Aus der Serie schreibender Senioren

Stammtischgeflüster

Was sind Sie von Beruf?
Tischler
Bau- oder Möbel?
Stamm.

Zugegeben, ein uralter Witz, aber was für das Recycling von Papier, also gelesenen V&R-Exemplaren gilt, funktioniert vielleicht auch bei Witzen. Wer neuere hören will, gehe zum Stammtisch. Nur, zu welchem? Ich kenne in unserem Karl May-Dorf keinen. Auf dem richtigen Dorf gab es früher in jedem Gasthaus, in einer der Zapfanlage nächstgelegenen Ecke, einen solchen. Unter der spärlich beleuchteten Tischplatte hing ein Brett aus deutscher Eiche mit dem unverständlichen Spruch: „Dosi zende deo iwe idosi zen“, gesehen im Bayrischen Wald. Übersetzung: Da sitzen die, die immer da sitzen. Mit dem zweiten oder bereits fünften Glas Bier in der Hand, schwadronieren die Stamm-Tischler über die Dorf- und Weltlage im Allgemeinen sowie im Speziellen und ab dem siebten Glas verliert Konrad seine Schüchternheit und gibt zotige Witze zum Besten.

„Brauchen wir nicht. Wozu haben wir das Internet und die Echokammern der sozialen Medien!“ Ich habe es mal auf Facebook versucht, schon um mit den damals minderjährigen Kindern mithalten zu können. Doch bald hatte ich die Fotos von Katzen und Essenstellern satt und ließ meinen Account sanft entschlafen. Als seit einem halben Jahrhundert quer Glotzender finde ich das Bildangebot von Instagram und TikTok, nach einem Hinein-Schnuppern, irgendwie, wie soll ich sagen? Arm, das trifft es für mich am besten. „Ben Hur“ oder „Paul und Paula“ kann ich mir nur 16:9 vorstellen, lieber noch in Cinemascope, aber niemals im Hochformat.

Das Fotografier- und Filmverhalten, ich sah es in den jüngsten Urläuben, hat sich komplett gewandelt. Noch vor zehn Jahren passte ich an touristischen Hotspots auf wie ein Schießhund, damit ich keinem anderen Urlauber in die bildgebende Schusslinie laufe. Der Fauxpas kann mir heute nicht mehr unterlaufen, denn 98 Prozent fotografieren sich nur noch selbst. Andererseits, das muss ich an der Stelle einräumen, habe ich unlängst einige tausend geerbter Dias entsorgt: Landschaftsbilder! Aufhebenswert erschienen mir nur jene Hinterglas-Positive mit Personen darauf. „Tante Hilde beim Eis-Essen; die ist auch schon wieder 33 Jahre tot.“ Insofern liegt die Insta-Generation vielleicht gar nicht so falsch. Aber wieso hat uns der Schöpfer die Augen nebeneinander angeordnet? Der muss sich doch etwas dabei gedacht haben!

So etwas würde ich gerne an einem Stammtisch diskutieren. Wobei, mehr als zwei Biere schaffe ich nicht mehr. Das hätte immerhin den Vorteil, dass ich mir von irgend-einem Konrad nach dessen Siebtem keine zotigen Witze anhören müsste.

Burkhard Zscheischler

Eine Radebeuler Straße feierte 1. Geburtstag – der Werner-Wittig-Weg

Am 13. Dezember 2022 berichtete unsere Tageszeitung, dass die Stadtverwaltung Radebeul, vertreten durch den OB Bert Wendsche, den öffentlichen Weg Nr. 31 jetzt mit dem Straßenschild „Werner-Wittig-Weg“ versehen hatte. Man beabsichtigte damit, den bekannten Radebeuler Maler und Grafiker Werner Wittig (1930 – 2013) zu ehren.

Nun handelt es sich aber um einen eher bescheidenen Weg, ob sich der Maler darüber gefreut hätte? Ich glaube schon, denn der Weg befindet sich ganz nahe seiner langjährigen Wohn- und Atelieradresse Obere Bergstraße 90a und Werner Wittig war trotz seiner Berühmtheit eher ein recht bescheidener Mensch geblieben. Er liebte die Stille und dieser Weg ist still!

Bild: D. Lohse

Am Neujahrstag 2024 habe ich diesen Weg, wo sich zwei Personen gerade so begegnen können, abgeschritten und bin auf 76 Schritte gekommen, das sind etwa 61m Länge. Den Weg in Niederlößnitz oberhalb des Grundstücks der ehemaligen Bussard- Sektkellerei gibt es eigentlich schon lange, nur war er bisher namenlos. Er stellt die fußläufige Verbindung von der Oberen Bergstraße zur Moritzburger Straße her. Bis etwa 2010 stand an dem Weg der frühere Ausschankpavillon der Sektkellerei, heute befindet sich an der Stelle eine Bellavista-Villa.

Eigentlich wollte Werner Wittig einen klassischen Beruf erlernen – 1948 fing er in Chemnitz eine Bäckerlehre an -, musste diesen Beruf aber infolge eines schweren Unfalls aufgeben. Nach Abendkursen im Zeichnen konnte Wittig dann von 1952-57 ein Studium an der HfBK Dresden absolvieren und sich dann in Radebeul niederlassen. Zunächst waren Landschaften in Holzrisstechnik sein prägendes Gebiet, später noch Drucke als Zinkografie und auch Ölbilder. Ich sah von ihm stille, kristalline, z.T. symbolische Bilder mit Gebäuden und manchmal auch mit einem Apfel kombiniert. Menschen fand ich in seinen Bildern aber nicht. Ute Wittig, seine Ehefrau, kam über den Lehrerberuf ebenfalls zur Kunst. Eine letzte Ausstellung von Wittigs Grafiken konnte ich in Vitte auf Hiddensee bewundern, ich meine das war 2011.

Ein Portrait des Künstlers habe ich nicht zur Hand, weshalb ich eine schlichte Landschaftsgrafik „Dorf im Schnee“, die vom Radebeuler Grafikmarkt 1980 stammt und die ich sehr schätze, hier stellvertretend einfügen möchte. Das Straßenschild am Werner-Wittig-Weg ist auf eine Art auch lustig, da es sich um einen Stabreim, genauer eine Alliteration, handelt – Zufall oder Absicht? Einen ganz kleinen Schubs zu dem Thema erhielt ich bei einem zufälligen Treffen beim Einkaufen von Bärbel Kuntsche, einer guten Freundin und Künstlerkollegin von Werner Wittig.

Dietrich Lohse

Als die Läden noch den Namen von Leuten trugen

Kindheitserinnerungen in Radebeul

Angeregt durch den sehr berührenden Artikel von Tobias Märksch in der Septemberausgabe stellen sich bei mir gleiche Erinnerungen ein.

Ich bin Jahrgang 1951, groß geworden in der heutigen Villa Lindeberg, Hölderlinstr.11, heute Karl- May- Str. 1. Dieses Haus hat mein Großvater um 1898 gebaut bzw. bauen lassen. Das nur nebenbei.

Zur Schule bin ich von 1958 bis 1969 in die Schillerschule gegangen.

An die im Artikel erwähnten Geschäfte kann ich mich sehr gut erinnern, auch an einige, welche nicht erwähnt sind.

Beim Gemischtwarenhändler Heide, Bäckerei Pinkert, Fleischer Fischer und Milch- Burkandt kaufte meine Mutter oft ein und ich musste meistens mit. Burkadt´s hatten auch im Sommer Sonntags zwei Stunden auf, da noch nicht viele Menschen einen Kühlschrank hatten und die kleinen Kinder mit Milch versorgt werden mussten. Vor Milch- Burkardt war noch eine Fleischerei (Bayer?), dort kauften wir nicht.

Neben Heide befand sich der Schreibwarenladen Lätzer. Dort herrschte eine besonders interessante Atmosphäre. Es gab auch Spielzeug und später Schulbedarf.

Gegenüber, neben der Tankstelle war auch ein Geschäft, hier kann ich mich nicht mehr an die Branche erinnern.

Rechts daneben, der Kirchpark mit dem Kriegerdenkmal. Dort spielen wir oft Fußball, was von Pfarrer Schulze nicht gern gesehen wurde!

An der Haltestelle der Straßenbahn landwärts, befand sich im Eckhaus eine Drogerie, deren Name mir entfallen ist. (Biedermann?) Direkt an der Haltestelle war ein Zigaretten- und Lottoladen, den meine Mutter (leider- bezogen auf die Zigaretten) oft aufsuchte. Unmittelbar daneben befand sich eine Samenhandlung.

Nach Fleischer Fischer kam eine Schuhreparatur und daneben das Modelleisenbahngeschäft Dohmann (nicht Tomann). Den Namen habe ich so in Erinnerung. Von dort bezog ich meine Spielzeugeisenbahn Spur S und alle weiteren Teile im Laufe der Zeit. Das Schaufenster war wirklich immer sehr schön und für Kinder aufregend gestaltet.

Über das Spielzuggeschäft Stiller geht es weiter Richtung Hst. E.- Thälmann- Str., vorbei an Blumen Thomas und dem Lebensmittelgeschäft Prokopp. Hier kaufte meine Mutter nie ein. Warum, weiß ich nicht, aber meine Tante und mein Onkel, welche Hausmeisterehepaar in der Oberlößnitzer Schule waren, waren hier Stammkunden. Dann kam noch ein Lederwarengeschäft und an der Ecke ein Haushaltwarengeschäft, das weiß ich aber nicht mehr genau.

Gegenüber, im Saal der Vier Jahreszeiten wurde ein 1000 kleine Dinge Verkauf eingerichtet.

Auf der Thälmann- Str. sind mir auch viele Geschäfte in Erinnerung.

Allen voran die beiden Einkleidungshäuser, eines davon mit einem Oberrang und knarrender Holztreppe.

Messer und Scheren ließ man bei Hoppe schleifen, daneben war der Lampenladen Löffler.

Auf der Eduard- Bilz- Str. war ein Fischgeschäft.

Bei Fleischer Lehnert hat man oft angestanden, um etwas besonderes zu ergattern.

Dann gab es zwei Kunstgewerbeläden, einer davon wurde von einer etwas unnahbaren Dame geführt. Kühnitzer war ihr Name. Mit guten Beziehungen gab es dort hin und wieder einen Musikengel von Wendt & Kühn. Meine Mutter hatte allerdings nie das Glück einen zu bekommen, was nicht schlimm war. Sie hatte noch Vorkriegsengel, die ich heute noch habe und aufstelle. Sie vertragen sich gut mit den Nachwendeengeln.

Gegenüber unserer Schule befand sich ein kleiner, in meiner Erinnerung sehr dunkler, Süßwarenladen, geführt von eine alten Dame. Dort kaufte ich für 10 Pfg. öfters eine Karamellstange.

Dazwischen, glaube ich, noch ein Uhrengeschäft und dann kam Eis-Neumann und an der Ecke Eisen- Lindner. Da konnte man auch 2 Schrauben oder 5 Nägel kaufen. Anschließend Möbel- Andrich und daneben Schnaps- Andrich. Hier kaufte ich meine ersten Pullis, um die Wirkung das Alkohols zu testen. Getrunken meistens im Karl-May-Park, ganz unten am Herzteich.

Neben der Flohkiste befand sich noch ein Geschäft, leider weiß ich nicht mehr, was dort verkauft wurde, dann folgte ein Fleischer an der Ecke (Name?), gegenüber ein Bäcker, dann ein Blumenladen und dann eine Radebeuler Institution, das Fotoatelier Nagel im ersten Stock. Dort sind mehrere Generationen fotografiert worden.

In der Pestalozzistraße war noch ein Fahrradgeschäft, hier kaufte mein Mutter mir mein erstes Diamant-Fahrrad.

Am Bahnübergang der Kleinbahn war noch ein Lebensmittelladen mit extrem vielen Stufen nach oben.

Sicher fehlt hier das eine oder andere Geschäft. An ein Schuhgeschäft kann ich mich z.B. nicht erinnern.

Da meine Mutter mit mir gern essen ging, sind mir auch einige Gaststätten in guter Erinnerung.

Zuerst das Bahnhofshotel mit zwei großen Kachelöfen, die im Winter eine wohlige Wärme erzeugten und vom Bedienungspersonal nebenbei mit „betreut“ wurden.

Oft sind wir auch in die Vier Jahreszeiten gegangen, auch das Carolaschlößchen haben wir oft besucht, lag es doch in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Zuhause. Hier gab es eine Besonderheit. Der Zugang war über das Treppenhaus und im ersten Absatz gab es eine Durchreiche in die Küche. Dort wurde Essen und sicher auch Bier über die Straße verkauft. Man klopfte stark, und eine Luke wurde geöffnet, eine Köchin guckte raus und man sagte seine Wünsche.

In den Linden, im Römer und im Russen waren wir nie!

Dafür gingen wir gern in die Goldene Weintraube. An Geschäfte in Mitte kann ich mich nur an Café Schiller erinnern. Hier war die Besonderheit, dass eine Café-Stube angeschlossen war. Das war damals eine Ausnahme und nur noch in Radebeul-West in der Konditorei Dolze vorhanden. Dort gibt es übrigens heute noch die beste Mohnrolle weltweit. Ansonsten gab es noch eine Post an der Weintraube, die dritte in Radebeul, neben den schönen Postgebäuden in Ost und in West.

Da Radebeul ja bekanntlich zwei Zentren hat, gab es auch manche Läden doppelt. In Ost wie in West waren Eis- Neumann mit ihren Eisdielen vertreten, Blumen- Thomas, und Eisenwaren- Lindner mit ihren Geschäften und natürlich Apotheken, mit der am Weißen Roß gleich dreimal. Ich glaube, auf der Moritzburger Str. in West gab es auch noch eine!? Auch Reformhäuser gab es zwei, wobei ich hier nicht weiß, ob sie vom gleichen Betreiber geführt wurden. In West hieß der Besitzer Backhaus und im Geschäft befand sich eine Milchbar mit Barhockern. Dort bekam ich oft ein Milchmixgetränk.

Da meine Mutter in Radebeul-West arbeitete sind mir die Lößnitzperle, das Kuffenhaus, das Stadtcafé und die Bahnhofsgaststätte auch in Erinnerung. Auch im Dampfschiff waren wir, allerdings selten. Großes Weinstuben haben wir nie besucht.

An die Lößnitzperle war noch ein Schnellimbiss angeschlossen. Dort habe ich so manche Bockwurst bekommen und sie an Stehtischen auf halber Höhe verspeist.
Auch besuchten wir seltener Café Haupt, hier weiß ich nicht mehr wo es war.

Auch kann ich mich noch dunkel an den Gasthof Serkowitz erinnern.

Ausflugsgaststätten waren hauptsächlich die Meierei im Lößnitzgrund, das Spitzhaus und die Friedensburg, die Sängerhöhe mit dem Wirt Herrn Ryssel und das Paradies, dort aber selten, sowie die Gohliser Windmühle. Die Überfahrt mit der Fähre war immer ein Erlebnis, zumal wir einmal miterlebt hatten, wie das Seil gerissen war. „Leider“ nur vom Ufer aus, ich wäre zu gern auf der Fähre gewesen.

Auch die Geschäfte in Radebeul-West auf der Str. der Befreiung sind mir in guter Erinnerung.

Herausragend natürlich die beiden Kinos, das Palasttheater und die Freundschaft.

Neben der Freundschaft das große Papiergeschäft Pitius, die Fleischerei Ochsenkopf und gegenüber der Tempo- Konsum. Meines Wissens, der erste Selbstbedienungsladen.

Interessant auch, die Senffabrik Friedrich, gegenüber vom Palastkino. Außerdem gab es noch Stempel-Sattler. Daneben Zigaretten Stamm, hier brannte eine „Ewige Flamme“. An einer kleinen Gasflamme konnten die Raucher sofort eine Zigarette anzünden.

Daneben eine Drogerie und über der Harmoniestr. ein kleiner Gemüseladen. Sehr eng, aber es gab oft was Besonderes. Der Spielzeugladen, der sich anschloss, war für Kinder auch interessant und auch hier fuhr im Schaufenster oft eine Eisenbahn.

Mir sind noch einige Läden in Erinnerung, z.B. Pönitz und Kaminski, die Lebensmittelläden, Fleischerei Wirthgen, Mode- Marx und das Fischgeschäft kurz vor der Post.

Ein Fahrradgeschäft sowie ein Schallplattenladen. Gegenüber die legendäre Buchhandlung Sauermann. Da meine Mutter dort privat und dienstlich Kunde war, bezog ich von Sauermann´s auch immer die raren Olympia- und Fußballbücher.

Soweit meine Erinnerungen, hervorgerufen durch o.g. Artikel.

Harald Wennerlund

Eingeläutet

Festjahr eröffnet

Der Aufruf der Stadtverwaltung Anfang November letzten Jahres an die Bevölkerung von Radebeul, sich mit vielerlei Aktivitäten am großen Radebeuler Jubiläumsjahr 2024 zu beteiligen, hat bisher Vieles und Viele in Bewegung gebracht. So wie zu erfahren war, sind bereits zahlreiche Meldungen in der Stadtverwaltung eingegangen, und die Ideen wollen nicht ausgehen. Man kann sicher sein, wenn der Aufruf schon im vergangen Mai erfolgt wäre, könnte man schon jetzt auf ein überfülltes Programm schauen, etwa sowie damals im Jahre 2010 zum 75. Geburtstag von Radebeul, als aus einer spontanen Laune heraus viele Initiativen ein ganzes Festjahr prägten. So ist zu hoffen, dass auch diesmal der Funke überspringen möge und die Bewohner unserer schönen Lößnitzstadt sich und allen Besuchern auf vielfältige Art und Weise zeigen, dass es sich hier gut leben lässt, dass sie ihre Stadt lieben und dass sie im Grunde ihres Herzens eng mit ihrer Heimatstadt verbunden sind.

Einwohner aus Kötzschenbroda und Niederlößnitz erinnern an der Stadtgebietsgrenze zum Jahreswechsel an Jens Bergner und den Ehrenbürger Hellmuth Rauner
Bild: K.U. Baum

Auch wenn nun der offizielle Start zu den zweimal 100 Jahren Verleihung des Stadtrechtes, ein weiteres 100-jähriges Jubiläum, das der Hoflößnitz, dazugekommen ist, noch nicht erfolgt war, haben Bewohner der Käthe-Kollwitz-Straße es sich nicht nehmen lassen, den Beginn des Jubiläumsjahres mit einem Treffen an der Stadtteilgrenze Kötzschenbroda / Niederlößnitz gewissermaßen einzuläuten.

Nun ist es kein Geheimnis, dass die Niederlößnitzer mit den Kötzschenbrodaren von altersher immer mal wieder „über Kreuz“ lagen. Nicht so am 1. Januar 2024! Der provisorisch errichtete Schlagbaum, der ja auch immer eine Zollschranke war, wurde um 0.00 Uhr fröhlich geöffnet. Als Tribut war gute Laune gefordert, die alle Beteiligten reichlich mitgebracht hatten. Und so strömten die Bürger von beiden Seiten auf einander zu. Mit Sekt und Heiß-Getränken wurde auf das Neue Jahr mit seinen großen Jubiläen angestoßen und Passanten herzlich zum Mitfeiern eingeladen. Aber auch einige Gedenkminuten für zwei Wahl-Radebeuler legte die fröhliche Schar ein. Sie erinnerte sich an den Ehrenbürger und Kulturpolitiker Hellmuth Rauner, einst wohnhaft in der Käthe-Kollwitz-Straße 14, dem die Radebeuler viel zu verdanken haben. Und einige Häuser weiter, gewissermaßen auf dem Grenzpfad, war „Mister Wikipedia“, Jens Bergner zu Hause, der letztes Jahr so unerwartet aus unserer Mitte gerissen wurde. Hauptsächlich ihm haben wir Radebeuler die umfangreichen Wikipedia-Eintragungen über unsere Stadt zu verdanken.

Möge also das Jubeljahr gelingen, denn zu feiern gibt es 2024 reichlich und nicht nur 3×100! Man kann all die kleinen und großen Jubiläen gar nicht aufzählen, so viele sind es. Dass sie nicht untergehen, dafür werden die Bürger der Stadt mit ihren Vereinen und Einrichtungen gewiss sorgen.

Karl Uwe Baum

Ein richtig klasse Klassiker!

Zur Premiere von „Maria Stuart“ an den Landesbühnen am 13. Januar

Szene mit Julia Vincze und Maximilian Bendl
Bild: R. Jungnickel


In den letzten Jahren, angesichts des Aufwinds populistischer und autokratischer Machthaber, wurde vermehrt die Frage gestellt, ob die Welt insgesamt eine bessere wäre, wenn es mehr Frauen in Regierungsverantwortung gäbe. Denn im Windschatten von Angela Merkel hatten sich seit 2017 vergleichsweise junge Frauen wie Jacinda Ardern (Neuseeland), Kaja Kallas (Estland), Mette Frederiksen (Dänemark) oder Sanna Marin (Finnland) an die Spitze ihres Landes gestellt und Politik plötzlich weiblicher als je zuvor gemacht – und jeweils auch nach außen hin sympathischer, freundlicher, kompromissbereiter. Sind Frauen per se also die besseren Machthaberinnen? Wer im Umfeld des Todes von Queen Elizabeth II. im Herbst 2022 jenseits aller Huldigungen auf die Zwischentöne gehört hatte, der wusste spätestens dann, dass die Antwort auf die Frage höchstens ein entschiedenes Jein sein kann, auch wenn die Unterschiede zwischen demokratisch gewählter Regierungschefin und Erbmonarchin natürlich gravierend sind. Aber ob nun Politikerin oder Königin, letztlich mussten und müssen alle gewählten oder gekrönten Häupter auf dem Spielbrett der Macht die Figuren zu setzen verstehen – und sich selbst zu bewegen wissen. Genau auf diesen zentralen Aspekt hebt auch Friedrich Schillers Drama „Maria Stuart“ (1800 veröffentlicht) ab und stellt uns mit Elisabeth (Julia Vincze in einer ihrer größten Rollen an den Landesbühnen) und ihrer Gegenspielerin Maria Stuart (Karoline Günst in ihrer zweiten Spielzeit am Haus in einer Paraderolle) zwei Frauen vor, deren Rang und Einfluss auf die Zeitläufte sich wechselseitig bedingen und ausschließen. Auch wenn erfreulicherweise weder die Inszenierung an sich (Manuel Schöbel) noch das Programmheft explizit einen Bezug zur Gegenwart herstellen – lassen wir ein Tablet als Kamera und digitalen Notizblock einmal beiseite –, so beantwortet der durch Regie und Bühne/Kostüm (Barbara Blaschke) brillant herausgearbeitete Konflikt zwischen Machtbesitz und persönlicher Freiheit die Frage nach dem Warum der Aufnahme des Stückes ins Repertoire. In diesem lässt sich nämlich exemplarisch beobachten und nachempfinden, mit welch unerbittlicher Schärfe das Ringen um Machtgewinn und Machterhalt einerseits und das Vorgehen gegen Machtverlust anderseits vonstattengehen kann und wie beides letztlich die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Dazu bedient sich die Inszenierung bei der Gestaltung des Bühnenbildes eines genialen Tricks: Wohnt Maria als Gefangene in einem mittig platzierten, mit nach vorn aufklappbaren Seitenwänden versehenen Raum, der in seiner Ausmalung an ein mittelalterliches Gewölbe erinnert, so entsteigt im zweiten Akt Elisabeth einem ähnlich gebauten Quader, dessen Innenausstattung an einen gediegenen Saal erinnert. Diese Parallelität durchzieht das ganze Stück mit Ausnahme des 3. Aktes, der in einer Gartenlandschaft angesiedelt ist und das (historisch nicht belegte) Aufeinandertreffen beider Frauen zeigt. Mit steigender Spannung verfolgt das Publikum, wie beide Figuren Gefangene ihrer Rolle als tatsächliche (Elisabeth) und ambitionierte (Maria) Königin sind und sich den Einflüsterungen männlicher Ratgeber erwehren müssen. Elisabeth ist gezwungen, eine Entscheidung für oder gegen die Hinrichtung Marias zu treffen, weil diese, so glaubt man zu wissen, gegen Elisabeth putschen und den Thron besteigen will. Gleichzeitig ist sie Spielball der Interessen unterschiedlicher Kräfte, weshalb der Blick in die Herzkammer der Macht am englischen Königshof beklommen macht. Graf Leicester (Moritz Gabriel) ist erster Günstling der Regentin, aber heimlich auch immer noch in Maria verliebt und spinnt Intrigen, um seinen Kopf zu retten. Baron von Burleigh (Alexander Wulke) ist ein kompromissloser Machtpolitiker und fordert von Elisabeth eine ebenso kompromisslose Härte gegenüber Maria. Graf Shrewsbury (Boris Schwiebert) wiederum ist eher Taube als Falke und auf Ausgleich bedacht. Der Graf von Kent (Tom Hantschel) schließlich ist ein entscheidungsschwacher Ja-Sager. Zu allem Überfluss will der französische König sich mit Elisabeth vermählen, wie ihr durch den Gesandten Graf Aubespine (Grian Duesberg) überbracht wird. Maria geht es nicht viel besser: Zwar hat sie in Paulet (Matthias Avemarg) einen milden Aufpasser ihrer Gefangenschaft auf Schloss Fotheringhay, aber dessen Neffe Mortimer (Maximilian Bendl) will sie zur Flucht überreden und sie nach einem Mordanschlag auf Elisabeth mit Leicesters Hilfe auf den Thron hieven – um schließlich selbst als ihr Liebhaber davon zu profitieren. Der im Ganzen dreistündige Abend setzt nach der Pause zwei Höhepunkte in den beiden Szenen, in denen Elisabeth und Maria ganz bei sich sind und Freiheit und Macht jeweils ganz anders ausbuchstabieren. Was Julia Vincze und Karoline Günst in diesen Szenen abliefern ist großartig! Elisabeth, die als Königin die Freiheit haben müsste, souverän in allen Entscheidungen zu sein, will sich lieber die Freiheit nehmen, die Verantwortung am Tod Marias abzugeben. Maria dagegen, die Eingesperrte, schafft sich durch Gottesfürchtigkeit in Beichte und Eucharistie einen Raum absoluter Freiheit und geht selbstermächtigt und gesühnt dem Tod entgegen. Hier kehren sich in einem raffinierten dramatischen Kniff Macht und Ohnmacht in ihr jeweiliges Gegenteil um, weshalb ganz zum Schluss die mächtig-ohnmächtige Elisabeth ganz allein dasteht: Ihre Rivalin ist zwar tot, wird aber zur Märtyrerin, nachdem Falschaussagen wider sie entlarvt werden. An Elisabeth klebt das Blut ihrer Schwester. Auch wenn die beiden Hauptdarstellerinnen durch ihre schiere zeitliche Präsenz auf der Bühne das Stück maßgeblich prägen, so beruht die hohe Qualität der Inszenierung auf allen Akteuren, eingeschlossen auch Anke Teickner als Marias Amme und natürlich die Musiker (Berthold Brauer, Kevin Knödler, Simeon Hudlet), die viele Szenen und Umbauphasen behutsam instrumentieren und von Anfang bis Ende einen Klangfaden in Moll weben, zu dem am Anfang und Ende auch Maria beiträgt. Hervorzuheben sind auch die vielfältigen Ideen im Umfeld der Inszenierung, die das Publikum mit England und der Monarchie in Berührung bringen möchten. So konnte man sich im Glashaus des Foyers nicht nur an Tee und Gebäck bedienen und an einem Fotowettbewerb teilnehmen, sondern sich auch an einem Quiz zu den Soundtracks berühmter britischer Filme versuchen oder digital vermittelt Tom Hantschel lauschen, der aus erst kürzlich aufgetauchten Briefen der Maria Stuart liest. Leider wurden diese Angebote nur zurückhaltend wahrgenommen.

Vor fast 25 Jahren, im November 1998, hatte „Maria Stuart“ ihre letzte Premiere in Radebeul. Damals spielte eine Angela Merkel noch keine große Rolle in der Politik, die anderen zu Beginn gennannten Persönlichkeiten waren Jugendliche oder junge Erwachsene und wussten um die Fallstricke der Macht sicherlich wenig. Inzwischen dürfte sich das geändert haben. Schillers Text ermöglicht mit seiner „Maria Stuart“ jeder Generation eine Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Preis man für Macht zahlen muss. Ob die Menschen in politischer Verantwortung daraus ihre Rückschlüsse ziehen, kann bezweifelt werden. Dieses Stück von Schiller zu lesen und frei von Selbstverwirklichungsallüren zu spielen lohnt aber immer wieder. Langer Applaus und mehrere Vorhänge rundeten einen beeindruckenden Theaterabend ab. 

Bertram Kazmirowski

Nächste Vorstellungen: 2.2. 18 Uhr Radebeul; 3.2. 19.30 Uhr Meißen; 9.2. 20 Uhr Radebeul; 2.3. 19.30 Uhr Radebeul

Wegweisende Publikationen über die Hoflößnitz

In der ersten Folge unserer Serie zum 100. Eröffnungsjubiläum des Weinbaumuseums Hoflößnitz hatten wir im vorigen Heft an einen denkwürdigen Vortrag von Dr. Hans Beschorner im Jahr 1903 erinnert, der die Aufmerksamkeit der Dresdner Fachöffentlichkeit auf das im Dornröschenschlaf liegende Weinbergschlösschen im Herzen der Lößnitz lenkte. Diesem Vortrag folgten schon ein Jahr später zwei

Hauptsaal der Hoflößnitz, Tafel aus Gurlitt (1904), Vorlage Stiftung Hoflößnitz
Bild: Gurlitt, Kunstdenkmäler Dresden-Neustadt 1904


Im 26. Heft der »Beschreibenden Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen« (Dresden 1904, S. 136-149), das die Baudenkmale im Gebiet der Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt und damit auch der Lößnitz behandelte, lieferte Dr. Cornelius Gurlitt, Professor für Baukunst an der Technischen Hochschule in Dresden, eine ausführliche und sorgfältig bebilderte Beschreibung des von ihm als »das Wohnhaus« bezeichneten kurfürstlichen Lusthauses der Hoflößnitz und der gesamten Anlage. Auch wenn Gurlitt dabei einige – für einen solchen Experten erstaunliche – Ungenauigkeiten unterliefen, die Zweifel daran nähren, dass er das Schlösschen höchstpersönlich näher in Augenschein genommen hatte, ist seine Einschätzung, »das ganze Obergeschoss« sei »eines der bemerkenswerthesten Beispiele der Dekorationsweise des 17. Jahrhunderts« durch die beigegebenen qualitätvollen Lichtbilder und die eingehende Beschreibung der künstlerischen Ausstattung der fünf Räume hinlänglich untermauert. War die Hoflößnitz schon durch die Aufnahme in dieses Denkmalinventar als Baudenkmal klassifiziert, rangierte sie durch diese Einschätzung nun auch gleich in der ersten Kategorie.

Noch umfangreicher war der ebenfalls hervorragend illustrierte Aufsatz »Die Hoflößnitz bei Dresden« von Hans Beschorner in den »Dresdner Geschichtsblättern« (13. Jg., 1904, H. 1, S. 209-226 und H. 2, S. 239-247), die inhaltlich vertiefte und um nach wie vor wertvolle Quellenbelege ergänzte Fassung seines Vortragsmanuskripts aus dem Vorjahr. Dass Gurlitt und Beschorner aus je eigener Fachperspektive parallel am gleichen Thema saßen und sich austauschten, zeigen die Querverweise beider aufeinander. Beschorners Verdienst besteht darin, dass er die ihm dienstlich gut zugänglichen Akten des Hauptstaatsarchivs für seinen Gegenstand erstmals akribisch auswertete. Ergebnis war eine quellensatte und bis heute in Teilen unübertroffene Geschichte der alten Hoflößnitz bis zum reblausbedingten Ende des Staatsweingutes im späten 19. Jahrhundert.

Die Essenz dieses Aufsatzes, um einige neue Informationen bereichert, verwertete der Autor für den – wie alle seine Texte brillant formulierten – Artikel »Das Lust- und Berghaus in der Hoflößnitz einst und jetzt« in der Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung (Jg. 1905, Nr. 142 vom 2.12.1905, S. 565-567 und Nr. 143 vom 5.12.1905, S. 569f.), der u. a. die bauliche Fertigstellung des Schlösschens erstmals richtig auf das Jahr 1650 datiert. Damit wurde die Hoflößnitz nun in breiten Kreisen der kulturell und historisch interessierten Sachsen ein Begriff. Beschorners fragendes Fazit zur Zukunft dieses Kleinods – »Wird es vom Erdboden verschwinden? Oder wird es einen kunstsinnigen Eigentümer […] finden, der liebevoll seine Hand über all die Herrlichkeiten aus längst vergangenen Tagen breitet?« – gipfelte in dem Wunsch: »Hoffen mir das letztere!«

Noch verschiedentlich und auch, als Letzteres Jahre später längst eingetroffen war, kam Hans Beschorner, seit 1928 Direktor des Staatsarchivs, publizistisch auf die Hoflößnitz zurück, zuletzt in der 1931 als Nummer 10 der Reihe »Geschichtliche Wanderfahrten« erschienenen Broschüre »Die Hoflößnitz bei Dresden«, die mittlerweile als Reprint und – dank doppelter Digitalisierung – auch online leicht verfügbar ist. Wie vor 12 Jahren, als ich dieses Thema schon einmal aus etwas anderer Perspektive behandelt habe (vgl. V&R, Heft 7/2012), sei abschließend ein Zitat aus der Einleitung dieses Heftchens angeführt, dass heute noch fast so aktuell klingt wie 1931. Es sei sonderbar, schreibt Beschorner nämlich, »wie unbekannt den Dresdnern, ja selbst den Lößnitzern diese Sehenswürdigkeit ist. Die Sektkellerei kennt jeder, die Hoflößnitz so gut wie niemand.« Das Jubiläumsjahr 2024 bietet nun vielleicht Anlass und sicher reichlich Gelegenheit, dies zu ändern. (Fortsetzung folgt.)

Frank Andert

Mit Stephan Krawczyk poetisch durch das Jahr



Zur Titelbildserie

Holzschnitte von Michael Hofmann

Für 2024 hat der Radebeuler Maler und Grafiker Michael Hofmann die Gestaltung des Titelbildes übernommen. Mit einer Serie meist eigens dafür geschaffener Holzschnitte führt er durch das Jahr.
Das Blatt „Begegnung“ eröffnet den Reigen.
In den scherenschnittartig ausgestellten Formen lassen sich zunächst fünf Elemente unterscheiden: Hand, Kopf und Vogel, Haus und Mond. Bei genauerem Hinschauen erkennen wir zwischen Hand, Hut und Frisur zwei Gesichter wie in einem. Werden wir hier Zeugen einer besonders innigen Begrüßung, eines berührenden Abschieds oder gar einer plötzlich aufwallenden Gemütsbewegung? Was erzählt uns die erhobene Hand? Zeigt sie Ablehnung? Unterstreicht sie Zuneigung?
Das Blatt steht nicht zufällig am Beginn des Jahres und der Reihe. Janus, der altrömische Gott mit den zwei Gesichtern, gilt in der Überlieferung als Behüter der Tür und allen Anfangs. Der erste Monat des Jahres ist nach ihm benannt. Mit seiner Fähigkeit, zugleich nach vorn und zurück zu blicken, wäre er auch der beste Hüter von „Vorschau & Rückblick“.
Der Holzschnitt ist als Vervielfältigungsdruck die älteste Drucktechnik überhaupt. Das British Museum in London bewahrt mit der „Diamant-sutra“ den ältesten sicher datierten Bildholzschnitt aus dem Jahr 868. In Mitteleuropa kommt diese Technik seit dem 15. Jh. in Gebrauch.
Der in Chemnitz geborene Künstler hat im grafischen Betrieb seines Vaters den Beruf des Reprofotografen erlernt, bevor er in Dresden Malerei und Grafik studierte. Schon in seinen frühesten Arbeiten hat er sich ernsthaft mit dem Holzschnitt auseinandergesetzt. Davon aber später mehr.
Thomas Gerlach

Stephan Krawczyk zu Gast bei uns

2024 setzen wir unsere Reihe mit Liedermachern fort, die bereits zu DDR-Zeiten die Musikszene auf ihre ganz besondere Weise prägten.
Im Frühjahr letzten Jahres las ich beiläufig, dass Stephan Krawczyk in der Kirche Riesa-Gröba ein Konzert gibt. Da er meines Wissens in den letzten Jahren im Dresdner Kulturkalender nicht vertreten war, ergriff ich die Gelegenheit dem Konzert dort beizuwohnen.
Vor dem Konzert war der Künstler im ungewohnt vertrauten Austausch mit zumeist älteren Gästen. Aus gutem Grund, wie ich erfahren durfte. So fand sage und schreibe vor über 35 Jahren, also ein Stück weit vor dem Mauerfall, hier sein letztes Konzert statt, wo er unter Berufsverbot und im Schutze der Kirche auftrat. Viele der Anwesenden waren schon damals dabei und es hatte mit dieser Vorgeschichte selbst heute noch irgendwie den Nimbus des Konspirativen. Es schien, als schlösse sich nun endlich ein bisher unvollendeter Kreis.
Ermutigt durch die offene Atmosphäre habe ich ihn angesprochen und erzählte von der „Vorschau“ und unserer Lyrikseite. Ich rannte offene Türen ein, denn schon wenige Tage später fand ich 12 Texte für das komplette Jahr in meinem Postfach. Ebenso begrüßte er meinen Vorschlag, im kommenden Jahr ein Konzert in Radebeul geben zu wollen. (Die Planungen hierfür laufen bereits.)
Stephan Krawczyk ist insbesondere im Zusammenhang mit seinem unverdrossenen Engagement in der DDR-Bürgerbewegung bekannt geworden.
1981 gewann er den Nationalen Chansonwettbewerb der DDR, die Begegnung mit der Regisseurin und späteren Frau Freya Klier im Jahr 1984 gab seinem künstlerischen Weg ganz neue, kritische Impulse. Seine Lieder wurden schnell zu Hymnen der Protestbewegung. Es folgten Berufsverbot und Haft, bis er schließlich 1988 in den Westen abgeschoben wurde.
Nach der Wende 1989 setzte Krawczyk seine künstlerische Karriere fort. Er veröffentlichte zahlreiche Alben und Bücher, in denen er seine Erfahrungen in der DDR reflektierte. Politisch blieb er stets wachsam und entwickelte ein feines Gespür für die Erfahrungen in den Zeiten des Wandels.
Freuen Sie sich mit uns auf ein lyrisches Jahr mit Texten von Stephan Krawczyk!

Sascha Graedtke

Biographische Notizen

• Silvester 1955 in Weida/ Thüringen geboren.
• Nach Abitur und Studium der Konzertgitarre an der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar seit 1980 freiberuflicher Sänger.
• 1981 Gewinner des Nationalen Chansonwettbewerb der DDR.
• 1984 Umzug nach Berlin, Hauptstadt. Im selben Jahr beginnt er zu schreiben, im Jahr darauf wird ein Berufsverbot über ihn verhängt.
• Tritt gemeinsam mit Freya Klier in Kirchen auf, wird zur Symbolfigur der DDR-Bürgerbewegung. 1988 verhaftet die Stasi den oppositionellen Künstler und schiebt ihn 16 Tage später in den Westen ab.
• Im selben Jahr, in Westberlin, gründet Krawczyk die Bürgerinitiative „FCKW Stop! Jeder Tag zählt“.
• Konzerttourneen führen ihn durch den deutschsprachigen westeuropäischen Raum, nach Nordamerika, Frankreich, Spanien, Italien. Er schreibt das Buch „SCHÖNE WUNDE WELT“, das im Jahr der Wiedervereinigung veröffentlicht wird.
• Es erschienen bisher 15 LPs und CDs als Solokünstler und neben einem Opernlibretto und einem Schauspiel ebensoviele Veröffentlichungen in Lyrik und Prosa.
• Krawczyk lebt in Berlin und auf Mallorca.

Auszeichnungen

– 1981: Hauptpreis beim DDR-Chansonwettbewerb
– 1992: Bettina-von-Arnim-Preis
– 2001: Verdienstorden des Landes Berlin
– 2005: „Das unerschrockene Wort“, Auszeichnung des Bundes der Lutherstädte
– 2009: Bundesverdienstkreuz am Bande
– 2023: Mehrfache Auszeichnung beim Deutsch-französischen Chanson- und Liedermacherpreis 2023

Radebeuler Miniaturen

Rechenbeispiel
(für die eine, die gelacht hat)

Das ist das Schöne am Stammplatz, daß du da einfach sein kannst. Je nach Wetter drinnen am Tresen oder draußen am Faß, kannst du reden oder schweigen, ganz, wie dir zu Mute ist – eben: einfach sein. Alle, die darum wissen, denken, ach, da ist er wieder. Und wenn du länger nicht gesehen wurdest, wirst du vermißt. Selbst in der mäßig interessiert klingenden Frage, wo warst du denn so lange, liegt mehr Liebe, als du verdienst zu haben glaubst. Auch das tut gut, zu wissen.
Deine Gänge „ins Dorf“, die mal einfach der Bewegung dienen, aber auch einem höheren Zweck folgen können (heute zum Beispiel warst du im Rechenzentrum zwecks gemeinschaftsfördernden Erwerbs eines neuen Laubbesens), diese Gänge also, die folgerichtig am Stammplatz enden, sind für dich zum Inbegriff von Lebensqualität, Zufriedenheit und Dankbarkeit geworden. Vor allem aber sind sie Quelle der Inspiration:
Plötzlich hörst du da nämlich eine Stimme:
Sag mal, kennst du Al Gore?
Sofort erwacht deine Aufmerksamkeit, die Ohren richten sich nach hinten.
Naja kennen, antwortet eine zweite Stimme, den Namen hab ich schon gehört. War Senator in Tennessee, und zweimal Vize, bei Obama, glaub ich, oder wars Clinton? Warum fragst du?
Ich hab gehört, das wieder die Stimme des ersten, der hat den Rhythmus des Lebens gefunden.
Al Gore?! Quatsch! Präsident wollte er werden, war den meisten seiner Landsleute aber zu grün und also versifft oder umgekehrt.
Doch, doch, das erneut und voller Ernst der erste, ich weiß das genau, der kann dir alles ausrechnen, was du willst.
Freilich, denkst du selbst, die Amerikaner sind berechnend und unberechenbar zugleich – der andere scheint Ähnliches geäußert zu haben:
So meine ich das aber nicht, braust da nämlich der erste auf, der rechnet dir sogar aus, welcher Partner zu dir paßt.
Der Vize?
Genau, Al Gore! Wenn der erst den Rhythmus gefunden hat, weiß er genau, wen du an deiner Seite verträgst. Das spart Umwege.
Ach, sagt der Zweite, ich wäre da vorsichtig, hat der erst dein Geld kassiert, war alles nur wieder eine alternative Wahrheit. Ich kenn doch die Brüder…
Hat der Brüder?
Wer?
Al Gore!
Woher soll ich das wissen?!!
Na, wenn du sie kennst, wie du sagst, – warst du mal drüben?
Nee, nie, hab auch nicht das Bedürfnis dazu. Obwohl – New York könnten wir uns schon noch mal angucken, bevors absäuft … aber sag mal, kannst du dir deine Partnerin nicht selber ausrechnen?
Eben nicht! Dazu fehlt mir der Al-Gore-Rhythmus …

Neugierig geworden verläßt du deinen Hocker in Richtung Toilette, nur um nachher einen unauffälligen Blick auf die Redner werfen zu können. Aber wie du zurückkommst, sind sie verschwunden. Dankbar nimmst du dein zweites Bier in Empfang und überlegst, wieviele und welche Schritte der Algorithmus vorschreiben müßte, um das Gefühl der Dankbarkeit zu errechnen: 101001100011100001121100001110001100101 … in Ewigkeit Amen…

Thomas Gerlach

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