Rückblick und Vorschau auf die wunderschöne Stadt R.

Geplante Bebauung Wasapark (alle weißen Häuser) und das zusätzlich geplante Haus Wasastraße 48,
welches laut Einschätzung Stadtplanungsamt für das Gebiet zu groß wäre! Foto: M. Biegel

Es war einmal eine wunderschöne Stadt mit großen Gärten und geschmackvollen Häusern. Die Menschen erfreuten sich am Werk der Vorfahren und zeigten stolz allen Besuchern den zauberhaften Ort. Doch dann begab es sich, dass erst ein, dann zwei und dann immer mehr neue Häuser gebaut wurden, die so gar nicht zu dem von den Bewohnern und Verwaltern der Stadt gepriesenen Charakter passten. Sie waren viel breiter, höher und langweiliger als alles Dagewesene, ignorierten völlig die Nachbarhäuser und hatten offenbar nur das Ziel, möglichst jeden erlaubten Quadratmeter zuzubauen. Und erlaubt war offenbar sehr viel, kaum ein Fleckchen Grün blieb übrig, wenn ein neues Haus gebaut wurde – sehr zum Ärger der Menschen in der Stadt. Diese verstanden nicht, warum das so sehr gepriesene Stadtbild immer mehr verschwand. Darum gingen sie schließlich zu den Verwaltern der Stadt und klagten ihr Leid. Doch die Verwalter schauten nur traurig zu Boden und erklärten, dass alle diese einzelnen Häuser gebaut werden dürften, denn das erlaube das Gesetz. Darauf gingen die Menschen zu den Herrschern der Stadt, und verlangten, das Gesetz zu ändern. Doch die Herrscher erklärten ebenfalls sehr traurig, dass das Gesetz nur für viele Häuser geändert werden könne, aber nicht für ein einzelnes Haus. So kam es, dass auch neben dem Haus des braven Bürgers Mustermann ein riesiges, neues Haus gebaut werden sollte. Das erschien ihm völlig unpassend. Aber um den neuen Zeitgeist nicht im Wege zu stehen entschied er sich schweren Herzens, ebenfalls die Erlaubnis für ein solches Haus einzuholen. Damit könnte er auch viele moderne Wohnungen vermieten und vom Dach weiter die schönen Elbhänge sehen. Natürlich fragte er die Verwalter der Stadt, aber was würden sie ihm schon antworten? Es waren ja schließlich schon viel größere Häuser vorher gebaut worden. Wie groß war jedoch sein Erstaunen, als ihm mitgeteilt wurde, dass er ein solches Haus an dieser Stelle nicht bauen dürfte, denn es passe nicht in die Umgebung und beleidige die alten Häuser in der Nachbarschaft. „Aber wieso kann denn nur sechs Meter daneben ein viel größeres Haus gebaut werden?“ fragte er ungläubig. „Das lässt sich leicht erklären“, antwortete der Verwalter auf väterliche Weise. „Nebenan würde nicht nur ein riesiges Haus, sondern es werden sehr viele riesige Häuser gebaut – und dafür wurde das Gesetz von den Herrschern der Stadt geändert.“ Das leuchtete dem braven Bürger sofort ein, denn es gibt eben Gleiche und Gleichere. Auch wenn er etwas verwundert war, warum die Herrscher früher immer so getan hatten, als würden sie das Verschwinden der einstmals schönen Stadt mit aller Kraft verhindern wollen.
HINTERGRUND:
Die – unzweifelhaft wünschenswerte – Neubebauung des Wasaparks ist mit sehr großen Gebäuden geplant, welche die bisherige Bebauung der Umgebung völlig ignorieren. Dies geht aus dem im Juni 2021 öffentlich ausgelegten Bebauungsplan Nr. 71 für den Wasapark hervor. Die Häuser haben eine viel größere Grundfläche als die bestehende Bebauung in der Umgebung, sind viel höher und stehen auch viel dichter aneinander. Durch die notwendigen Tiefgaragen für die große Anzahl an Wohnungen bleibt darüber hinaus kaum Platz für Bäume. Da offenbar dieser Haustyp für die Mehrheit der Mitglieder des Stadtrats für diesen Ort passend erscheint, stellte ein Anwohner versuchshalber für ein unmittelbar an den Wasapark angrenzendes Grundstück im Juni eine Bauvoranfrage beim Stadtplanungsamt für die Errichtung eines Hauses, dessen Maße vergleichbar mit der geplanten Bebauung im Wasapark sind. Im August wurde durch das Stadtplanungsamt die Ablehnung der Bauvoranfrage angekündigt. Die Ablehnung wird mit zwei Punkten begründet: Erstens passe das Haus nicht in Umgebung, denn es sei viel zu groß; zweitens beeinträchtige es die denkmalgeschützten Häuser in der Umgebung. Wie ist das nun für einen Radebeuler zu verstehen? Auf der einen Seite scheint es hier GLÜCKLICHERWEISE den Fall zu geben, dass die Stadtverwaltung aufgrund der geltenden Rechtslage tatsächlich den Bau eines überdimensionierten Wohnhauses ohne Gartenflächen verhindern kann. Auf der anderen Seite ist es dann aber völlig unverständlich, wieso Teile des Stadtrates einen Bebauungsplan für den Wasapark forcieren, der genau diese Art der Bebauung auf dem Nachbargrundstück ausdrücklich erlauben würde! Und das, obwohl die Bestandsbebauung in der Umgebung viel kleinere Proportionen aufweist und rund um das Gelände etliche denkmalgeschützte Gebäude stehen! Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Denn bisher wurde uns Radebeulern bei diversen Stellungnahmen – ein Höhepunkt war die Podiumsdiskussion im Bahnhof Radebeul Ost im letzten Jahr – von Vertretern des Stadtrats und der Stadtverwaltung immer wieder ganz klar das offensichtliche Dilemma aufgezeigt. Es gibt bei einzelnen Neubauprojekten in den meisten Fällen für die Stadtverwaltung und auch für Stadträte kaum eine Handhabe, aufgrund der Baugesetzlage steuernd einzugreifen. Somit sind dem Stadtrat anscheinend die Hände beim Baugeschehen in Radebeul gebunden. Allerdings liegt im Falle des Wasaparks die Sache anders. Hier hat der Stadtrat durch die Aufstellung eines B-Plans durchaus die rechtliche Möglichkeit, Akzente für den Erhalt des Charakters unserer Stadt zu setzen. Und in seinem erst im November mit großer Mehrheit beschlossenen „Grundsatzpapier zur Sicherung der städtebaulichen Qualität in Radebeul“ fordert er selber die „Ausnutzung der Grundstücke in einem verträglichen Maß“ und „keine ‚Ausreißer‘ als Orientierungsmaßstab für das Maß der baulichen Nutzung heranzuziehen“. Aber warum, fragt man sich, tut er es dann im konkreten Fall nicht? Das bittere Fazit: Es scheint so, als ob in Radebeul gebaut werden kann, wie man will – zumindest wenn man ein Großinvestor ist.
Markus Biegel
neuerwasapark@gmail.com
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PS.: Wenn Sie auch der Meinung sind, die Bebauung sollte besser in das Umfeld eingepasst werden, können Sie die Petition dazu unterstützen: openpetition.de/!wasapark

Petition „Rettet Radebeul“



Gedanken des Vereins für Denkmalpflege und Neues Bauen e.V. zur Petition „Rettet Radebeul“ und den bereits gefassten Aufstellungsbeschluss zum B-Planverfahren für den Bereich Fritz Schulze Straße

Die Petition „Rettet Radebeul“ hält der Verein für den richtigen Weg, um auf die problematische Überbauung von Grundstücken in Radebeul und der Auslotung der Grenzen des Machbaren aufmerksam zu machen.
Dass hier die Bürger der Stadt klaren Blicks versuchen, genau das Stadtbild zu erhalten, von dem wir alle profitieren, ist legitim und verlangt geradezu nach einer Reaktion der Stadtverwaltung und des Stadtrates!
Zu viele Bauvorhaben der letzten Jahre, gerade im Gebiet der Oberlößnitz, oder auch das, wie zum Hohn für die Planungsaufgabe des vergangenen Moritz-Ziller-Preises, „geschaffene“ Objekt Meissner/Ecke Friedsteinstraße belegen ja sehr anschaulich, dass hier dringend Handlungsbedarf besteht.
Das Ziel der gerade in Arbeit befindlichen Erhaltungssatzung(en) für Teile der Nieder- und Oberlößnitz darf gerade durch solche Vorhaben wie Fritz Schulze Straße 11 nicht unterminiert werden.
Eine durch ein B-Planverfahren zu erwirkende Veränderungssperre ist nach unserer Ansicht zweckdienlich und schafft Zeit, die Situation nochmals genauer zu beleuchten und zu prüfen. Dass diese nicht nur in diesem Falle nach zwei Jahre auch noch zweimal verlängerbar ist, sollte ja bekannt sein.
Angesichts der vielen Bebauungsdiskussionen, an denen sich der „verein für denkmalpflege und neues bauen e.v“ in den vergangenen Jahren beteiligt hat, ist uns aufgefallen, dass die Frage nach der unmittelbaren Bebauungsumgebung, die bei der Beurteilung nach dem Einfügegebot des BauGB eine maßgebliche Rolle spielt, oftmals unterschiedlich ausgelegt wird. Einmal wird die Meinung vertreten, dass mindestens ein gesamter Baublock zu betrachten sein, ein anderes Mal soll nur die unmittelbare Nachbarschaft prägend sein. Einmal wird ausgeführt, dass alle größeren Gebäude eines Blocks maßstabsbildend seien, ein anderes Mal sollen solche einzelnen größeren Gebäude als „Ausreißer“ nicht in die Bewertung mit einbezogen werden können. Nicht wenige Bürger und Bauwillige beklagen hier eine ungenügende Urteilskonsistenz. Das nun in Gang gesetzte B-Planverfahren im Bereich Fritz-Schulze-Straße böte hier einmal die Gelegenheit, verbindliche Beurteilungsgrundsätze für Radebeul zu erarbeiten und somit die Argumentationslinien der Fachbehörden zu vereinheitlichen bzw. zu verstetigen.
Was wollen wir zum Ausdruck bringen:
Wir begrüßen es, wenn sachkundige Bürger mit einem guten Blick und einem Herz für die Schönheit unserer Stadt sich für diese einsetzen. Die engagierte Bürgerin bzw. Bürger sind die wesentlichen Stützpfeiler einer lebendigen und lebenswerten Stadtgesellschaft.
Wir begrüßen es, wenn Stadtrat und Stadtverwaltung alles nur Mögliche unternehmen, um derartige Bebauungswünsche besser zu steuern und eventuell in der Zukunft noch vor dem Entstehen eines Konflikts in verträgliche konsensfähige Bahnen zu lenken.
Wir würden es außerdem sehr begrüßen, wenn Investoren in dem Wissen, dass genauer hingeschaut wird, mit der nötigen Sensibilität an derartige Vorhaben gehen (so wie in unmittelbarer Nachbarschaft des betroffenen Grundstücks bereits vorbildhaft geschehen).
Wir als Verein bieten allen – ob Verwaltung, Stadtrat, Investor, privater Bauherr – unsere Unterstützung bei der Diskussion von Bebauungsvorhaben mit Blick auf die Bewahrung unseres Stadtbildes an und begrüßen ausdrücklich die Einrichtung eines Gestaltungsbeirates bei der Stadt, den wir als Verein nach Kräften unterstützen wollen. Neue Einwohner und neue gelingende Architektur sind uns willkommen.

Thomas Scharrer, Jens Baumann und Robert Bialek
für den verein für denkmalpflege und neues bauen radebeul e.V.

„Das Unsichtbare des Raumes erfahrbar machen“

Eine Begegnung mit Constanze Schüttoff, Schöpferin der Titelbilder 2022

 

Fotografie | Ilka Meffert

Manchmal lernt man eine Person, mit der man schon seit Jahrzehnten gut befreundet und vertraut ist, ein zweites Mal kennen. Diese Momente der Neu- oder Andersbegegnung brauchen zumeist einen Auslöser, der von außen kommt, denn warum sollte man am etablierten Verhältnis etwas aktiv ändern? Dieser Auslöser kann im besten Fall eine Erweiterung dessen bedeuten, was einem an der anderen Person bisher schon schätzens- und liebenswert erschien. So erging es mir mit Constanze Schüttoff, die ich seit mehr als 30 Jahren eine gute Freundin nennen darf, denn sie ist ebenso wie ich in Radebeul aufgewachsen und unsere Wege kreuzten sich seit den 1980er Jahren immer wieder. Ich lernte sie während eines abendlichen Besuches vor einigen Wochen zum ersten Mal so richtig als Künstlerin kennen, denn unser Gespräch vertiefte sich nach anfänglichem freundschaftlichen Geplauder in einer Weise, dass sie ihre Auffassung von Kunst und ihre Identität als Künstlerin in Worte fasste. Vorsichtig tastend erst, dann entschiedener, schließlich sehr bestimmt. Und auf Gegenfragen folgten Antworten, Erklärungen, Reflexionen. Tee wurde kalt, Gebäck blieb unangetastet, der Uhrzeiger rückte vor – unbemerkt von uns. Der eigentliche Auslöser für unser Gespräch war, dass Constanze Schüttoff uns mit den Titelbildern für unser Monatsheft durch das Jahr 2022 begleiten wird. Sie gibt uns Einblicke in ihr Schaffen und zeigt Momentaufnahmen ihrer sich meist längst verflüchtigten Arbeiten. Obwohl natürlich ihre Kunst für sich stehen und sprechen könnte, ist es der Redaktion von „Vorschau & Rückblick“ wichtig, dass Ihnen als Leser durch flankierende Gedanken der Urheberin die Rezeption der Titelbilder erleichtert wird. Wie immer finden Sie diese Erläuterung am Ende eines jeden Heftes. Was diese kurzen Texte allerdings nicht vermögen, ist, die Künstlerin selbst vorzustellen. Das soll im Folgenden geschehen.
Bevor Constanze Schüttoff 2011 sich mit einer visuellen Klanginstallation auf ihren eigenen freischaffenden künstlerischen Weg begab, lagen acht Jahre Studium in Halle hinter ihr. Die Burg Giebichenstein sollte es sein, weil sie dort beste Bedingungen dafür erkannte, ihrem Interesse an figürlicher Bildhauerei zu folgen. Während jener Jahre hatte sich ihr Augenmerk dem Papier als bevorzugtem Material zugewandt. Sie hatte gespürt, dass sie sich im Figürlichen nicht aussprechen, dort nicht die Möglichkeit einer gedanklichen Tiefe finden konnte, sondern diese erst in der Abstraktion eine Offenheit für die Kunstrezeption zulässt, die den Betrachter zwar noch mehr fordert, aber diesem auch genug Freiheit lässt. In ihrer Diplomarbeit spielte dann auch erstmals nicht nur das künstlerische Objekt an sich eine Rolle, sondern die Wechsel­beziehungen zwischen Objekt, Raum und Rezipient. „Mir war klar geworden, dass es mir in allererster Linie darum geht, für das Wahrnehmen des Raumes zu sensibilisieren. Wie verhalten sich Körper zueinander im Raum? Welches Potential birgt der Raum zwischen Objekten, also das, was man auf den ersten Blick als Leere wahrnimmt? Kurz gesagt: Ich wollte und will immer mehr das Unsichtbare des Raumes erfahrbar machen.“ Seit nunmehr zehn Jahren ist sie diesen Weg konsequent gegangen und hat ihre Meisterschaft darin profiliert. „Begehbare Installationen ermöglichen dem Betrachter eine direkte Auseinandersetzung mit sich selbst im Raum. Sie helfen ihm, sich über das Kunstwerk im Raum zu verorten und darüber tiefere Ebenen seines Selbst im Bezug zum großen Ganzen zu reflektieren. So versuche ich, mittels sanfter Interventionen im Raum, gewohnte Seh-, Denk- und Bewegungsmuster aufzu­brechen.“
Zum Papier war unterdessen auch Glas hinzugetreten, und in der kunstvollen Verschmelzung beider Stoffe hat Constanze Schüttoff inzwischen Werke ganz eigener Art kreiert. So findet sich zum Beispiel seit 2014 auf einer Freifläche des Botanischen Gartens in Ulm eine großformatige Glasskulptur („blauer horizont“) mit mehrschichtig eingearbeiteten pigmentierten Papieren, welche den Horizont als Linie hinterfragen und ihn als einen lebendigen Tiefenraum, als eine Raumschwingung sichtbar werden lassen. Andere papiergläserne Arbeiten, wie die „lichtung“ (2017), derzeit im Botanischen Garten Dresden zu sehen oder zunehmend baugebundene Arbeiten folgten. So entstanden zuletzt eine Verglasung für den Andachtsraum des St. Benno Verlags in Leipzig (2020), oder die Portale im Hafentor Hanau (2017). Wann immer sie eine ortsspezifische Arbeit angeht, geht sie auch der Ort an sich an. Dann fährt sie mit ihrem Transporter quer durchs Land und wohnt bei Bedarf auch darin, während vor Ort die Arbeit aufgebaut wird, oder diese gar erst dort entsteht. Wie etwa 2019, als sie mit einer aufsehenerregenden Installation aus mehreren Tausend PET-Flaschen eine Klangwolke im Stadtgarten Großenhain schuf. Oder wie in den Jahren 2018 und 2021, in denen Arbeiten von ihr beim Windkunstfestival in Nordhessen zu erleben waren. Oder schließlich wie im Frühsommer 2021, als sich unter ihren Händen die Räume der Galerie drei der Dresdner Sezession 89 auf der Prießnitzstraße mit Papieren und Hunderten von der Decke hängenden Fäden unterschiedlichster Länge und Breite füllten, die des nachts (aus)strahlten und viele Besucher anlockten. Diese konnten anschließend auch auf der Website der Künstlerin vermittels ihrer Antworten einen Resonanzraum erschaffen. „Bei solchen prozessualen Arbeiten spielt das performative Element für mich eine ganz besondere Rolle. Denn es bleibt immer unvorhersehbar, was sich aus dem spontanen Interagieren aller Beteiligten, also zwischen dem Werk, den Betrachtern und mir, im Raum entwickelt. Diese Augenblicke empfinde ich oft als sehr intim, als ein großes Geschenk.“ Einen wichtigen Platz nimmt dabei auch ihr Verständnis von der Aura des einzelnen Momentes ein, vom ganz konkreten Jetzt, in dem sich Wirklichkeit flüchtig formt, vergeht, wieder formt und wieder vergeht, … „in dem es sich aber auch genüsslich darin verweilen lässt, wenn man ihm allein seine ganze Aufmerksamkeit schenkt.“ Es leuchtet ein, dass für diesen Ansatz vor allem hauchzarte Papiere das bestmögliche Material sind.
Es war spät geworden – für mich jedenfalls. Für Constanze Schüttoff ist der Abend, ist die Nacht die Zeit, in der ihr die besten Einfälle kommen und sich vage Ideen zu konkreten Vorstellungen formen. Zettel und Stift liegen deshalb auch im Badezimmer bereit, denn Eingebungen verschwinden genauso schnell, wie sie kommen können. Und manchmal macht sie sich auch noch abends auf den Weg hinaus in die zur Ruhe gekommene Natur, die zum Glück nicht weit von ihrem Haus in und bei den Weinbergen zu finden ist. Denn die Stille gebiert das Wort, den Begriff, der ganz am Anfang all ihres Schaffens steht.

Bertram Kazmirowski

 

Fantasie ist unser Kapital

Oder: Geld allein, macht auch in Radebeul nicht glücklich

Die Frage, weshalb das kulturelle Monatsheft „Vorschau und Rückblick“ selbst nach über dreißig Jahren mit Beiträgen immer wieder gut gefüllt ist, obwohl dafür keine Honorare gezahlt werden, würde wohl jeder Autor anders beantworten. Unbestritten ist es auch die Resonanz der Leserschaft, die zum Schreiben animiert. Oft hören wir: Gut, dass es euch gibt, haltet durch, was ihr schreibt interessiert uns. Naja, manchmal ist es auch der Stachel im Fleisch, der löckt und uns Themen aufgreifen lässt, die einige spannend, andere wiederum unmöglich finden. Über Gelungenes und weniger Gelungenes, über Vergangenes und Künftiges ohne Schere im Kopf schreiben zu dürfen, macht immer wieder große Freude.

Als gebürtige und bekennende Radebeulerin reizt es mich seit jeher, die Eigenheiten der Lößnitzstadt zu ergründen. Dabei kommen mir so mancherlei Fragen in den Sinn: Ist Radebeul nur eine fette Made im Speckgürtel von Dresden oder ein Konglomerat, dass sich weder in eine Wein-, Garten-, Industrie-, Tourismus-, Schlaf-, Kultur-, Genuss- oder gar Karl-May-Stadt-Schublade pressen lässt? Was sind das für Menschen, die hier leben, zwischen Elbe und Hang, zwischen Stolpersteinen und Kriegerdenkmalen, zwischen Bismarckturm und Friedensburg, zwischen Tag und Nacht, zwischen erstem, zweitem und drittem Ort, zwischen Gestern, Heute und Morgen?
Unlängst fragte ich mich, ob es Zufall oder Absicht ist, dass in Radebeul die einen Jubiläen gefeiert werden und die anderen wiederum nicht? So hatte Kötzschenbroda im Jahr 2021 seinen 750. Geburtstag. Auf den dezenten Hinweis von „Vorschau und Rückblick“ im Januarheft des vergangenen Jahres erfolgte keine Reaktion. So gab es keinerlei offizielle Feierlichkeiten, aber auch sonst ist definitiv nicht viel passiert, sieht man einmal von der postumen Veröffentlichung der Lebenserinnerungen des Kötzschenbrodaer Urgesteins Karl Reiche (1920–2017) oder der Grenzüberschreitung zwischen Kötzschenbroda und Niederlößnitz ab.
Erinnern erfolgt meines Erachtens über konkretes Erleben. Wenn aber ein derartiges Jubiläum einfach ignoriert wird, wie soll sich dann eine Identifikation mit der Heimatstadt entwickeln? Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht verspürt einmal „irgendjemand“ das Bedürfnis, den 755., 775. oder 777. Geburtstag dieser nicht unbedeutenden Radebeuler Ursprungsgemeinde zu organisieren. Im Jahr 2024 böte sich sogar die Möglichkeit, ein Doppeljubiläum zu feiern, denn die Gemeinden Radebeul und Kötzschenbroda bekamen 1924 das Stadtrecht verliehen. Gleichzeitig könnte das dann auch schon die Generalprobe für ein weiteres bedeutendes Stadtjubiläum sein.
Einen positiven Nebeneffekt hatte die ausgefallene Geburtstagsfeier allerdings auch. Immerhin fühlte ich mich dadurch animiert, einen Blick auf das Kapitel der Radebeuler Fest- und Traditionsgeschichte zu werfen. Wann, wer, wie und wo Ortsgründungsjubiläen nach 1945 gefeiert hat, ist sehr aufschlussreich. Während die Gründungsjubiläen in den dörflichen Ursprungsgemeinden zumeist von den dort über Generationen ansässigen Bewohnern angeregt wurden und innerhalb des Territoriums stattgefunden haben, bezogen sich die gesamtstädtischen Jubiläen im Jahr 1949 und 1999 auf die urkundliche Erwähnung der namensgebenden Ursprungsgemeinde Radebeul, obwohl diese weder die älteste noch die bedeutendste war.

Aufführung des Bühnenspektakels »Die (Zwangs)Hochzeit…« am 18. Juni 2010 in Naundorf Foto: K. (Gerhardt) Baum

Großer Andrang zur Eröffnung der Ausstellung »100 Jahre (Vor)Stadtgeschichte« im Museumsdepot am 8. Januar 2010 Foto: K. (Gerhardt) Baum

Festbroschüren und Programmbeilagen geben Einblick in das Geschehen. Darüber hinaus existiert im Stadtarchiv umfangreiches Bild-, Text- und Tonmaterial. Einige dieser Festlichkeiten wurden sogar in Form von bewegten Bildern für die Nachwelt dokumentiert.
Besonders beeindruckt hat mich, mit welchem feierlichen Pathos der 600. Stadtgeburtstag im Jahr 1949 begangen wurde. Im Unterschied zu Dresden war in Radebeul kaum etwas zerstört. Dafür lebten hier viele Ausgebombte und Umsiedler. Nach all den Schrecken des Krieges wollte man zuversichtlich in die Zukunft blicken, hoffte zu jener Zeit noch auf ein vereintes Deutschland und vertraute auf die schöpferische Kraft der Kultur.
An das erste Ortsjubiläum, welches ich selbst miterlebt habe, kann ich mich noch gut erinnern. Das war 1987 in Lindenau. Erst fünfundzwanzig Jahre später gab es eine Fortsetzung. Nach dem gesellschaftlichen Umbruch war Naundorf die erste Ursprungsgemeinde, die 1994 ein Ortsgründungsjubiläum feierte. Im Jahr 1999 folgten die Radebeuler, 2000 die Wahnsdorfer, 2012 die Lindenauer, 2015 die Serkowitzer und 2016 die Zitzschewiger. Einmal auf den Geschmack gekommen, fanden die Wahnsdorfer 2016 schon wieder einen Grund zum Feiern und begingen ihren 666. Geburtstag.

Das vom Dresdner Grafiker Gerald Risch gestaltete Jubiläumsplakat zum 75. Stadtgeburtstag Repro K. (Gerhardt) Baum

Ein recht umstrittenes Gründungsjubiläum wurde 2010 gefeiert. Erstmals bezog sich die Stadt Radebeul auf das Jahr 1935. Seitdem gibt es die Lößnitzstadt in den Grenzen, wie wir sie heute kennen. Doch die Vereinigung der Städte Radebeul und Kötzschenbroda erfolgte gewissermaßen unter Zwang. Das Tagebuch von Dr. Wilhelm Brunner (1899-1944), dem letzten Bürgermeister von Kötzschenbroda, gibt hierüber detailreichen Aufschluss.
Sowohl der zeitliche Vorlauf als auch das Budget zur Durchführung eines Festjahres aus Anlass des 75. Stadtgeburtstages waren recht knapp bemessen. Stattdessen übertrafen sich die Beteiligten mit Ideen und Spontanität. Die originelle Festbroschüre im Westentaschenformat konnte sich durchaus sehen lassen.
Zum Auftakt des Festjahres wurde am 8. Januar 2010 im Museumsdepot auf der Wasastraße die Ausstellung „100 Jahre (Vor)Stadtgeschichte“ eröffnet. Ein humorvoller Höhepunkt war das von den Naundorfern selbst verfasste und aufgeführte Bühnenspektakel „Die (Zwangs)hochzeit von Herrn Radebeul und Frau Kötzschenbroda“. Der dichte Veranstaltungsreigen endete am 30. Dezember mit einem Festmahl für Gourmets. Die Stadt zum Genießen wurde dabei schlichtweg aufgegessen. Danach folgte noch eine Festnachlese mit der Verleihung der „Goldenen Radebeilchen“ an besonders engagierte Festakteure. Der Plan des Sachgebietes Kunst- und Kulturförderung, dieses Jubiläum aller fünf Jahre bis zum 100. Stadtgeburtstag zu wiederholen, musste wegen fehlender Kapazitäten scheitern. Schade, es wäre zu schön gewesen…
Ein Heimat- oder Stadtmuseum ist eigentlich prädestiniert dafür, dass dort alle stadtgeschichtlichen Fäden zusammenlaufen. Doch von höchster Stelle wird die unerschütterliche Auffassung vertreten, dass Radebeul seine Steuergelder nicht mit einem solchen Museum „verfrühstücken“ kann. Allerdings ergibt sich daraus für uns Bürger ein Problem. Durch die sehr spezielle Profilierung des Sächsischen Weinbaumuseums Hoflößnitz, des Karl-May-Museums, der Stadtgalerie und der Volkssternwarte, steht deren Fachpersonal weder für die Erforschung noch die museumspädagogische Aufbereitung anderweitiger stadtgeschichtlich relevanter Themen, geschweige denn als Initiatoren von Stadtjubiläen zur Verfügung.
Stattdessen möchte die Stadt Radebeul als „Treuhänder“ der anvertrauten Steuergelder die Radebeuler Bürgerschaft als „Treugeber“ mit Augenzwinkern auf die Bezuschussung der städtischen Kultureinrichtungen aufmerksam machen. Anhand von konkreten Beispielen, präsentiert die vom Radebeuler Cartoonisten Lutz Richter gestaltete „Frau Radebeul“ in einer Sprechblase das Ergebnis der Berechnungen.
Eine (ebenfalls augenzwinkernde) Interpretation dieser Comic-Aktion aus Bürgerinnensicht sei an dieser Stelle erlaubt: Wenn Männer denken, was Frauen denken könnten, dann denken sie sich Karikaturen aus. Wenn Radebeuler Männer träumen, träumen sie natürlich von „Frau Radebeul“. Die „Traumfrau“ serviert ihnen alles auf einem silbernen Tablett, schließlich wird sie dafür bezahlt. Allerdings bekommt sie nur so viel Geld in die Hand, wie unbedingt notwendig ist, denn die „Schwäbische Hausfrau“ ist das angestrebte Ideal. Und das Beste an „Frau Radebeul“ – sie ist blond! Allerdings, wenn Männer wüssten, was real existierende Frauen denken, beim Anblick der blonden Rechenkünstlerin mit dem Kulturtablett, würden sie vielleicht ein wenig vor diesen Frauen erschrecken.

Comicartige Hinweistafel neben dem Eingang der Sternwarte mit »Frau Radebeul« vom    Radebeuler Cartoonisten Lutz Richter (RIL) Repro K. (Gerhardt) Baum

 

Wie sich zu kurz gedachte Sparsamkeit in ihr Gegenteil verkehrt, konnten wir beim zögerlichen Erwerb des Bahnhofs in Radebeul-Ost erleben. Nahezu Blaupausenartiges ereignete sich beim beabsichtigten und letztlich gescheiterten Erwerb des Bahnhofs in Radebeul-West. Wir alle – ob Frauen oder Männer – sind nun zum Zuschauen verdammt, wie der einstige Bürgerstolz verfällt! Nachhaltiges Wirtschaften sieht anders aus.
Dass die Lößnitzstadt großen Wert auf kulturelle Kontinuität legt, beweist im Jahr 2022 das Dreifachjubiläum der Radebeuler Stadtgalerie: 40 Jahre Stadtgalerie, 30 Jahre Städtische Kunstsammlung und 25 Jahre Stadtgalerie am neuen Standort in Altkötzschenbroda. Damit bietet sich auch eine gute Gelegenheit, um endlich wieder einmal über den Stellenwert von Kunst- und Kultur in der Radebeuler Stadtgesellschaft zu diskutieren. So wie sich die Stadt Radebeul als einzige Stadt im Landkreis ein Kulturamt „leistet“, leistet sie sich als eine der wenigen Städte in Sachsen eine städtische Galerie. Auch diese kulturelle Einrichtung wird mit Steuergeldern finanziert, sogar vollumfänglich, denn der Eintritt ist frei. Trotzdem ist die Rechnung komplizierter als vordergründig gedacht. Zwar finanziert die Stadt mit Steuergeldern die räumliche Hülle, anfallende Sachkosten und das dienstleistende Personal, doch die Künstler erschaffen die Kunstwerke und füllen die Räume mit jenen Inhalten, die das Publikum zur Auseinandersetzung anregen sollen. Den Geldwert gegeneinander abzuwägen, wäre wohl selbst für „Frau Radebeul“, eine kaum zu lösende Rechenaufgabe.
Nein, Geld allein, macht auch in Radebeul nicht glücklich. Und nicht nur ich frage mich, woran es wohl liegen mag, dass trotz der vielen Vorzüge, die die Lößnitzstadt zu bieten hat, Petitionen gestartet werden, Protestbanner im Straßenraum hängen oder offene Briefe geschrieben werden? Könnte es vielleicht sein, dass da „irgendjemand“ auf der Kommunikationsleitung zwischen Stadt und Bürgern steht? Könnte es vielleicht sein, dass dadurch sehr viel Energie verloren geht? Könnte es vielleicht sein, dass …

(Eine Fortsetzung folgt auf jeden Fall!)

Karin (Gerhardt) Baum

 

 

Editorial-01-22

Der Übergang zum neuen Jahr hinterlässt wieder viele Baustellen, auch in Radebeul!
Es soll hier keineswegs in gärende gesellschaftliche Debatten abgedrifftet werden. Wir bleiben tatsächlich auf dem baulichen Boden der Tatsachen. Denn das vorliegende Heft nähert sich nun gleich an mehreren Stellen der Problematik, welche Bautätigkeiten dem historisch gewachsenen Stadtgepräge zur Ehre gereichen. Manchmal geht es um die strittige Kubatur eines einzelnen Neubaus im Umfeld der Altbebauung, manchmal gar um großflächige Wohnparks. Das ehrgeizige Projekt auf dem ehemaligen Glasinvest-Gelände ist nun bald vollendet und misst sich kaum am kleinstädtischen Charakter.
Nun gerät wiederholt die noch ausstehende Neubebauung des Wasa-Parks mit kritischen Wortmeldungen in den Fokus. Immer wieder dieselbe Frage: Wie groß darf oder kann gebaut werden? Gibt es gar Raum für Interpretationen der Bauordnung?
Der geplante Abriss eines kleinen Einfamilienhauses in der Fritz-Schulze-Straße 11 zugunsten eines Mehrfamilienhauses erhitzt an anderer Stelle die Gemüter.
Der verein für denkmalpflege und neues bauen e.V. hatte bereits vor längerer Zeit in den Kulturbahnhof zur Podiumsdiskussion eingeladen.
Es zeigt sich daher wieder: die Menschen sollten, und vielleicht heutzutage mehr als sonst, im konstruktiven Austausch bleiben.
Das sollte gar für Baustellen aller Art gelten.

Sascha Graedtke

Mit Bernhard Theilmann poetisch durch das Jahr

Titelbilder Bauernhäuser in Radebeul Dezember 2021

Altkötzschenbroda 21

Dieses Gehöft hat im Laufe seiner Geschichte schon viele Funktionen beherbergt. Natürlich war es die längste Zeit ein Bauernhof gewesen, wie 1841 unter Johann Gottlob Reichelt. Nach 1873 arbeitete hier der Tierarzt Carl Friedrich Große. Ernst Paul Große, sein Sohn, richtete in AK 21 eine Schmiede ein, die wiederum dessen Sohn Karl Große noch bis 1972 betrieb. Bauernwirtschaft und Schmiede dürften eine Zeit lang auch parallel bestanden haben. Der Abbau der Scheune könnte mit der um 1900 beginnenden Verstädterung Kötzschenbrodas zusammenhängen.

Nach dem Leerstand erwarb die Stadt Radebeul in den neunziger Jahren das Anwesen und entwickelte es im Rahmen des Sanierungsgebietes zum Sitz des Kulturamtes, kurz „Kulturschmiede“ genannt. Das Auszugshaus von AK 21 wurde zuerst fertiggestellt und soll durch die belassene Kleinteiligkeit, geringe Raumhöhen und kleinen Fenstern fortan zeigen, wie einfach man früher auf dem Dorf legte. Es folgte die Fertigstellung des Hauptgebäudes mit Büros und Ausstellungsraum des Kulturamtes und der Gaststätte in der Art eines irischen Pubs im EG und Keller. Das Projekt lag in den Händen des Radebeuler Architekturbüros Clausnitzer.

AK 21 ist heute der Dreh- und Angelpunkt beim Herbst- und Weinfest sowie anderen Festen. Damit endet der Bogen von ehemaligen oder noch aktiven Radebeuler Bauernhäusern.

Dietrich Lohse

Radebeuler Miniaturen

Wesentliches im Advent

Ein milder Frühwintertag (oder besser: ein kühler Spätsommer): Solche Dezember gab es ja früher schon, auch vor dem Klimawandel, die wollten einfach nicht kalt werden. So sitzen wir in der Sonne beim „Kaffee“, und Ulrike sagt so ganz ohne Vorwarnung, es ist Advent.

Ich weiß, sag ich, da kommt was auf uns zu.

Eben, sagt Ulrike, und genau das will ich mit dir besprechen. (Oh, denk ich, jetzt wird’s ernst.) Weißt du, sagt Ulrike, ich denke, es wird langsam Zeit für uns, die Botschaft ernst zu nehmen und uns aufs Wesentliche zu beschränken.

Aha, die Botschaft des Schlesischen Engels, werfe ich unvorsichtig ein.

Ulrike wird unwillig: Red kein Blech dazwischen!

Was heißt hier Blech?! „Mensch werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“ Angelus Silesius – Du siehst, ich war ganz nah am Thema.

Ich meine, antwortet Ulrike etwas stiller, wir sollten die Gunst der Stunde nutzen, uns beschränken und auf alles verzichten, was wir nicht brauchen. Genau das wird seit zweitausend Jahren von uns erwartet.

Na, sag ich, dann bestelle nur schon mal zwei Container, einen davon für deine Schuhe – aber das sage ich dir: meine Bücher sind wesentlich, und zwar alle! Und ich sehe mir auch jeden Tag alle an!

Aber Ulrike ist schon aufgesprungen. Hier sagt sie, ist der Stapelplatz, hier stellst du alles ab, was du rausträgst, hier wird der Containerplatz, da werfe ich alles hin, was wegkann, und hier steht dann das, was du wieder reintragen darfst. Also los gehts: Was du tun mußt, tu bald!

Keine Osterzitate zu Weihnachten rufe ich noch, aber dann beginne ich zu laufen, bis mir der Schweiß in Strömen und heiß von der Stirne läuft, ganz wie der Dichter es von mir erwartet.

Zimmer für Zimmer räume ich leer, fege alle Ecken aus (manche von ihnen kichern, weil sie das seit zwanzig und mehr Jahren nicht mehr erlebt haben), trage, was vor Ulrikes Augen Gnade findet, wieder hinein (räume heimlich auch den Containerplatz wieder leer „kann man alles noch gebrauchen!“), und am Ende des Tages steht alles wieder an seinem Platz. Erstaunlich, was wir alles gefunden haben: Marmelade von 1988, selbst eingekocht damals noch, vorwendlichen Kirschsaft, selbst gepreßt und noch für trinkbar befunden, stapelweise selbstgemalte Bilder von den Kindern, die sich immer wieder als hohes Gut erweisen, in verstaubten Brettern Astlochgesichter, die auf keinen Fall verbrannt werden dürfen (hier ist es Ulrike, die bremst). Und wie ich mir schon mein Feierabendbier aufmache, sagt Ulrike plötzlich, wieso ist eigentlich der Containerplatz leer?

Kaum hat sies gesprochen, schwimmt sie auch schon in Tränen: die ganze Arbeit umsonst!! Ich denke, ich kriege endlich mal Luft in diesem Haus und was machst du?!

Ich nehme sie sanft in den Arm. Nichts ist umsonst, sage ich leise, alles ist sauber, alles ist neu. Und siehs mal so: Ich bin einfach noch nicht reif fürs Himmelreich …

Und wie sie sich noch verstohlen die Tränen aus den Augen wischt, kräht irgendwo ein Hahn. Dreimal.

Thomas Gerlach

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Welch ein Reichtum!

Ein Streifzug durch die Industriegeschichte von Radebeul

Radebeul hat eine reiche industrielle Vergangenheit! Es wurde Zeit, sich dieser Vergangenheit halbwegs umfassend anzunehmen. Als der Radebeuler und ehemalige Unternehmer und Dozent Hartmut Pfeil begann, im Stadtarchiv nach Zeugnissen der Radebeuler Industriegeschichte zu suchen, dachte er noch nicht an ein Buch. Aber dann tat sich ein solcher Reichtum auf, so dass sich mehr und immer mehr Stoff ansammelte. Und irgendwann war klar, allein für Hobby-Forschung konnte er die Mitarbeiterinnen im Stadtarchiv nicht in Anspruch nehmen. Außerdem merkte er bald, wie wenig die Tradition der Radebeuler Industrie im Bewusstsein der Stadtgesellschaft verwurzelt ist. So kam ein gewisser Ehrgeiz dazu, diesem Mangel etwas entgegen zu setzen. Mit der Zeit wuchs förmlich von selbst die Struktur eines Buches. Drei längere Kapitel tragen es, die von ergänzenden kürzeren begleitet werden. Alle sind so geschrieben, dass sie unabhängig voneinander gelesen werden können. Eines der längeren gibt in aller Kürze einen Abriss der gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Im zweiten Kapitel wird die Entwicklung der Industrie in der Lößnitz, bzw. dem späteren Radebeul, an Hand von 33 Industriebetrieben von 1851 an bis heute dargestellt. Nicht in lexikalischer Manier wird chronologisch aneinandergereiht, wie etwas geschah, sondern gleitend auf dem Strom der Zeit treten Geschichten hervor, die erzählen, warum etwas geschah, wer es veranlasste und welche Siege und Tragödien es gab, seit das erste Unternehmen in der Lößnitz gegründet wurde. Schließlich werden im dritten der längeren Kapitel elf besondere Geschichten erzählt: prägende für die Wirtschaft mit zuweilen sogar witzigem Unterton, aber auch tragische und eine Geschichte des Scheiterns. Das klingt nach einem Lesebuch, doch hat Hartmut Pfeil die nüchternen Fakten in mehreren Anhängen akribisch aufgelistet. Damit der Text nicht in Zahlen und Aufzählungen erstickt, kann man hinten nachschlagen, welchem Wandel Radebeuler Industriebetriebe unterworfen waren. Das anschaulich bebilderte Buch soll ein Anstoß sein, sich der reichen Tradition der Radebeuler Industrie bewusster zu werden und sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Notschriften-Verlag

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Hardcover, 26 x 21 cm, 128 Seiten, durchgehend farbig ISBN 978-3-948935-21-4
24,90 €

Ich – glossiert

Das Erste, was ich in dem gedrehten Staat nach dem 3. Oktober 1990 begreifen musste, war die nun geltende absolute Priorität des ICHs, also symbolisch gesprochen. Wobei ich zugeben muss, dass es solche und solche ICHs gibt, also es mit dem Absoluten eben relativ ist. Hier zwei Beispiele, die sicher jeder schon zur Genüge auskosten konnte: Schreibe ich aus irgendeinem Grund an eine x-beliebige Behörde, so muss diese auf meinen Brief noch lange nicht antworten. Sendet aber ein Mitarbeiter der Gemeinde oder gar des Finanzamtes eine Anfrage an mich, habe ich diese bis zu einem bestimmten Termin zu beantworten. Komme ich dieser Aufforderung nicht nach, muss ich meist eine Strafgebühr entrichten. Irgendwie doch ungerecht? Warum eigentlich kann ich nicht auch gegen den säumigen Mitarbeiter einer Einrichtung eine Strafgebühr verhängen? Fünfundzwanzig Euro wären durchaus angemessen! Wo doch heutzutage alles ökonomisiert wird und ständig mit dem Begriff „Konzern Stadt“ hantiert wird? Schließlich kostet mich die Anfertigung des Schreibens auch Zeit und Geld, von Nerven mal ganz abgesehen. Dabei ist mein Stundensatz mit 35,00 € noch niedrig. Aber so ist das eben mit der Gerechtigkeit im Rechtsstaat. Nix ist absolut.

Mit diesem ICH haben sich ja schon ganz andere Leute als unsereins herumgeschlagen Von einem gewissen René Descartes ist der Satz überliefert „Ich denke, also bin ich.“. Nun ist das auch schon über 370 Jahre her, als der gute René diesen Gedanken hatte. Aber ganz zu Ende hat er ihn offensichtlich auch nicht gedacht. Denn jeder kennt doch den weisen Volksspruch „Der Mensch denkt und Gott lenkt.“ Mit dem Lenken scheint‘s aber heutzutage auch nicht mehr weit her zu sein. Die „Schäfchen“ fallen ja reihenweise von der „himmlischen Herde“ ab.

Ein Anderer wiederum hat sich gleich ganz in sein ICH versenkt und am Ende gar nicht mehr herausgefunden. Schließlich kam er 1923 zu der Erkenntnis, dass er mit seinem ICH nicht allein ist, es noch ein ES und gar ein Über-ICH geben soll. Sie ahnen, wen ich meine: Siegmund Freud! Seither ist der Erfinder der Psychoanalyse der umstrittenste Forscher aller Zeiten und hat die Welt in zwei Lager gespalten – in Freunde und Kritiker. Letztere gehen sogar soweit, ihn als „Scharlatan“ zu verunglimpfen. Nun ist es freilich unumstritten, dass Freud am meisten mit sich selber zu kämpfen hatte, dem Kokain und übermäßigen Tabakgenuss zugeneigt war und es mit der Wahrhaftigkeit seiner Forschung nicht so genau nahm. Ist halt alles Ansichtssache. Aber irgendwie reifte dem praktizierenden Nervenarzt dann doch eine nachvollziehbare Erkenntnis, als er formulierte „[d]er Hauptpatient, der bin ich selbst“.

Dieser Satz hat sich leider bisher noch nicht genug herumgesprochen, sonst würden sicher nicht so viele Egomanen auf der Straße herumlaufen, Menschen, die hauptsächlich nur an sich selbst denken. Manche von ihnen liegen jetzt freilich auf den Intensivstationen. Wenn das dortige Personal genauso denken würde, sähen sie ganz schön alt aus… Ist eben alles relativ.

Nach Freud liegt derartiges Verhalten an dem dominanten Über-ICH, oder anders formuliert, am eignen Lustprinzip, welches auf Realisierung drängt. Hier gerät das ICH offensichtlich in Bedrängnis und bekommt sich nicht mehr in den Griff. Deshalb die vielen „hochroten Köpfe“, auch bei „hoch gestellten Persönlichkeiten“. Mit dem gesellschaftlichen System hat das natürlich dank Freud nichts zu tun. Hier wußte der Meister sicher wovon er sprach. „Wer‘s glaubt wird selig, wer nicht, kommt auch in den Himmel“, würde da meine Mutter anmerkten.

Nun wäre Freud nicht Freud, wenn er dafür nicht auch eine Erklärung beziehungsweise einen Schuldigen gefunden hätte: den Ödipuskomplex! Diese Vater- und Mutteridentifikation der Delinquenten muss seither für alles Mögliche herhalten. Selbst in der Kunst hat jenes Phänomen „Karriere“ gemacht. Da sollte ich mir doch schon mal die Psychogramme von Olaf Scholz, meiner Gattin und anderen bedeutende Persönlichkeiten anschauen, damit ich später keine bösen Überraschungen erleben muss, meint

Euer Motzi

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