Von Stummfilmkino bis Kurzfilmnacht (Teil 1)

Oder: Kino in Radebeul – wen interessiert das noch? (Teil 1)

Die Redaktion von „Vorschau und Rückblick“ ist am 14. und 15. März bereits zum zweiten Male mit einem Stand auf dem Dresdner Geschichtsmarkt vertreten. Das diesjährige Schwerpunktthema „Fotografie, Film und Kino“ bot den willkommenen Anlass, für eine ungewöhnliche Spurensuche. Denn zum Thema Kino herrscht in Radebeul schon seit vielen Jahren eine merkwürdige Sprachlosigkeit.

Eröffnungsanzeige für das Imperial-Welt-Kino in der Kötzschenbrodaer Zeitung von 1908 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Man kann es kaum fassen, Radebeul, eine Stadt zwischen Dresden und Meißen mit 34.000 Einwohnern, ist gegenwärtig eine (fast) kinofreie Zone. Das „Großes Kino“ findet woanders statt. Zwar haben die Radebeuler weder eine Geburtenklinik noch ein Kino im herkömmlichen Sinne, doch dafür gibt es hier ein Mehrspartentheater, zwei Museen, eine Sternwarte, eine Stadtgalerie, eine Bibliothek, eine traditionsreiche Festkultur und Vieles mehr. Die Ausgaben für Kultur betrugen 2017 in Radebeul 2,6 Millionen Euro, was etwa 3,7 % des städtischen Gesamthaushaltes entspricht. Man könnte also meinen, dass alles gut ist, so wie es ist. Kino in Radebeul – wen interessiert das noch?
Stillstand ist keine Lösung, sagten sich die Gründungsmitglieder des neuen Radebeuler Kulturvereins und schrieben die „Förderung der künstlerisch, kreativen Szene und Kreativwirtschaft“ auf ihre Fahne. Einer Einladung des Vereins folgend, erlebte ich am 21. Dezember 2019 in der Hohlkehle auf der Meißner Straße 21 eine abwechslungsreiche „Internationale Kurzfilmnacht“. Das Zusammensein mit den filminteressierten jungen Menschen war erfrischend und der Gedanke kam auf, gemeinsam nach alternativen Lösungen zu suchen, wie Radebeuls kinofreie Zone mit neuem Leben gefüllt werden könnte.

Anzeige von Artur Ritter für seine Radebeuler Stummfilmkinos im Jahr 1911 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Welche Umstände zur Schließung aller Radebeuler Kinos geführt haben und ob diese Radikalität wirklich so alternativlos war, lässt sich auf die Schnelle nicht eindeutig klären. Baugutachten und Protokolle könnten Auskunft geben. Im Radebeuler Stadtarchiv stößt man auf viele authentische Zeugnisse von den Anfängen des Kinos bis zu den Auswirkungen der Abrissbirnen. Der umfassende Bestand an Tageszeitungen reicht von 1865 bis in die Gegenwart.
Wer vor über einhundert Jahren Aufmerksamkeit erregen wollte, schaltete in der lokalen Presse eine Anzeige. So stößt man zum Beispiel in der “Kötzschenbrodaer Zeitung“ vom 22. August 1908 auf ein spannendes Stück Filmgeschichte. Während Direktor Fey für sein mobiles „Salon-Cinephon-Theater“ auf der Kötzschenbrodaer Vogelwiese wirbt, wird in der gleichen Ausgabe die Eröffnung des „Welt-Imperial-Kinos“ angekündigt, welches nachweislich das erste Kino in Kötzschenbroda mit einem festen Standort auf der Harmonistraße 14 ist. Die Anzeige war allerdings etwas knapp gehalten. Um so wortreicher kündigte Direktor Fey das “leistungsfähigste

Briefkopf vom Palast-Theater aus dem Jahr 1935 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Kinematographentheater des Kontinents“ mit „lebender Photographie in Ton und Bild“ sowie „der direkten Kupplung des Auretophons mit dem Kinematograhen“ an. Übertreibung gehörte schon damals zum Geschäft. Dabei lag das Augenmerk vor allem auf den technischen Raffinessen. Gezeigt wurden kurze Filme über Katastrophen oder so sensationelle Ereignisse wie Automobil-Rennen. Auch standen unzählige „Schmachtfetzen“ wie das prachtvoll kolorierte Verwandlungsmärchen „Gretchens Talismann“ oder das ergreifende Drama „Die junge Volksschullehrerin“ auf dem Programm.

Programmankündigung im Monatsheft »Die Vorschau« für die drei Radebeuler Kinos im Jahr 1954 Repro: Stadtarchiv Radebeul

Wann das erste fest stationierte „Alt-Radebeuler Kino- und Tonbildtheater“ auf der Dresdner Straße 10 eröffnet wurde, lies sich bisher nicht ermitteln. Vermutlich könnte es 1909 gewesen sein. Der große Zuspruch wird dessen Besitzer Artur Ritter dazu bewogen haben, in unmittelbarer Nähe auf der Sidonienstraße 1 ein weiteres Kino einzurichten. Die Eröffnung des elegant und technisch modern ausgestatteten „Union-Theaters“ in den Räumen einer ehemaligen Poststelle erfolgte im Jahr 1910. Der Erste Weltkrieg dämpfte allerdings die Expansionspläne der kleinen privat betriebenen Stummfilmkinos. Nachdem Artur Ritter im Krieg gefallen war, hat seine Witwe hat das Kino weitergeführt.
Wie sich im Laufe der Recherchen herausstellte, muss es in Radebeul zwei und in Kötzschenbroda sogar drei Stummfilmkinos gegeben haben. Erwähnt wurde in der „Kötzschenbrodaer Zeitung“ vom 11. April 1911 das „Dedrophon-Theater“ im Ratskeller-Saal, gegenüber dem Gemeindeamt, welches sich auf der Gartenstraße 16 (heute Hermann-Ilgen-Straße) befand und der 85jähige Herbert Bieberstein (1819 – 2009) beschrieb in der Geschichte „Stummfilmzeit in Kötzschenbroda“ das „UT-Lichtspiel-Theater“, welches sein Domizil in einem Hintergebäude auf der Gartenstraße 48 (heute Hermann-Ilgen-Straße) aufgeschlagen hattet. Von jenem „U.T. Universum-Theater“ steht z.B. im Kötzschenbrodaer Generalanzeiger vom 4. Januar 1925 eine Anzeige mit dem aktuellen Programm.
Der erste deutsche Tonfilm mit integrierter Tonspur wurde bereits im September 1922 im Berliner Alhambra-Theater aufgeführt. Den Durchbruch des Verfahrens brachte im Jahr 1928 der Film „Der Jazzsänger“. Bis dahin wurde die Verbreitung des Tonfilms durch die Stummfilmindustrie nahezu verhindert. Doch deren Glanzzeit war unwiederbringlich vorbei. Dem Stummfilm folgte der Tonfilm und diesem wiederum der Farbfilm.
Ehemalige Tanzsäle wurden zu prunkvoll ausgestatteten Lichtspieltheatern umgerüstet. In Kötzschenbroda eröffnete 1921 auf der Bahnhofstraße 7 im großen Saal des Kulmbacher Hofes das „Palast-Theater“ mit ca. 500 Plätzen. Bereits 1926 folgte die Eröffnung des Capitol-Lichtspieltheaters im großen Tanzsaal des ehemaligen Bahnhotels Viktoria auf der Bahnhofstraße 11 mit ca. 550 Plätzen. Hatten sich bereits die Stummfilmkinos Konkurrenz gemacht, so blieb die Rivalität unter den Betreibern der Lichtspieltheater erst recht nicht aus, denn die tägliche Auslastung der bestehenden Kinos soll bei kaum 30 Prozent gelegen haben. Obwohl der Besitzer des „Palast-Theaters“ massiv dagegen interveniert hatte, öffneten 1935 im kleinen Saal der „Goldenen Weintraube“ auf der Meißner Straße 152 die „Lößnitz-Lichtspiele“. Damit gab es in Radebeul ein weiteres Kino mit ca. 300 Plätzen.
Der Zweite Weltkrieg forderten seinen Tribut. Viele Kinogebäude in Dresden waren zerstört. In Radebeul blieben sie unversehrt. Der Spielbetrieb konnte sofort wieder aufgenommen werden. Mit der Überführung der privatwirtschaftlich geführten Kinos in Volkseigentum war auch deren Umbenennung verbunden, was in Radebeul nur eines der drei Kinos betraf. Aus dem „Filmtheater-Capitol“ wurde 1954 das „Filmtheater-Freundschaft“. Der kulturpolitischen Bedeutung des Lichtspielwesens war man sich in der DDR von Anfang an bewusst. Im Monatsheft „Die Vorschau“, welche ab 1954 durch den Rat der Stadt, Abteilung Volksbildung herausgegeben wurde, war das komplette Programm aller drei Radebeuler Filmtheater sowie der mobilen Aufführungsstätte in Wahnsdorf enthalten. Unter der Rubrik „Film des Monats“ verfasste Karlheinz Drechsel (Jazzmusiker, Musikjournalist, Initiator des Dresdner Dixilandfestivals) Filmkritiken, die auch heute noch lesenswert sind.
Dort wo kein Kino war, kam das Kino zu den Menschen. Filmvorführungen fanden in Dorfgasthöfen, Kulturhäusern, Altersheimen, auf Campingplätzen oder in Ferienlagern statt. Gerd Schindler, der hauptberuflich für die Wartung der Filmtechnik im gesamten Kreis Dresden-Land zuständig war, arbeitete zusätzlich als Filmvorführer. Er erinnert sich, dass es neben den drei Kinos in festen Häusern auch noch weitere Spielstätten gab, die zu bespielen waren. Die so genannte „Blechtonne“ im Bilzbad, eine Kinohalle in Leichtbauweise, wurde nur in der Saison genutzt. Die Freilichtbühne „Am Waldrand“ befand sich in der Gartensparte an der Forststraße. Ein Holzbau diente dort als Vorführraum. Die Projektoren waren den Sommer über fest verbaut. Eine stationäre Bildwand aus Blech von acht Metern Breite und einem Anstrich mit reflektierender Farbe, wie man sie für Fahrbahnmarkierungen benutzt, war dauerhaft eingebaut. Als Sitzgelegenheit dienten Holzbänke in bedauernswerten Zustand, aber es gab immerhin 600 Plätze.
Dass sich noch jemand an die Stummfilmzeit erinnert, hätte ich eigentlich gar nicht für möglich gehalten. Umso bewegender war es dann, als Herbert Bieberstein bei einer Lesung des Radebeuler Autorenkreises in der Stadtgalerie seine Geschichte „Stummfilmzeit in Kötzschenbroda“ vorgetragen hat. Auf humorvolle und sehr anschauliche Weise beschreibt er, wie er als sieben- oder achtjähriger Knabe, das Stummfilmkino des Herrn Jokusch erlebte. (Radebeuler Mosaik, Heft 9, 2006). Auch Joachim Richter (1926 – 2013) erinnerte sich mit der Geschichte „Radebeul, die Kinos, meine Oma und ich“ an seine Kinobesuche mit der Großmutter in Kötzschenbroda. Aus der kindlichen Begeisterung wurde eine Kinoleidenschaft fürs ganze Leben. (Radebeuler-Mosaik, Heft 10, 2007)
Ich selbst hatte ebenfalls das Glück noch alle drei Radebeuler Filmtheater kennenzulernen. Während das „Palast“ ein wenig altmodisch, aber urgemütlich wirkte, galt die „Freundschaft“ für damalige Verhältnisse als ausgesprochen modern. Es verfügte über ca. 500 Plätze und diente ja nicht nur als Kino. Hier fanden auch Konzerte statt und es traten Theatergruppen auf. Dass der Hinterausgang in einen – je nach Wetterlage – staubigen oder schlammigen Hof mündete, nahm man notgedrungen in Kauf. Wichtiger war es, möglichst keinen Film zu verpassen. Während ich mir im“ Palast“ vorwiegend Filme aus der Vorkriegszeit, Musik- oder Lustspielfilme anschaute (u. a. „Große Freiheit Nr. 7“ 1944, „Der Sänger von Capri“ 1959, „Pension Schöller“ 1960) waren es in der „Freundschaft“ Filme aus Frankreich, Italien, den USA, der DDR oder der BRD (u. a. „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ 1969, „Die Dinge des Lebens“ 1970, „Goya“ 1971, „Ein besonderer Tag“ 1977, „Die bleierne Zeit“ 1981).

Sommerfilmtage im Bilzbad mit der Kinohalle im Hintergrund, Ende der 1970er Jahre Foto: E. Wolf/ Stadtarchiv Radebeul

Mit zwei Kinos quasi vor der Haustür, gab es für mich keinen Grund, wegen eines Filmbesuches von Radebeul-West bis nach Radebeul-Ost zu fahren. Das änderte sich erst mit meiner Tätigkeit in der „Kleinen Galerie“, die sich bis 1995 auf der Ernst-Thälmann-Straße 20 befand. In einer Art Kooperation mit dem Filmtheater Union hatten wir mit Radebeuler Künstlern und dem Galerieinteressenkreis die Reihe „Film unserer Wahl“ ins Leben gerufen und konnten bei der damaligen Kinoleiterin Brigitte Beyer unsere Wünsche äußern. Vor allem die systemkritischen Filme aus der Sowjetunion wie „Stalker“ (1978/79, „Das Blaue vom Himmel“ (1983) oder „Briefe eines toten Mannes“ (1986) boten reichlich Stoff zum Diskutieren.
Über Programmgestaltung, Besucherzahlen, Preisgestaltung wurde immer wieder ausführlich debattiert. Der bauliche Zustand der Kinogebäude, die sich noch in privatem Besitz befanden oder durch die Gebäudewirtschaft verwaltet wurden, geriet dabei häufig aus dem Blick. Bereits 1957 hatte man die hygienischen Verhältnisse und die geringe Platzkapazität des Filmtheaters Union (zuletzt 90 Plätze) für unzureichend befunden und den Vorschlag gemacht, stattdessen den Tanzsaal der „Vier Jahreszeiten“ als Kino umzubauen. Der Vorschlag wurde zwar nie umgesetzt, dafür erfolgte die Rekonstruktion des Filmtheaters „Union“. Mit Wiedereröffnung im Jahr 1977 wurde es zum Kinder- und Jugendtheater ernannt. Gebräuchlicher war allerdings der liebevolle Spitzname „Flohkiste“. Die engagierte Kinoleiterin organisierte viele zusätzliche Veranstaltungen. Es gab Ferienprogramme, einen Jugendfilmclub sowie die AGs „Junge Filmvorführer“ und „Junge Rezitatoren“.
Für die Filmfreunde war es ein erster großer Kino-Schock als das Palast-Theater 1968 geschlossen wurde. Nach Kenntnis von Gerd Schindler lag die Schließung darin begründet, dass durch Säulen im Saal nicht die erforderliche Bildbreite erreicht wurde, um Cinemascope-Filme vorführen zu können. Im Filmspiegel von 1969 findet sich unter der Rubrik Meinungen eine Leserzuschrift von Joachim Richter. Als Mitglied des Radebeuler Filmclubs brachte er seine Verärgerung über die Schließung zum Ausdruck. Doch aller Protest hatte nichts bewirkt. Das Kino blieb geschlossen. Ein paar Jahre diente das Gebäude noch als Lagerhalle. Im Jahr 1985 erfolgte der Abriss.
Genau zwanzig Jahre später ereilte das Filmtheater Freundschaft ein ähnliches Schicksal. Es wurde 1988 geschlossen, was wohl durch den damaligen Filmstellenleiters forciert worden ist, um die Rekonstruktion zu erzwingen. Das Dach war undicht und die Toiletten konnten nur noch mit einer Ausnahmegenehmigung betrieben werden. Doch diese Mängel hätten sich wohl auch ohne Schließung beseitigen lassen. Ich erinnere mich noch gut an die Worte der damaligen Stadträtin für Kultur, die konsterniert feststellte: „Wenn wir das Filmtheater Freundschaft jetzt schließen, werden wir es nie wieder öffnen“. Ihre Kassandrarufe verhallten ungehört. Kühne Kino-Ideen (egal ob realistisch oder nicht) zerplatzten in den unruhigen Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs wie buntschillernde Seifenblasen.
Karin (Gerhardt) Baum
(Fortsetzung folgt)

Zum Titelbild Januar 2020

Titelbildserie 2020

Auch in diesem Jahr wollen wir die Leserschaft mit neuen Titelbildern erfreuen. Unsere Wahl fiel auf die Radebeuler Malerin und Grafikerin Bärbel Kuntsche, die im vergangenen Jahr ihren 80. Geburtstag beging, was man allerdings kaum glauben kann, ist sie doch wie eh und je künstlerisch aktiv.
Bärbel Kuntsche wurde 1939 in Weißenborn bei Freiberg geboren. Der Ausbildung als Porzellanmalerin in Meißen folgte von 1962 bis 1966 das Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Seit 1976 lebt sie mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wolf-Eike Kuntsche, in Radebeul. Bärbel Kuntsche gehört zu jenen Künstlerinnen, welche die „Dresdner Sezession 89“ gründeten. Speziell für die hiesige Kasperiade, den Grafikmarkt und die Radebeuler Begegnungen schuf sie zahlreiche Illustrationen und Vignetten. Vor allem die von ihr gestalteten Kasperiade-Plakate sind begehrte Sammelobjekte. Im Jahr 2005 wurde Bärbel Kuntsche für ihr künstlerisches Gesamtwerk mit dem Radebeuler Kunstpreis ausgezeichnet.
Das Motiv des Januar-Heftes trägt den Titel „Maria und Elisabeth“. Es zeigt zwei Frauen, die einander begegnen. Beide sind schwanger, gehen mit offenem Blick und ausgestreckten Armen aufeinander zu. Die schwungvolle Tuschezeichnung entstand 1989, was kein Zufall gewesen sein kann. Denn es war jenes WENDE-Jahr, in dem Gravierendes geschah und das uns mit vielen Fragen aber voller Hoffnung entließ.
Karin (Gerhardt) Baum

Zum Titelbild Februar 2020

Zur Titelbildserie

Das neue Reisegesetz der DDR vom Januar 1990 ermöglichte allen Bürgern endlich zu reisen, wohin sie wollten. Was heute als eine Selbstverständlichkeit empfunden wird, löste damals bei vielen Menschen unbeschreibliche Glücksgefühle aus. Freiheit wurde vor allem auch als Reisefreiheit begriffen.

Das Reisen bildet, wussten schon Generationen vor uns. Italien galt seit Jahrhunderten als Sehnsuchtsland. Allein in Rom sollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts über 500 deutsche Maler, Bildhauer und Architekten gelebt haben. Goethes Italien-Reise-Tagebuch stößt noch heute auf großes Interesse.

Auch das Radebeuler Künstlerpaar Bärbel und Wolf-Eike Kuntsche begab sich mit den befreundeten Künstlern Claus Weidensdorfer, Ute und Werner Wittig auf Goethes Spuren. Bärbel Kuntsche erinnert sich, dass sie überwältigt waren von der Kultur, Natur und Architektur, vom Duft der Orangenblüten, der seidigen Luft und dem besonderen Licht. Endlich war es möglich, bedeutende Kunstwerke im Original anzuschauen. Unentwegt wurde gezeichnet und die Skizzenbücher füllten sich. Eindrücke der Italienreisen spiegelten sich auch in ihrem späteren Schaffen.

Die Tuschezeichnung „Römische Landschaft“ entstand im Jahr 2001. Sie ist sparsam angelegt. Zu sehen sind Pinien, Zypressen und ein Gehöft. Der Blick schweift vom Palatin, einem der sieben Hügel Roms, über eine weite Landschaft. Das Forum Romanum ist allerdings nur für des Ortes Kundige als solches zu erahnen.

Karin (Gerhardt) Baum

Mit Wolf Biermann poetisch und politisch durch das Jahr

Nachgereicht: Weltweit erste öffentliche Aufführung verschollen geglaubter Werke der Komponistin Prinzessin Amalie von Sachsen

Im wunderbaren Ambiente am Fuße der gründenden Weinberge und wohl eingestimmt mit einem Tropfen erstklassigen frischen Weines begrüßte der Hausherr Prof. Dr. Rainer Beck am Abend des 17. August 2019 seine Gäste mit einer Einladung in die musikalische Welt der Amalie und den längst verflogener Klänge der spätromantischen Musik.

Prinzessin Amalie von Sachsen (1794-1870)


In einem Preview zum 150. Todestag der Prinzessin Amalie von Sachsen am 18. September 2020 präsentierten die vier hochkarätigen Musikerinnen des Dresdner Streichquartetts „Baroccoli“ verschollen geglaubte und nun wiederentdeckte Werke.

Mit einer Fülle an Wissen über die Komponistin, deren Werk mit ihrem Leben verklungen und nicht wieder zu Ruhm gelangt war, führte uns eine Expertin, Frau Petra Andrejewski, behutsam in die Welt der Amalia ein, die nichts mit Anna Amalia in Weimar verwechselt werden darf. Amalie von Sachsen lebte vom 10. August 1794 bis zum 18. September 1870, sie war eine Prinzessin von Sachsen, aber sie arbeitete unter dem Pseudonym A. Serena als Komponistin von Opern und Kantaten und war eine Schülerin Carl Maria von Webers. Unter dem Pseudonym Amalie Heiter verfasste sie zudem zahlreiche Theaterstücke. (Wikipedia)

Die Musikerinnen glänzten durch ein hervorragendes Zusammenspiel und jede auf ihre Weise als virtuose Meisterinnen ihres Fachs. Sie begeisterte das Publikum auf einzigartige Weise mit Werken der Komponistin Amalie die aufhorchen ließen.

In ständigem Wechsel von schnellen und langsamen Tönen, piano, pianissimo oder forte gespielte Partituren konnte der aufmerksame Zuhörer einem Reigen italienisch gleichender Opernklänge folgen, was wundervoll zu den sanften sommerlichen Weinterrassen der Lößnitz entsprach.

Man sollte sich mehrere Namen merken: Das Streichquartett „Baroccolo“, die Autorin und Bewahrerin der Werke Amaliens Frau Petra Andrejewski und nicht zuletzt dem Veranstalter, dem Weingut der „Drei Herren“ und dessen wunderbaren Weinen.

Noch ein Geheimtipp: Wir dürfen gespannt sein, was in der kommenden Zeit an Musik der Amalie von Sachsen zur Aufführung gelangen wird. Unter Vorbehalt angekündigt wurde die Aufführung der Oper „Elvira“ für die Musikfestspiele im nächsten Jahr (2020) im Palais des Großen Gartens in Dresden.

Mit einem große Dankeschön an alle fleißigen Mitgestalter/-innen dieses unvergesslichen Abends hoffe ich, dass es nicht allein bei dieser gelungenen Veranstaltung bleiben wird.

Ina Vogt

Käthe Kollwitz in China

Käthe Kollwitz ist seit den 1930er Jahren in China wohlbekannt. Dies haben wir vor allem Lu Xun zu verdanken. Lu Xun, auch der chinesische Gorki oder chinesische Brecht genannt, war Chinas bedeutendster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Viele sagen, Lu Xun sei von Kollwitz’ Holzschnitt so begeistert, weil auch analphabetische Menschen die revolutionäre Botschaft verstehen können oder dass er während seines Studiums in Japan schon die Leidenschaft für Holzschnitt wie Kunstwerke von Hokusai entwickelt habe. Meiner Meinung nach sind solche Erklärungen zu vage und ich habe angefangen, das Tagebuch von Käthe Kollwitz und die Briefsammlung von Lu Xun zu lesen. Dabei habe ich die tiefere Verbindung zwischen den beiden entdeckt:

In seinem Prolog von Applaus schrieb Lu Xun, „als wäre im einem Blechhaus ohne Fenster, die Menschen sind fest eingeschlafen, bald werden sie alle ersticken und sterben, aber sie fühlen keine Trauer, weil sie nichts davon wissen. Jetzt ist ein Mann plötzlich wach geworden, und er hat auch paar anderen Menschen aufgeweckt. Die Wachen leiden an Angst und Frustration, weil sie die Situation nicht ändern können. Aber ich denke, wenn es schon paar wache Menschen gibt, werden wir irgendwie doch die Hoffnung haben, das Blechhaus gemeinsam zu zerstören, indem sie alle anderen auch zum Aufwachen bringen.“ Kollwitz hat ihre Radierung im Jahr 1941 unter dem Titel » Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden « gemalt. Sie sagte schon im Jahr 1922, „ich will wirken in der Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.“

Sowohl Lu Xun als auch Kollwitz setzen sich ein, um das Bewusstsein von Menschen zu verändern, um das gedemütigte Volk zu befreien. Sie fordern die Menschen auf, das soziale Unrecht nicht schweigend hinzunehmen, weil die Rechte nur erkämpft werden können, sie werden nicht einfach vom Herrscher geschenkt.

Weder Lu Xun noch Kollwitz geben auf, obwohl es im Moment gar kein Licht in der Dunkelheit zu geben scheint. Kollwitz hat zu diesem Thema immer wieder Kunst geschaffen, auch nachdem sie im Jahr 1933 zum Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste gezwungen wurde. Im Jahr 1931 trotz der Angst vor Verhaftungen versuchte Lu Xun seine Studenten zu retten und hielt Reden in der Öffentlichkeit. Im Juli 1936 erkrankte LuXun schwer an Tuberkulose. Er konnte nicht mehr schreiben, aber mit letzter Kraft wählte er seine Lieblingsholzschnitte von Kollwitz aus und veröffentlichte sie als Mappe mit Kollwitz-Reproduktionen in Shanghai. Im Oktober 1936 starb Lu Xun.

Beide sind offene internationale Humanisten. In den 20er Jahren entwarf Kollwitz ein Plakat „Helft Russland“als Beitrag zur Überwindung der Dürrekatastrophe im Wolgagebiet und unterschrieb den Aufruf der Deutschen Liga für Menschenrechte für eine Verständigung mit Frankreich. Lu Xun sprach Japanisch und sogar etwas Deutsch, er erwarb mit Hilfe der amerikanischen Journalistin Agnes Smedley Kollwitz’ Werke. Im Jahr 1918 setzte Agnes Smedley sich für die indische Unabhängigkeitsbewegung gegen England ein und befreundete sich mit Kollwitz. In den 1930er Jahren zog sie nach Shanghai und lernte Lu Xun kennen. Es scheint mir, dass die beiden Künstler keine kulturellen Grenzen kannten.

Sowohl Lu Xun als auch Kollwitz haben sich eine bessere Zukunft vorstellen können und daran geglaubt, dass wir sie realisieren könnten. In Deutschland höre ich oft den Satz, „Es ist halt so, das geht nicht anders.“ In China erzählen viele Freunde mir, dass eine Demokratie dort eh nicht funktionieren könne, weil es so viele Menschen in China gebe. Kollwitz hat den ersten und zweiten Weltkrieg erlebt, ihren Sohn und Enkelsohn durch den Krieg verloren. Sie starb einen Monat vor Kriegsende. In ihrer Lebenszeit wirkte alles so hoffnungslos, weil die Menschen so dumm waren und versuchten, einen Krieg mit einem noch größeren Krieg zu beenden. Lu Xun erlebte den dramatischen Veränderungsprozess in China, in dem das Kaiserreich China abgelöst wurde und China andauernd unter inneren Konflikten litt. Auch Lu Xun starb, bevor er hätte Frieden spüren können. Die beiden Künstler lebten in einer Dunkelheit und glaubten dennoch, dass solches Elend auch ein Ende haben könne.

Unsere Gegenwart war für Kollwitz und Lu Xun die Zukunft. Wie sieht es denn heute aus? Die demokratischen Parteien haben in den 1990er Jahren beachtliche Erfolge erreicht, stehen aber heutzutage hilflos vor der Herausforderung einer immer schnelleren, komplexeren, globaleren Welt. Hätte es Kollwitz, Mann und Einstein überrascht, die AfD in der Bundestagswahl 2017 und Europawahl 2019 die stärkste Partei in Sachsen werden zu sehen? Hätte es sie zu einem neuen Dringenden Appell motiviert? Im Spiegel sieht man sein Bild oft klarer als wenn man an sich herunterblickt; in China jedenfalls sehen wir heute die vielen Schlafenden klarer als in Deutschland, wohl weil die Gefahren präsenter sind. Der technologische Fortschritt ist schneller, der kapitalistische Druck auf alle Teile der Bevölkerung stärker, die Überwachung digitaler. Viele sind stolz auf chinesische Hochgeschwindigkeitszüge, unkritisch gegenüber mobilen Zahlungssystemen mit Gesichtserkennungstechnik, Dank der Parteidogmatik tief im Selbstbetrug gefangen, kaum um die eigenen Rechte und Meinungsfreiheit wissend. Ich denke, dass wir in Deutschland wie auch China noch einen langen Weg vor uns haben bis zu der Welt, die Lu Xun und Kollwitz erträumt und sich erkämpft haben.

Kunst stammt aus dem Leben. Speziell Sehnsucht und Dinge, die wir in der Realität nicht haben, wandeln wir in Kunst um. Ich bin dankbar, dass auch heute Künstler wie damals Lu Xun und Kollwitz lieben und streiten, und dass uns das Vorbild dieser beiden bleibt. Sie sind wie winzige Flammen im Kunstwerk von Anselm Kiefer, trotz aller menschlichen Schwächen und schrecklichen Traumata, brennen sie in Hoffnung und ermutigen uns, nicht aufzugeben.

Fang Han
Kunstkritikerin

„Tapetenwechsel“ mit neuen Wegen und Ideen

Ein gemeinsames Projekt zwischen den Landesbühnen Sachsen und dem Masterstudiengang „Bühnenbild Szenischer Raum“, der TU Berlin

Ein aufgeregtes hin- und her hinter den Kulissen. Erstmalig sind neun Tänzer zwischen Berlin und Radebeul in einem gemeinsamen Projekt (Tapetenwechsel) zu erleben, betreut von den gestandenen Tänzerinnen und Tanzpädagoginnen Wencke Kriemer de Matos und Kerstin Laube. Als bildnerischer Berater steht dem Team Stefan Wiel von den Landesbühnen Sachsen zur Seite. Das Besondere an dem zum ersten Male durchgeführten Projekt ist, dass die Absolventen sämtliche Möglichkeiten, die ein professionelles Theater zu bieten hat, nutzen können und dass es in den Landesbühnen Sachsen statt findet.

Szene mit Aurora Fradella und Camilla Bizzi (v.l.)


Die erste Szene, von Christian Senatore choreografiert, stellt sich in spielerischer Form die Frage: „Was geschieht, wenn sich von einer Persönlichkeit andere Seiten zeigen?“ Oft gehen gut oder böse ineinander über, was allerdings in dieser Choreografie durch die drei jungen Tänzer/innen Alena Krileva, Aurora Fradella und Gianmarco Martini Zani in bildhaft-sichtbarer Form geleistet wird. Die Folie für diese Choreografie bieten musikalisch Spaniens Elektroniker (elektronische Musik).

Als zweite Choreografie von Brian Scalini, die eine Mann-Frau-Beziehung thematisierte, gefiel der Rezensentin die Bildsprache der beiden Tänzer Carnilla Bizzi und Alfonso Pereira in ihrer dichten Folge gut.

Als dritte Arbeit in Folge choreografierte Ema Jankovic „eine Frau auf der Suche nach ihrer Identität.“ Sie setzte ihre Choreografie in der Rolle als Tänzerin um.

In der vierten Szenenfolge kommt die Sorge um unsere Umwelt, in der Choreografie von Camilla Bizzi und Aurora Friedella, zum Tragen. „Wir sind immer in Bewegung und das Leben ist philosophisch als Fluss zu verstehen.“ Verraten die vier Tänzer: Oleksandr Khudimov, Alfonso Pereira, Brian Scalini, Gianmarco Martini Zani unter der Choreografie von Alena Krivileva. Die eine ansprechende, kraftvolle Choreografie boten.

Interessant ist an dieser Uraufführung von der Sparte Tanz, dass „Tapetenwechsel“ alle Altersstufen anspricht. Im Programm oder im Gespräch mit den Protagonisten ist zu erfahren: Die jungen Tänzer und Tänzerinnen, die aus allen Teilen Europas kommen, haben mehr oder weniger freudvolle Tapetenwechsel erlebt. Insofern ist der choreografierte Abend als Identitätssuche zwischen Gewinn und Verlust erlebbar. Die einzelnen Aufführungen wurden vom Publikum ausgesprochen gut und interessiert aufgenommen.

Angelika Guetter

Die (jung gebliebene) Mutter aller deutschsprachigen Lustspiele

Lessings „Minna von Barnhelm“ hatte am 18./19.1. Premiere an den Landesbühnen Sachsen

Obgleich Lessing insgesamt ein Dutzend Stücke für die Bühne schrieb, werden doch seit langem nur noch einige wenige davon regelmäßig gespielt. „Nathan der Weise“ (1783) natürlich, auch „Emilia Galotti“ (1772), gelegentlich noch „Miß Sara Sampson“ (1755) und „Minna von Barnhelm“ 1767). Was daran auffällt, sind die Titel: jeweils der Name der Hauptfigur wird direkt benannt. Was daran noch mehr auffallen sollte: In drei der vier Stücke stellte Lessing eine weibliche Figur in den Mittelpunkt, was in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein unerhörter Bruch mit den Traditionen war. Man gehe beispielsweise die Reihe der Shakespearschen Stücke durch: wo Namen im Titel auftauchen, geht es um Männer, allesamt Prinzen oder Könige. Dagegen Lessing, der Modernisierer, Vordenker und Aufklärer: Er wendete sich den Bürgern und dem niederen Adel zu, darunter besonders den Frauen. Minna von Barnhelm, sächsisches Edelfräulein, steht beispielsweise für eine selbstbewusste Frau, die sich nicht damit abfinden will, dass ihr Traum von einem Leben an der Seite eines verdienten preußischen Offiziers, Tellheim, an dessen Stolz und Ehrgefühl scheitern soll. Das ist die Grundkonstellation für das als Lustspiel deklarierte Stück, dessen vollständiger Titel bereits einen Fingerzeig auf den heiteren Charakter gibt: „Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück“.

Szene mit Grian Duesberg und Sandra Maria Huimann
Foto: Norbert Millauer


Unter der Regie von Steffen Pietsch entwickelt sich auf der von Katharina Lorenz geschickt und Ressourcen schonend eingerichteten Bühne (über die gesamte Spieldauer genügt eine als Wirtshauszimmer angedeutete Spielfläche mit Sofa, Koffer sowie Wand mit Tür) ein insbesondere im ersten Teil flottes und amüsantes Schauspiel, in dem das Regieteam den Akteuren viele Freiheiten lässt ihr komödiantisches Vermögen auszuleben. Dazu knallen Türen und purzeln Körper, wird auf Knien gerutscht und gerannt und werden Gegenstände hin- und hergeschleppt. Und zwar meist so, dass das Publikum ahnt oder gar vorab erkennt, welcher Trick aus der Kiste hervorzaubert wird. Hervorzuheben ist dabei in erster Linie Michael Berndt-Cananá, der einerseits als hinterlistiger, auf den eigenen Vorteil bedachter und liebedienerischer Gastwirt etliche Kabinettstückchen aus dem (körper-)sprachlichen Repertoire zaubert. Andererseits sorgt Cananás Auftritt im zweiten Teil als Riccaut de la Marlinière, einem französischen Militär, für den humoristischen Höhepunkt des ganzen Abends, wozu auch die famose Kostümierung (durch Katharina Lorenz besorgt) und seine Frisur beitragen. Aber auch andere Figuren wissen von Beginn an mit spritzigem Witz und einnehmender Agilität zu gefallen. Zu nennen ist da die in ihrer ersten Spielzeit im Ensemble eingesetzte Tammy Girke als Franziska, dem Kammermädchen der Barnhelm (Sandra Maria Huimann), die eine betörende Aura von Leichtigkeit und weiblicher Raffinesse umgibt. Oder auch Johannes Krobbach als Paul Werner, einem ehemaligen Wachtmeister im Regiment Tellheims, der es kaum erwarten kann, wieder in den Krieg (nach Persien) zu ziehen und der als liebevoll-ironisch gezeichnete Karikatur des soldatischen Gehabes daherkommt. Oder auch Moritz Gabriel als Tellheims Diener Just, der das Quartett der wichtigen Nebenfiguren komplettiert. Außerdem hat Anke Teickner noch einen kurzen Auftritt als Witwe eines ehemaligen Offiziers, der mit Tellheim im Felde gestanden war. Ob Zufall oder nicht, aber vor allem das genannte Quartett vermag es, die Sympathien des Publikums auf sich zu ziehen. Möglicherweise ist dieser Effekt aber auch der bewussten Entscheidung der Regie geschuldet, die Rolle der Nebenfiguren als „Spin Doctors“ zu betonen, die das Schicksal der Dame bzw. des Herrn beeinflussen. Die beiden Hauptfiguren, Minna und vor allem der Major Tellheim (Grian Duisberg) scheinen bisweilen mit angezogener Handbremse zu agieren. Das verwundert, denn eigentlich ist die Handlung vor allem um deren Beziehung gewebt, die zuerst durch Tellheims starren Trotz und danach durch Minnas ins Übermütige abkippender Lust an weiblicher List auf die Probe gestellt wird. Vor allem dadurch, dass der Teil nach der Pause weitgehend Minna und Tellheim gehört, schleichen sich einige Längen ein, lässt der Schwung des ersten Teils spürbar nach. Aber wenn ganz am Ende ein geseufztes „It’s a man’s world“ aus dem Off das Stück abrundet, wird doch noch einmal die Akzentuierung dieser Inszenierung deutlich: Eine verliebte Frau kann schon manches Mal über einen Mann den Kopf schütteln, aber viel lieber möchte sie ihm doch um den Hals fallen.

Alles in allem vermochte die Aufführung am Premierenabend dem Publikum, darunter erfreulich viele Schüler, im nahezu ausverkauften Saal etwas mehr als zwei vergnügliche Stunden zu bereiten und es davon zu überzeugen, dass auch ein Text aus dem 18. Jahrhundert frisch und kraftvoll daherkommen kann, ohne dass er sich an das Gegenwartsdeutsch anbiedern müsste.

Bertram Kazmirowski
Weitere Aufführungen in Radebeul: 7.3., 19.30 Uhr, 15.3., 19 Uhr.

Wiedererscheinung – Hommage an Käthe Kollwitz – Su Junguo, Chen Yunpu und Si Ankun

Laudatio zur aktuellen Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Haus Moritzburg

Drei chinesische Holzschnittkünstler aus Mangshi, dem südlichsten Teil der westlichen Provinz Yunnan, im Käthe Kollwitz Haus Moritzburg.

Künstler: Chen yunpu


Es freut mich sehr, ihnen hier und heute ein paar einführende Worte zu den Arbeiten der drei eingeladenen Künstler aus China geben zu dürfen. Alle drei Künstler kannten das Werk von Käthe Kollwitz schon in China und ihre traditionellen Holzschnitte sind auch direkt beeinflusst von der Denkweise der Künstlerin Käthe Kollwitz. Dichtung, Malerei und Musik bilden für das chinesische Kunstempfinden eine untrennbare Einheit. Malen heißt Bilder schreiben, Schreiben heißt Bilder malen und somit liegt es nahe, dass zur Eröffnung Lyrik von Jiang Hao in Originalsprache, übersetzt und auch in Klängen durch fünf Flöten improvisiert wird.

Doch zunächst ein paar Worte zu den eingeladenen Künstlern. Su Junguo hat in der Kunstuniversität Yunnan studiert und ist derzeit Direktor der Abteilung für Kunst der Dehong Universität der Provinz Yunnan, Professor und Mitglied der Yunnan Künstlervereinigung sowie deren Generalsekretär. Su Junguo präsentiert seine in China bekannte Serie von Druckgrafiken zur dramatischen Gestalt der Vogelscheuche. Im Wind wiegend, wechselt sie Stimmungen von wahr und falsch. In ihrer Darstellung spiegelt sich das Gute und das Böse der Welt. Warum das Thema Vogelscheuche? – Das Sprichwort: die Furcht vor der Gefahr ist schrecklicher als die Gefahr selbst kommt einem in den Sinn, im Besonderen, weil die Vogelscheuche als Symbol des Erschreckens gilt und bei näherem Betrachten doch nur eine leblose Puppe ist. Neben dem Thema Vogelscheuche, beschäftigt sich Su Junguo auch intensiv mit der Darstellung der Landschaft. Widmen wir uns einem Landschaftsbild, dass eine Geschichte vom Krieg, in der sonst ruhigen Berglandschaft erzählt. Auf dem Bild sieht man die beschwerliche Tour mit mehreren Transportern in einer steilen Berglandschaft. Die Straße ist offensichtlich nicht gut ausgebaut und einige Männer arbeiten noch daran. Die Kolonne stöhnt beschwerlich den Berg hinauf, einer der LKW’s liegt bereits im Straßengraben. Eine weitere Bedrohung kommt hinzu, drei Flugzeuge am Himmel sind unterwegs und es fallen Bomben oder große Steinbrocken. Su Junguo wurde in eine Militärfamilie hineingeboren und sein Interesse liegt auch in der Heimatgeschichte. Dieses Bild geht auf eine historische Begebenheit zurück, die Bergstraße zwischen Yunnan und Burma, die im Krieg bombardiert wurde.

v.l. Angelika Heyder Tippelt, Nina Reichmann, Irene Wieland, Fang Han, Sabine Hänisch, Si Ankun, Katharina Sommer, Chen Yunpu, Su Junguo, Yini Tao und Lea Wieland


Alle Druckgrafiken von Su Junguo sind in der Technik vom ölbedruckten Holzschnitt auf Papier festgehalten. Manuell wird jede Linie erst danach geschnitten. Durch die Reduktion, auf im Wesentlichen nur zwei dominierender Farbtöne, kann der Betrachter sich gut auf die lebendigen, erzählerischen Details im Bild einlassen.

Si Ankun zählt zu den jungen Dehong Druckgrafikern. Si Ankun wurde 1992 in Dehong Yingjiang geboren und ist somit der jüngste Künstler in der Ausstellung. 2008 studierte er an der Kunstabteilung der Dehong Normalschule (eine Hochschule die Lehrer für den Kunstunterricht ausbildet). Si Ankum bekam die Auszeichnung des fünfjährigen Kunstmajor der Dehang Normalschule, legte bald den Schwerpunkt auf Druckgrafik und nach einem Jahr direkt nach seinem Abschluss, arbeitet er nun als Lehrer an der Kunstschule mit dem Schwerpunkt Holzschnitt. Er arbeitet im Schwarz-Weiß-Holzschnitt. Seine Gra?ken haben durch die Reduktion eine sehr starke Ausdruckskraft und eine besondere Klarheit.

Für die Ausstellung in Moritzburg hat Si Ankun sich den Themenschwerpunkt visionäre Stillleben mit Landschaft ausgewählt. Nimm an, was nützlich ist, lass weg, was unnütz ist und füge das hinzu, was dein Eigenes ist. Seine Auswahl von Grafiken sind oft als Fries in drei Bildsegmente unterteilt. Es leuchtet eine weiße Berglandschaft vor dem dunklem Hintergrund hell auf. Im Bildvordergrund wächst ein imaginäres Lotusfeld, zwischen den Fruchtständen schweben Papierflieger. Der Papierflieger ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Si Ankuns Arbeiten. Mal wirbeln sie im Wind, dann sind sie sogar in der Serie „kaputte Kartons“ anzutreffen, an Fäden hängen noch einige Flieger von oben herab und andere schweben leicht zu Boden. Die Landschaftsserie lässt Leben ahnen, im Inneren befindet sich ein Vergnügungspark kleiner Leute. Ein kaputter Karton mit neuem Innenleben, aus allen Ritzen krabbeln kleine Menschlein, die aufgeregt ihre neue Behausung untersuchen. Seine menschlichen Figuren sind abstrahiert, verlieren aber nicht den Bezug zur Realität, sodass auch menschlichen Köpfe zu erkennen sind. Der immer wieder neu gefragte Prozess des Suchens, Findens, Erkennens und schließlich Gestaltens macht Si Ankun offensichtlich große Freude. Erstaunlich ist die Linienführung. Und ich wundere mich, welche Werkzeuge hier wohl im Spiel waren. So fabuliert er mit einer außerordentlichen Formenvielfalt und erfreut uns mit abwechslungsreichen Details. Im ständigen Wechselspiel, mit wiederkehrendem Klängen von Kreisen und Dreiecken, so komponiert Si Ankun seine ausdrucksstarken Schwarz-Weiß Holzschnitte.

Künstler: Su junguo


Ich lese Ihnen zuletzt noch aus einer direkten chinesischen Übersetzung ein paar sehr schöne Charakterzüge über Si Ankuns Persönlichkeit vor: „Ankun ist ein junger Mann aus der Dai-Nationalität, er ist weiß und stark, schreit nicht und spricht gelegentlich ein paar Worte, aber es ist ein sanftes Flüstern, das für die Dai-Leute einzigartig ist.“
In China wird immer etwas sehr persönliches über den Charakter der einzelnen Person formuliert, was in Europa vielleicht als etwas befremdlich wirken könnte, steht in China selbstverständlich vor dem Lebenslauf. Übrigens wurde über alle drei hier anwesenden Künstler eine sehr feine und zurückhaltende Art beschrieben.

Der Künstler Chen Yunpu wurde in Mang geboren. Er studierte in Dehong an der Kunstuniversität. Derzeit ist er stellvertretender Vorsitzender und Generalsekretär der Künstlervereinigung in Mang. Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit dem Holzschnitt. Chen Yunpus Holzschnitte umkreisen das Thema Mensch in kräftigen und strahlenden Farbtönen gehalten und in lockeren Linien, freihändig geschnitzt. In seinen Gesichtern kann man den Seelenzustand der Menschen lesen, — nimm dir Zeit zu lachen – das ist die Musik der Seele – die Rettung der Menschen liegt in der Liebe und kommt durch die Liebe. Wir stehen vor seinem Portrait. Das in die Leere blickende Gesicht, der vom Leben Gezeichneten, lässt die guten und schweren Momente des Lebens ablesen. Die Menschen bewahren offensichtlich ihre innere Stärke, haben den Blick nach vorne gerichtet und stellen sich ihrem Schicksal. Man spürt förmlich eine Verwandtschaft durch die Kraft und der Dynamik in seinen Portraits die auch in Käthe Kollwitz Bildern zu spüren ist. Das Werk von Käthe Kollwitz kann wie ein Gedicht gelesen werden, in ihren Portraits widerspiegelt sich das Elend und die Trauer. Sie hatte den Existenzkampf und den Zusammenschluss und schließlich das sich Erheben des Volkes thematisiert und in ihren Holzschnitten bearbeitete sie den Krieg mit Kummer, Trauer, Hunger Obdachlosigkeit und Tod. Chen Yunpu beschäftigt sich auch intensiv mit der künstlerischen Umsetzung von Männern, Frauen und Kindern in ihren traditionellen, farbenfrohen Gewändern. Die genaue Beobachtung seines unmittelbaren Umfeldes, werden sorgfältig und mit gezieltem Umgang mit dem Messer aus dem Holzbrett geschnitzt. Auch die realistische Bildfindung hat deutliche Parallelen zu Käthe Kollwitz‘ Bildwelten.

Bevor wir den besonderen Stellenwert von Käthe Kollwitz in China erfahren, gibt es noch eine musikalische Performance zur Lyrik von Jiang Hao zu hören. Es lesen: Yini Tao „kleine Dinge“ auf Chinesisch, Lea Wieland liest die Übersetzung und an den Flöten Katharina Sommer, Angelika Heyder Tippelt, Manuela Hielscher und Nina Reichmann, ja und Irene Wieland die fünfte Flöte.

Irene Wieland

Editorial 2-20

Unser Februarheft rückt das Käthe-Kollwitz-Haus in Moritzburg mit der neuen Ausstellung „Wiedererscheinung – Hommage an Käthe Kollwitz“ – Holzschnitte dreier chinesischer Künstler in den Fokus.

Die Besucher waren zur Eröffnung sehr gespannt: auf die ausgestellten Arbeiten, auf die Laudatio von Irene Wieland. Sie spielte auch noch im Querflötenquintett „Quintravers“ gemeinsam mit Katharina Sommer und drei weiteren Künstlerinnen, das mit Improvisationen eindrucksvolle Bögen zu den gezeigten Holzschnitten schlug und ebenso ein von der Kuratorin Yini Tao vorgetragenes chinesisches Gedicht untermalte.

Der Einsatz einer Kürbisflöte erzeugte fernöstliche Stimmung. Ein das Publikum besonders ansprechender Vortrag der Kunstkritikerin Fang Han, der besonders den Zusammenhang zwischen Käthe Kollwitz und chinesischer Künstler näher erläuterte, rundete die Eröffnung ab.

Beide Beiträge, sowohl die Laudatio als auch den Kurzvortrag finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, in diesem Heft. Sicherlich sind Sie nach der Lektüre dann sehr gespannt auf die Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Haus in Moritzburg, die bis Anfang März zu sehen ist.

Staunen Sie, ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!

Ilona Rau

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