz einläuteten.
Eine Tour zu allen genannten Häusern wäre aus meiner Sicht schon ein empfehlenswerter aber anspruchsvoller Spaziergang.

Dietrich Lohse

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pläne und Entwicklung des Männerchores Radebeul e.V. „Liederkranz 1844“

Aufgrund der Pandemie und des Ausscheidens einiger Sänger sind wir auf eine Teilnehmerstärke gesunken, die Auftritte in der Öffentlichkeit in gewohnter guter Qualität nur noch schwer möglich gemacht hat.

Mit hoher Intensität wurden die Probenabende durchgeführt und die Werbung von Sängern zur existenziellen Aufgabe erklärt.

Auf der Grundlage der seit 2022 stattfindenden Zusammenarbeit mit dem Lößnitzgymnasium war die Gestaltung des ersten gemeinsamen Projektes „Singen an Schwarzes Teich“ am 11.06.2023 ein voller Erfolg. Die Musiklehrerin, Frau Matthes, leitete die Generalprobe und den Auftritt des Männerchores mit Sängern des Lößnitzgymnasiums und weiteren Gastsängern.

Allen, die uns bei unseren Auftritten unterstützten, sei an dieser Stelle herzlichst gedankt.

Mehrere Gespräche zum Fortbestehen des Männerchores einerseits und andererseits die Entwicklung der musikalischen Tätigkeiten des Lößnitzgymnasiums in der Öffentlichkeit führten dazu, dass Frau Matthes für die Übernahme der Funktion als Chorleiterin des Männerchores ab sofort zur Verfügung steht. Damit sind die musikalische Führung und Weiterentwicklung des Männerchores und auch die Werbung von Sängern, z.B. durch Unterstützung des Chores seitens des Gymnasiums im Rahmen der Projektarbeit gewährleistet.

Wir sind uns bewusst, dass dies eine Aufgabe ist, die uns bis in die Zukunft begleiten wird.

An dieser Stelle danken wir Herrn Kruschel für die Chorleitung nach dem Weggang von Herrn Rauschelbach sehr herzlich.

Unser nächstes großes Ziel ist die Ausgestaltung des 180-jährigen Chorjubiläums im kommenden Jahr.

Wir würden uns glücklich schätzen, wenn wir zahlreiche Zuhörer in der nächsten Zeit zu folgenden Veranstaltungen mit unserem Gesang erfreuen könnten.

  • Tag der Vereine am 02.09 2023 am Kulturbahnhof Ost in Radebeul,
  • Teilnahme an einer Chorprobe im Rahmen der „Woche der offenen Chöre“

am Montag, 11.09.2023, 19.00 Uhr im Hotel „Goldener Anker“, Altkötzschenbroda 61, 01445 Radebeul

  • Eröffnung des Herbst- und Weinfestes am Freitag, 22.09.2023, 18.00 Uhr auf der Bühne vor der Friedenskirche in Radebeul

Nun liebe Leser, möchten wir Sie persönlich ansprechen.

Singen Sie gern? Und das am liebsten mit anderen?

Dann kommen Sie zu uns und singen mit uns gemeinsam!

WIR

  • sind einer der ältesten Männerchöre des Sächsischen Chorverbandes e.V.,
  • pflegen unser Motto: „Des Lebens Sonnenschein ist Singen und Fröhlichsein“,
  • sind ein vierstimmiger Männerchor,
  • pflegen das alte Liedgut der Region, aber studieren gern auch Neues ein,
  • treten in sozialen Einrichtungen, bei Stadt- und Stadtteilfesten und zu verschiedensten anderen Festen und Feiern allein oder mit anderen Chören der Stadt auf.

Uns gibt es schon seit 1844 – damit sind wir der älteste Chor der Region und wollen das auch bleiben.

Kommen Sie gern einmal vorbei und singen Sie mit!

Die Proben finden jeweils montags von 19 bis 21 Uhr

Im Hotel „Goldener Anker“ Altkötzschenbroda 61, 01445 Radebeul statt.

Nach einer Schnupper-Probe laden wir Sie recht herzlich zu einem gemeinsamen Gespräch ein. Hier können Sie uns und wir Sie besser kennenlernen und herausfinden, ob und wie wir miteinander singen und das Vereinsleben gestalten wollen.

Was wir bieten:

  • Eine fröhliche und musikalische Gemeinschaft,
  • Regelmäßige Auftritte in Radebeul und Umgebung,
  • Eine langfristige Planungssicherheit für Auftritte,
  • Austausch und Begegnung mit anderen Chören.

Was wir von Ihnen erwarten:

  • Freude am Musizieren,
  • Regelmäßige Teilnahme an unseren Proben und Auftritten,
  • Mitwirkung bei den Aufgaben im Chor.

Wir freuen uns auf Ihre Nachricht!

Volkmar Kretzschmar

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Bei Interesse bitten wir Sie sich an folgende Adresse zu wenden:

Männerchor Radebeul e.V. „Liederkranz 1844“

Dr.-Külz-Straße 21

Herrn Volkmar Kretzschmar, 1. Vorsitzender

Tel.: 0351-8365311

Fax.: 0351- 27222484

E-Mail.: vorstand@maennerchor-radebeul.de

https://maennerchor-radebeul.de

Als die Läden noch Namen von Leuten trugen

Es war letztes Jahr im Herbst, als sich sechs ältere Herren in der „Alten Apotheke“ trafen. Gemeint ist die Gaststätte in Kötzschenbroda, den Pharmazieladen gleichen Namens in Ost, den gibt es schon lange nicht mehr. Es war schon dunkel, als bei uns ein geradezu feuerzangenbowliger Gemütszustand eintrat, obwohl wir nur bodenständig Bier zum Essen bestellt hatten: Mein Gott, hatten wir eine schöne Kindheit! Wir gingen gedanklich durch Gänge unserer Schulen, wurden altersmild zu unseren Lehrern, rauchten wieder heimlich hinter der Turnhalle, schwammen im Bilz- oder Lößnitzbad und gingen sogar einkaufen in einer fern gewordenen Welt…ja, manchmal gab es sogar ganze Ananasfrüchte gegenüber der Lutherkirche bei Heides, hinten, in der Gemüsebaracke.
Gerade bin ich beim Bilderkriegen in den frühen 1970ern, in den Jahren zuvor ging es aber schon Milch holen zu Burkhardts, unverpackt natürlich, eine Kanne wurde mitgeführt. Einmal hatten Heides sogar Auberginen aus dem Frühgemüsezentrum abgezweigt, die sicher für Berlin gedacht waren. Aber niemand wusste, wie sich die Dinger aussprechen und erst gar nicht, wie sie zubereitet werden. „Sowas kaufen wir nicht mehr!“, verkündete resolut die Großmutter, gerade Kochfisch mit Senfsauce zubereitend. Natürlich schrieben wir „Soße“. Praktisch alle Kunden waren namentlich und mit familiären Hintergrund bekannt. Brot und Milch (es gab nur frische) konnte man vorbestellen. Wollte ich ein abgepacktes Eis, kletterte Frau Heide hoch auf die von oben zu öffnende, gleich neben der Tür im Laden vorne eingebaute Gefriertruhe und musste erst eine Weile umschichten, ehe sie das Gewünschte fand. Meist aß ich das dann vor der Ladentür und schaute dem Treiben an der Tankstelle zu (gerade erst abgerissen, nun also freie Fahrt für Karl May); der Tankwart befüllte damals selbst!

Sidonienstraße, Blick nach Westen, Bildnachweis: © Deutsche Fotothek / Paul Mehlig

Nebenan verkaufte die Bäckerei Pinkert Brot und Kuchen, in der Adventszeit trafen sich die Frauen der Umgebung in der Backstube, um die zu Hause kreierten Stollen ausbacken zu lassen. Jede Hygiene- und Seuchenkommission würde diese Art „Demo“ heute mit allerlei Gesetzestext auflösen. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand an Stollen gestorben wäre. Bekam man etwas bei Heides nicht, lief man wenige Schritte zu Zumpes. Das Netz dieser kleinen Läden war engmaschig. Wir hatten stets eines der unendlich dehnbaren Einkaufsnetze – Perlon, Sie erinnern sich? – dabei und jetzt beim Schreiben habe ich, ohne einen Kopfhörer zu brauchen, Udo Jürgens mit seinem Song „Tante Emma“ im Ohr. Fräulein Haubold führte die in unserem Haus befindliche Filiale der stadtbekannten Färberei Märksch. Erwischt, der letzte Satz ist zitiert aus Als ich ein kleiner Junge war von Erich Kästner und Fräulein Haubold leitete den Laden auf der Königsbrücker Straße in Dresden, in Radebeul tat das Frau Klippstein, zu der ich, eine Etage über uns, bereits im Schlafanzug, das Sandmännchen schauen kommen konnte. O Wunder: sie hatte einen Fernseher. Und ich bekam meist noch ein Bonbon mit als Betthupfer. In unserem Haus gab es auch noch die Schneiderei von Herrn Kunath mit fleißigen Mitarbeitern, den Zigarettenladen von Frau Stur und das Gärtnereigeschäft der Albrechts. Man brachte die Reinigungsklamotten auch zu Schrapels oder Wäsche-Müller neben dem Augenoptiker Rosenmüller, heute Papst, auch in die Annahmestelle von Kelling an der Einmündung der Bilz- in die Ernst-Thälmann-Straße, der „Thäli“. Daneben gibt es immer noch die Volksbuchhandlung, die jetzt Thalia heißt und Herr Zeibig, früher Tomann, zog auch bald mit seinem Modelleisenbahnladen in die Einkaufsmeile. Besonders in der Weihnachtszeit drückten wir uns an seinem Schaufenster die Nasen blank, da lief eine liebevoll aufgebaute Anlage bis Ladenschluss. Daneben im Eiscafé der Nizzastraßenfirma Neumann kam die Kugel 15, Schoko 20. Die Rede ist von Pfennigen. Mir wurde ganz taschengeldmulmig, als ich beim ersten schüchternen Versuch, ein Mädchen auszuführen, feststellen musste, dass die Kugel im Becher drinnen ungeheure 10 Pfennig mehr kam und die Schlagsahne obendrauf sowieso schon eine ganze Mark. Jetzt langte das Budget nicht mehr für Herrn Zeibig, Basteldraht für die Eisenbahnplatte musste ja noch mit. Also das nächste Mal zu Frau Teplitz in den Laden „Bonbonniere“ und für 25 Pfennig ein großes Exemplar der Köstlichkeit gekauft, von der ich nicht weiß, wie man die noch politisch korrekt bezeichnen soll. Damals jedenfalls war das Wort Kuss enthalten und der hier war besonders süß.
Das Thema Mädchen streifte mich auch in der Drogerie Schreckenbach. Dort gab es so ziemlich alles und ich hatte beim An-dem-Zopf-Ziehen einer Mittschülerin – Kathrin W., bitte verzeihe mir nachträglich! – (im dritten Schuljahr?) solch einen Zusammenbindegummi zerstört und wurde vom Lehrer Herrn Ramm verdonnert, den schleunigst zu ersetzen. Herr Schreckenbach stand wie immer mit einem Kollegen im blaugrauen Kittel hinter seiner Ladentheke, als ich nachmittags roten Kopfes mit der Frage aufschlug, ob er solche komischen Gummis für Mädchen hätte. Ich habe seinen merkwürdig-forschenden Blick ewig in Erinnerung behalten, um seine Fürsorge erst in einer anderen Ewigkeit zu verstehen.
Der Fleischer neben uns hieß Fischer, der Fischladen Krebs, später Pietzsch. Kamen wir mit dem Roller vorbei und im Laden war gerade mal nichts los, winkte Frau Fischer fix rein und reichte uns Kindern eine Scheibe ihrer berühmten Jagdwurst mit der Gabel über die Vitrine direkt in den Mund. Frühe Kundenbindung. Es folgte bald ein Schuhmacherladen und daneben die Werkstatt eines Mannes, der auf sein Ladenschild „Fachmann für knifflige Angelegenheiten“ gemalt hatte. Außer Fernseher reparierte er alles, kam ggf. ins Haus. Schuhe kauften wir im legendären Schuhhaus Tröger. Das hatte es durch das Führen von Übergrößen (bis 51) zu republikweiter Berühmtheit gebracht und schaffte es in Presse, Funk und Fernsehen, u.a. in die TV-Sendung „Außenseiter – Spitzenreiter“. Der Chef war Onkel Walter. Es hieß, er hätte meine Mutter und mich in seinem schnittigen 311er Wartburg Kombi aus der Geburtsklinik in Dresden abgeholt. Jetzt fuhr er damit Pakete zur Post, er betrieb mit seinen Übergrößen einen privaten Versandhandel. Obwohl meine Oma die Fleischersfrau Fischer duzte, weil sie sich von Jugend auf kannten, ging sie oft die Runde zu -zig anderen privaten Läden, weil ihrer Meinung nach da dies und dort das besser war. Selbst meine betagte Klavierlehrerin Frau Bernhard pilgerte aus der Gutenberg- in die Ernst-Thälmann-Straße, um dort mit der Stimme einer einst gefeierten Operndiva eine Crémeschnitte beim Bäcker Füssel zu ordern. Neben dem erlesenen Laden von Spirituosen-Andrich gab es noch Möbel-Andrich. Der Chef höchstselbst klingelte punkt 9 Uhr an einem Geburtstag meiner Oma und stellte ihr einen Schaukelstuhl in die gute Stube, der ihr als Wunsch von ihrem Mann von den Augen abgelesen war. Opa meinte nur, Herr Andrich hätte sofort gesagt: „Geht klar!“. Lassen wir das 1969 gewesen sein.
1983 hatte sich mal jemand die Mühe gemacht und im Telefonbuch nachgezählt. Geht man davon aus, dass im Gegensatz zu privaten Haushalten wenigstens die Gewerbe alle Telefon hatten, gab es in Radebeul 13 private Fleischer, 22 Bäcker und 36 gastronomische Einrichtungen. Als mich die Tram neulich am Weißen Roß und der Goldenen Weintraube durch die Mitte Radebeuls fuhr, wurde mir bei diesem Gedanken etwas beklommen.
Erinnert sich jemand an den Laden der Kettners, Maxim-Gorki-Straße? Es roch nach Bohnerwachs und Seife, gab Bürsten, Besen, Lappen. Und als Knüller viereckige Bonbons in weiß-blauer Schachtel: Bayrisch Malz. Ab den 1970ern mussten die auf einmal Meißner Malz heißen. Küsschen.
Scheinbar schien in der Kindheit immer die Sonne, der Krieg war in Dresden geblieben, dort, nachdem die Straßenbahn am Palaisplatz, damals über die Rähnitzgasse, in die Ruinenstadt einbog. Aber dann kam doch Kampflärm indirekt nach Radebeul. Heiß war es, neues Stangeneis für den Eisschrank wurde vom LKW gekauft. Da donnerten Tiefflieger von Norden über das Kindheitsidyll. Es war der 21. August 1968 und ich wusste noch nicht, dass das Land knapp südlicher damals Tschechoslowakei hieß. Damals bei uns daheim – so lautet der Titel eines Buches mit literarischen Kindheitserinnerungen von Hans Fallada. Selber bin ich jetzt nur punktuell retrospektiv durch eine Welt gestreift, die mir Kindheit war. Es bedarf hier sicher der Ergänzung und Weiterführung, denn: Das schönste am Gedächtnis sind die Lücken (Buchtitel von Peter Ensikat)! Wer sich also, liebe Leserinnen und Leser, in diesem Zeitkontinuum wiederentdeckt hat, sage sich bitte, WIR SIND DIE LETZTE GENERATION, die dazu noch etwas dokumentieren kann!
Mit der Redaktion der V&R besteht die Hoffnung auf Ihre Erinnerungen zum Abdruck in loser Form und Folge. Wie wäre es mit verflossenen Gaststätten in Radebeul und Anekdoten drumherum? Gerne bin ich dann Ihr Leser. Und vielleicht ergibt sich sogar ein Dialog. Vor einigen Jahren saß ich mal zufällig 5 Stunden neben einer älteren Radebeuler Dame im Flieger. Bald nach dem Start hatten wir bis Klotzsche nur noch Radebeul im Gespräch. Also, wenn das nicht als Liebeserklärung an die Stadt und unsere Erinnerungen taugt…. Mehr »

Ton in Ton, ausgezeichnet

Mechthild Kießling gewinnt Keramikpreis von Bürgel

Foto: B. Zscheischler

„Ton in Ton“. Als Mechthild Kießling die Ausschreibung für den Walter-Gebauer-Keramikpreis las, fiel ihr sofort die Mehrdeutigkeit ein. Als sie die fünf Ton-Schalen abgab, legte sie zwei Holzlöffel dazu. Kurz dachte sie über einen Motto-Zettel nach. „Vor dem Essen“, wollte sie drauf schreiben. Sie ließ es sein. Die Besucher der Ausstellung im Keramik-Museum Bürgel, östlich von Jena, kommen von selbst drauf, wie bereits die Jury-Mitglieder. Sie nutzen die Holzlöffel als Schlegel. Die Tonschalen klingen wie Glocken. Dabei ist es doch „normales“ Gebrauchsgeschirr, das es seit Jahren im Laden Altkötzschenbroda 21 zu kaufen gibt. Was für eine Überraschung! Frau Kießling gewann im Juni den diesjährigen Keramikpreis. Bürgel steht für hohe Qualität, der Förderkreis Keramik-Museum und der Dornburger Keramik-Werkstatt e.V. sowie der Bürgeler Töpfermarkt e.V. ehren mit dem Preis den verdienstvollen Bürgeler Töpfermeister Walter Gebauer. Sein Lehrbuch dürfte in keinem Bücherschrank von Keramikern und Töpfern fehlen, zumindest in Deutschlands Osten.
Eigentlich wollte Frau Kießling Ärztin werden. Sie begann als Krankenschwester, wollte danach Abitur machen und studieren.

Foto: B. Zscheischler

„Während der Arbeit im Krankenhaus kam mir der Berufswunsch abhanden“, erzählt sie. Sie dachte alternativ an Musik oder Sprachen, schließlich spielte sie viele Jahre Querflöte und singt bis heute in verschiedenen Chören. „Die Musik begleitet mich mein Leben lang.“ Kein Wunder, dass sie die Klangwelt in ihren Beruf holte.
Es war ein Umweg, der sie Bekanntschaft mit der Töpferscheibe machen ließ. Autodiaktisch tastete sie sich an den künftigen Beruf heran. Es folgte eine verkürzte Lehre. Das Abitur machte sie noch, ein Studium war immer noch erreichbar. Doch die drehende Scheibe, der feuchte Ton, aus dem geschickte Hände Teller, Tassen, Becher, Töpfe formen, ja, einen ganzen Hausrat, sollten ihr Lebenszweck werden. 1994 mietete sich Mechthild Kießling in der Familieninitiative ein, im ersten renovierten Dreiseithof am Anger von Altkötzschenbroda. Die vielen Kneipen und das heute bei Touristen wie Einheimischen so beliebte Ambiente wuchsen erst später heran. Tatsächlich lebt sie von beiden, den schlendernden Touristen und den gezielt nach „Kießling-Geschirr“ suchenden Einheimischen. Gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Irene Kranich schafft Frau Kießling seit mittlerweile gut 30 Jahren Gebrauchsgeschirr.
Ist das Kunst oder Handwerk? Sie mag die Unterscheidung nicht. Wenn sie am Schreibtisch sitzt und eine neue Form zeichnet, was ist das? Und dann, an der Töpferscheibe, was ist das? Hier passt das Bonmot: Kunst ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration. Am Ende ist das Gesamtergebnis entscheidend. Richtig ist: Farbe und Schnörkel sind nicht ihr Ding. Kießling-Geschirr besteht aus einfachen, handhabbaren Formen, es hat eine einfarbige mattglänzende Glasur, entweder ein erdiges Braun oder ein zurückhaltendes Grün, dessen Verlauf man noch erahnt. Man kann nachvollziehen, wie die Handwerkerin das Stück in die feuchte Glasur taucht und dann mit einer geschickten Umdrehung der Hand dafür sorgt, dass sich die Flüssigkeit auf dem trockenen Ton verteilt. Dabei entstehen typische Schlieren und Farbverläufe von Hell zu Dunkel, an denen der Kundige die ureigene „Handschrift“ der Erzeugerin erkennt. Das gilt für Tassen, die schmeichlerisch in der Hand liegen, aus denen sich Tee oder Kaffee bequem trinken lassen, ebenso für tiefe Teller für Suppe und Schalen, Salatschüsseln sowie Kompottschälchen, die, klopft ein Fingerknöchel dran, einen lange nachklingenden Ton haben. Woher der kommt, weiß Frau Kießling nach langem Probieren. „Am besten klingen meine Stücke, wenn sie einen Rand haben.“

Foto: Keramikmuseum Bürgel

1997 krönte Mechthild Kießling ihren beruflichen Werdegang mit dem Meistertitel. Mittlerweile ist sie nur noch wenig im eigenen Laden zu sehen. Der Laden im Erdgeschoß der „Fami“ ist zugleich Arbeits- und Verkaufsraum, ständig kommen und gehen Neugierige, für ein konzentriertes Schaffen und „Wegarbeiten“ ist er nicht geeignet. Daher zieht sich die Keramikerin lieber in ihre zweite Werkstatt schräg gegenüber zurück. Dort ist auch Platz für ein Lager und einen großen Elektro-Ofen.
Sofort sind wir bei einem aktuellen Thema, den Energiepreisen. Strom ist teuer, die Alternative Gas nicht minder. Einen Freibrandofen gibt es auch. Ein jeder Keramiker, der auf sich hält, hat einen, meist irgendwo auf dem Land. Der verbraucht schnell mal ein bis zwei Kubikmeter Brennholz, doch dabei entstehen einzigartige Stücke für Keramikliebhaber mit dem etwas dickeren Geldbeutel. Bis der nasse Ton zum Klingen kommt, muss er in der Regel zweimal gebrannt werden, beim Schrühbrand bei um die 900, beim Glasurbrand bei 1.120 Grad. Da heißt es, die Rohlinge im Ofen gut stapeln und jede Lücke nutzen. Trotzdem: Einer der ältesten Berufe der Menschheit muss sich heute Gedanken über den ökologischen Fußabdruck machen. Doch gute Gebrauchskeramik hält lange, mitunter ein Leben lang. Damit wären wir beim Thema Nachhaltigkeit. Also: den Ton angeben, sich nicht im Ton vergreifen, sondern den richtigen Ton treffen. Das klappt bei Mechthild Kießling. Ton in Ton.

Burkhard Zscheischler

Editorial September 2023

Editorial

Und wieder geht ein wetterdramatischer Sommer seinem Ende entgegen.
Über Wochen Regen, endlos graue Wolkenteppiche und Überflutungen an ungeahnten Orten. Gefolgt von Hitze in bester Manier des Mittelmeerklimas und schließlich gekrönt von einer endlosen Schwüle wie im tagelang ungelüfteten Gewächshaus.
Als der August sich schließlich neigte, war dann erstmal Pumpe – mit der Wärme.
Ein gutes Stichwort für die politischen Kapriolen in Berlin und auf Kommunalebene. Ein Hin und Her über die irrwitzigsten Heizungskonzepte dort, Haushaltssperre hier. Geld ist eben auch keins mehr da, nur für den Krieg dann irgendwie immer seltsamerweise.
Kurz vor Drucklegung wurde im Kabinett zudem ein Gesetz auf den Weg gebracht, dass ein jeder nun jährlich sein Geschlecht und Vornamen ändern kann. Da soll noch einer sagen es werden keine systemrelevanten Entscheidungen getroffen.
Uns Radebeulern kann die Feierlaune zumindest noch nicht ganz genommen werden, im September reiht sich gewohnterweise ein Fest ans andere. Insbesondere das Weinfest mit dem legendären internationalen Wandertheaterfestival lockt schon jetzt wieder mit einem bunten Programm.
Doch aufgepasst! Wie kürzlich beim Küren der neuen Weinkönigin vom säschischen Weinanbau bekannt wurde, reicht der regionale Gesamtertrag rechnerisch nur für eine Flasche pro Sachse!
Na dann, schnell noch mal Prost!

Sascha Graedtke

 

7. Thematischer Filmclubabend

 

 

Zum Sommerausklang erfährt die Veranstaltungsreihe Film Club Mobil am 31. August 2023 (Beginn 19 Uhr) in der Kunstscheune Alt-Naundorf ihre Fortsetzung. Zu Gast ist die Dresdner Schauspielerin Monika Hildebrand, welche in dem Beziehungsfilm „Jahrgang 45“ neben Rolf Römer, der im Jahr 2000 verstarb, in einer Hauptrolle zu erleben ist. Beide standen zu jener Zeit noch am Anfang ihrer künstlerischen Laufbahn, hatten aber auch schon 1963 im DEFA-Klassiker „Die Glatzkopfbande“ mitgewirkt.

Bei dem DEFA-Film „Jahrgang 45“ handelt es sich um den einzigen Spielfilm des international bekannten Dokumentaristen und Malers Jürgen Böttcher (Künstlername Strawalde). In poetischen Bildern wird von der Sehnsucht nach einem anderen Leben erzählt. Die DDR-Kulturadministration sah in dem Film jedoch eine „Heroisierung des Abseitigen“. Dass die Hauptfigur in ihrem Habitus einen nahezu asozialen Eindruck hinterlassen würde, war nur einer der Kritikpunkte. Bereits in der Rohfassung wurde der Film zurückgezogen und gehörte über viele Jahre zu den sogenannten „Kellerfilmen“, die in Folge einer restriktiven Kultur(verhinderungs)politik nicht zur Aufführung gelangten und in Archiven verstaubten. Erst im Jahr 1990 erfolgte seine Uraufführung. Gedreht wurde u. a. an Originalschauplätzen in Berlin, Prenzlauer Berg. Bemerkenswert sind Kameraführung und Schnitt, aber auch das freie Spiel der Darsteller. Der Drehbuchautor Klaus Poche, welcher auch als Schriftsteller und Illustrator tätig war, geriet zunehmend in Konflikt und siedelte 1979, nachdem man ihn aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen hatte, in die BRD über. Auch der beliebte Schauspieler Rolf Römer wurde zusehends ins Abseits gedrängt und erhielt aufgrund seiner gesellschaftskritischen Haltung nach 1978 kaum noch nennenswerte Aufträge.

Jahrgang 45

1966/1990, DDR, DEFA, Gruppe „Roter Kreis“

94 Minuten, FSK 6

Regie: Jürgen Böttcher; Drehbuch: Klaus Poche, Jürgen Böttcher
Musik: Henry Purcell, Wolf Biermann; Kamera: Roland Gräf, Schnitt: Helga Gentz
Besetzung (Auswahl): Monika Hildebrand (Lisa), Rolf Römer (Alfred),Paul Eichbaum (Nachbar Mogul), Ruth Kommerell (Mutter), A. R. Penck (Freund)

Ostberlin im Sommer 1965. Alfred und Lisa leben in Scheidung. Er ist Kfz-Schlosser, sie ist Säuglingsschwester. Beide haben sich auseinandergelebt. Er fühlt sich in seiner früh geschlossenen Ehe gelangweilt und eingeengt. Nun will er seinen Freiheitsdrang ausleben, streunt durch die Stadt und trifft sich mit seiner alten Motorradclique. Schließlich verlässt er die gemeinsame Altbauwohnung im Prenzlauer Berg, zieht wieder zu seiner Mutter. Der Kaderleiter seines Betriebes bittet ihn um eine Unterredung. Doch Alfred meint, dass die Scheidung seine Privatsache sei. Halt und Orientierung findet er bei seinem lebensklugen Freund und Nachbarn, dem alten Mogul. Obwohl Alfred mit anderen Frauen flirtet, behält er Lisa im Auge. Als diese eine Tanzbar besucht, folgt er ihr eifersüchtig. Auch am Arbeitsplatz, einer Geburtenstation im Krankenhaus, erscheint er und beobachtet, wie sie den staunenden überglücklichen Vätern deren Neugeborenen zeigt. Als beide mit dem Motorrad eine Ausfahrt ins Grüne machen, schauen sie aus der Ferne auf ein im Bau befindliches Neubaugebiet. Der Ausgang des Films bleibt zwar offen, wirkt aber nicht hoffnungslos.

Karin Baum und Michael Heuser

Sprecher der Cineastengruppe „Film Club Mobil“ im Radebeuler Kultur e.V.

Anmerkung: unter Verwendung von verschiedenen Filmbegleitmaterialien und Wikipedia-Eintragungen

Mit den Texten der brachialromantischen Hausapotheker Dieter Beckert und Jürgen B. Wolff durchs Jahr

Glosse

Wo steht das Klavier?

Hin und wieder kommt aus dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Leipzig auch mal was Vernünftiges. So unter anderem die „Warnung! Geschichte schützt nicht vor Erkenntnissen.“ – gedruckt auf einer Postkarte. Beim Betrachten dieser weißen Sprüche – man hatte mehrere Varianten aufgelegt – kam ich auf jüngste kulturpolitische Kapriolen aus der Region bei denen ich mich an meine Kinderzeit erinnert fühlte.

Nun zählte unsere Familie wahrlich nicht zu den gehobenen Bevölkerungsschichten. Mein Vater war Stehgeiger und Mutter arbeitete in der Weberei. Wenn wir auch nichts hatten oder fast nichts, achteten meine Eltern doch immer auf ein gewisses Niveau im Umgang in der Familie und mit Anderen. Nicht wegen der Leut‘, nein, weil es uns ein Bedürfnis war. Sonntags sind wir immer gut angezogen auf die Straße gegangen und die Trainingshosen blieben im Schrank. Auch achtete Mutter stets darauf, dass ich die Bekannten und Verwandten schön grüße.

Wir hatten eine große Drei-Zimmer-Wohnung in einer kleinen Stadt. Die Wohnstube konnte man nur von der Küche aus betreten. Ob es deshalb immer so ordentlich bei uns aussah, kann ich heute nur noch vermuten. An den Sonnabenden aber konnten wir keinen Besuch empfangen, da die Küche auch als Bad fungieren musste.

Die Wohnstube aber war für mich ein ganz besonderer Ort. Die Eltern hatten viel unternommen, um diesen Raum besonders schön aussehen zu lassen. Die dicken Baumwollgardienen verdunkelten zwar den sieben Meter langen Schlauch, dafür bot er für uns Kinder viel Platz. Die Stube war das Zentrum der Wohnung, quasi der kulturelle Mittelpunkt! Nicht wie bei meinen Großeltern, die das ganze Jahr in der Wohnküche verbrachten und das Wohnzimmer nur zu den „hohen Feiertagen“ aufsuchten.

Da kann ich mich an ganz besondere Möbelstücke erinnern. Stolz war ich als 10-jähriger auf den schwarzen Flügel. Spielen konnte ich darauf nicht, aber wer hatte schon so ein Instrument zu Hause?! Oder der Schachtisch, der später mit der selbstgebastelten Stehlampe an Stelle des Flügels stand. Und erst die Hausbar mit den vielen Spiegeln, das große Aquarium…!

Ganz besonders geliebt habe ich den schmalen hohen Bierglasschrank aus einem Wirtshaus, der die Funktion des Wohnzimmerschrankes erfüllten musste. Natürlich gingen auch die Eltern mit der Mode und kauften sich, als etwas Geld angespart war einen modernen mit hellem Furnier versehenen Wohnzimmerschrank auf vier dünnen Beinen, dessen Türschlösser beizeiten „ausgenuddelt“ waren. Der wirkte wie ein Fremdkörper in der hohen, dunklen Stube.

Die anderen Zimmer konnte man vergessen. Mein Kinderzimmer war zusammengestoppelt mit zufällig irgendwo aufgesammelten Möbeln. Das Schlafzimmer der Eltern interessierte mich bestenfalls im Dezember, da dort die Weihnachtgeschenke deponiert wurden. Sonst war es ein unwirklicher Ort.

Nicht im Traum aber wäre meinen Eltern eingefallen, den Schachtisch ins Kinderzimmer zu stellen oder gar den Flügel ins Schlafzimmer zu verfrachten. Schon deshalb nicht, weil diese beiden Räume für unsere Gäste tabu waren! Und wer ist schon so dumm und versteckt seine Prunkstücke?!

Aber diese Erfahrungen – wie die meisten anderen auch – zählen heute nicht mehr. Wer Macht hat, glaubt, die vermeintlichen Schachfiguren auf dem imaginären Brett nach Belieben hin und her schieben zu können. Da werden Behörden aus dem Zentrum an den Stadtrand wegen eines marginalen Vorteils verlegt, um sie dann Jahre später doch wieder im Zentrum anzusiedeln, werden Immobilien verhökert, um sich letztendlich in fremden einmieten zu müssen. Und schließlich schlägt man allen Ernstes vor, einen Jahrzehnte lang bewährten, von der Bevölkerung und den Touristen angenommenen, kulturellen Standort aufzugeben und hofft, ihn an einem ungünstigeren Ort wieder etablieren zu können. Und wenn es nicht funktioniert, will man es nicht gewesen sein. Ist das nun Schizophrenie, Dummheit oder doch eher Arroganz der Macht?

Nun habe ich hier nicht rumgesponnen. Alles real! Der aufmerksame Leser wird wissen, worum es geht. So richtig will einem dabei das Wort „Glosse“ nicht über die Lippen kommen, eher schon die Bezeichnung „Realsatire“, meint

Euer Motzi!

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